Читать книгу Warum der Mensch sich Gott erschuf - Wolfgang Schmidbauer - Страница 5
1. Die Suche nach Sinn
ОглавлениеZufällig ist während eines Regentages eine flache Schüssel auf der Terrasse stehen geblieben. Am nächsten Morgen sieht die Hausfrau entzückt, dass die Schale als Vogeltränke angenommen wird, ein niedliches Vögelchen pickt Wasser aus ihr. Als sie die Idylle ihrem Mann zeigen will, ihn ruft und nun noch einmal hinsieht, nimmt sie etwas ganz anderes wahr: Das niedliche Vögelchen ist eine hässliche Krähe, die im Rasen nach Würmern sucht. Für einen Augenblick hatten sich die Bilder der Schale und des Vogels auf ihrer Netzhaut mit ihrem Wunsch nach einer Idylle zu einer Wahrnehmung verdichtet. Sie sah, was sie sehen wollte.
Diese Szene beleuchtet die Dynamik unseres Erlebens: Wir sehen nicht, was unsere lichtempfindlichen Zellen reizt, sondern wir machen aus diesen Reizen etwas, das unsere Orientierung verbessert. Wir schaffen Zusammenhänge, stabilisieren unsere Welt. Die Macht des Gehirns über die Augen ist ebenso groß wie die Macht des Stolzes über die Erinnerung, welche bereits Nietzsche beschrieben hat:
»Das hast du getan, sagt mein Gedächtnis. Das kannst du nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.«
In diesen elementaren Konstruktionen von Sinn wurzelt das menschliche Streben, sich auch etwas so Großes und Umfassendes zu entwerfen wie einen Sinn des ganzen Lebens, des eigenen wie der Gesamtheit dessen, was wir an Sein fassen können. Gott ist die Formel für diesen Gesamtsinn. Wenn wir Gott suchen, werden wir ihn finden, ähnlich wie der Pilzesucher aus allen möglichen Formen und Farben, die nur von ferne einem begehrten Pilz ähneln, einen solchen macht. Und da Gott das ist, was unsere Alltagssinne überschreitet und jenseits der Naturkräfte siedelt, die wir prüfen und messen können, kann uns nichts davon abbringen, an ihn zu glauben. Nichts kann diesen Glauben widerlegen außer dem einen Einwand, dass wir ihn uns so sehr wünschen und doch niemals seiner gewiss sein können.
Der Pilzesucher kennt jenen Schauder, wenn er im Näherkommen tatsächlich das Begehrte findet und nicht erkennen muss, dass er irrte. Es gibt eine kleine Geschichte über Sigmund Freud, einen begeisterten Pilzsucher: Er fand nicht nur immer die schönsten Steinpilze, sondern er pflegte auch, wenn er ein besonders prächtiges Exemplar entdeckt hatte, dieses mit seinem Hut zu bedecken, mit einer Pfeife die anderen Sucher herbeizurufen und dann den Fund unter dem Hut hervorzuzaubern. So verwandelte er den Zufallsauftritt des Boletus porcinus auf dem Waldboden in einen von ihm inszenierten. Er hatte den Pilz gefunden; jetzt deutete er ihn.
Ist es lächerlich und respektlos, die Suche nach Gott mit der Suche nach Nahrung zu vergleichen? Ja und nein. Die Nahrung ist trivial und Gott erhaben. Doch haben die Religionsstifter aller Zeiten in den vielfältigsten Formen versucht, ihre erhabenen, abstrakten, ungreifbaren Vorstellungen in Fleisch und Blut, in Brot und Wein zu verwandeln. Der Suchende sollte nicht, wenn er dem Gegenstand seiner Suche nahe kam, enttäuscht entdecken, dass er nichts gefunden hatte. Er sollte zumindest ein Zeichen, ein Symbol finden – vielleicht etwas wie einen Hut, unter dem zwar nicht das Gesuchte zu finden ist, der aber doch geistige Wegzehrung, Ermutigung zu weiterer Suche, Festigung des Glaubens ermöglicht.
Daher rührt die Leidenschaft der Religionsstifter – auch jener anonymen des »Volksglaubens« – für heilige Steine und Bäume, Berge und Seen, für Bilder, für eine Heilige Schrift, in der geoffenbart ist, was sozusagen durch die Symbole konkret wird. Und während der lebendige Gott immer ferner rückte – vom Ahnengeist, Wildniswesen, von der Nymphe, Dryade, dem Flussgott, dem Vegetationsheroen zum Olympier, der im unzugänglichen Bereich des Tempels wohnte, schließlich zum einen Hochgott, der überall ist und nirgends –, waren doch die Priester immer damit beschäftigt, die ältere, primitivere Gottsuche zu entwerten und ihren neuen Glauben als den einzig wahren durchzusetzen.
Sollen wir den Sinnhunger der Psyche »Gott« nennen? Dieses rätselhafte Geschenk der Evolution, die Qualität des bewussten Erlebens, das es uns ermöglicht, zwei Wirklichkeiten zu unterscheiden, eine erlebte, die erst einmal nur subjektiv ist, und eine zweite, die subjektiv und objektiv ist? Das Leben, den Geist, Gott, die Ideale – Platon hatte schon recht, als er sie uns als Schatten beschrieb, die wir, angekettet in einer Höhle, als Einziges wahrzunehmen vermögen.
Die bisher nicht entkräftete Begründung für Gottes Existenz (und Nichtexistenz) ist die Fähigkeit des Gehirns, eine kohärente Welt entstehen zu lassen, in der wir uns orientieren können. Eine Weile hat uns Gott geholfen, das zu tun; dann hat ihn die Wissenschaft in die Defensive gedrängt, und jetzt leben wir in einer Welt, in der Gott gleichzeitig lebt und tot ist. Jedes Individuum ordnet, allein oder im Verein mit anderen, sich bekehrend oder andere bekehrend, seine Wahrnehmungen so, dass die Lebendigkeit oder der Tod Gottes sich in dieses Weltbild fügt.
Mit den neueren Mitteln der Beobachtung des tätigen menschlichen Gehirns lässt sich nachweisen, was Freud schon in seinem ersten Entwurf zu einer Psychologie konstruierte: Das bewusste Erleben ist der letzte, späteste Schritt in einem unbewussten, sozusagen zum Körper, zur Physiologie hin offenen Geschehen.
Da bildgebende Verfahren in unserer Mediengesellschaft besonders eindrucksvoll sind und eine öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen, nach der ein nachdenklicher Beobachter ohne teures Equipment vergeblich sucht, folgte der (Wieder-)Entdeckung dieser Priorität des organischen Prozesses vor dem bewussten Erleben eine ebenso merkwürdige wie veraltete Debatte über die Freiheit des menschlichen Willens.
Wenn wir nachweisen können, dass eine Entscheidung im Nervensystem schon vollzogen ist, ehe wir sie bewusst erleben, dann bedeutet das doch, dass unser Freiheitsgefühl während dieser Entscheidung eine Illusion ist! Unser Erleben tapert Gehirnprozessen hinterher und behauptet, es habe sie gemacht, ähnlich dem Trunkenen, der behauptet, es gefalle ihm eben, die Rolle des Berauschten zu spielen, er könne aber, wenn er nur wolle, geradeso gut stocknüchtern sein.
So mag es sein, und doch mutet der Begriff der »Illusion« vage und oberflächlich an. Er ignoriert, dass das erlebende Ich sich schon immer als Ganzheit, als Identität begriffen hat, dass die Entscheidung nicht eine des Bewusstseins, sondern eine Entscheidung der Person ist, mit allen Nerven- und Muskelzellen, dass das Freiheits- und Entscheidungsgefühl als intuitive Wahrnehmung dieser Ganzheit mehr ist als die Summe seiner Teile. So darf es auch einer künstlichen Zerlegung in den »objektiv« im Kernspin erfassten Gehirnbefund und das »subjektive« Erleben widersprechen.
Auch dieser Widerspruch wird eher in den Nervenzellen sein als im Bewusstsein, aber das entkräftet ihn nicht. Und umgekehrt weiß jeder Praktiker der Psychotherapie, wie tief Erlebniswelten in die Körperzellen hineinwirken, wie sie die Immunabwehr stimulieren oder lähmen, körperliche Krankheiten begünstigen oder sich ihnen widersetzen.
In der traditionellen Rede von der Illusion ist diese blass, wirkungslos, »nur« Schein. Das aus einem Stück Holz oder einem Häufchen Laub von einer sehnsüchtigen Wahrnehmung geschaffene Bild des Steinpilzes ist »nur« eine Illusion. Das Gefühl jedoch, mit dem wir, näher herangetreten, das Laubhäufchen zur Kenntnis nehmen, unterscheidet sich gravierend von dem Triumph, wenn wir tatsächlich einen Pilz gefunden haben. In diesem Zusammenhang taucht eine Szene auf, die den umgekehrten Verlauf signalisiert: wie die Illusion mächtiger werden kann als die Realität.
Zwei Männer laufen einen halben Tag lang auf der Suche nach den begehrten Steinpilzen durch den Wald. Ein einziger, stattlicher Pilz ist die enttäuschende Beute. Am Abend vor der Heimfahrt legt der Finder den Pilz auf einen Stein und drischt mit seinem Wanderstock auf ihn ein. Hier wird die Illusion – »Ich werde mit einem ganzen Korb voller Pilze heimkommen« – so mächtig, dass der einzige »ertappte« Pilz die Rache für die vielen ertragen muss, die sich nicht finden ließen. Das Beispiel verliert seine Harmlosigkeit, wenn wir den Terror gegen einen Touristen betrachten, der von einem Fanatiker niedergeschossen wird, weil er für eine verhasste Gegenmacht steht.
Illusionen – in ruhigen Zeiten erkennen wir sie, in unruhigen beherrschen sie uns. Bei klarem Verstand, in einer entspannten sozialen Situation können wir prüfen, ob das, wonach wir vorhaben uns zu verhalten, auch tatsächlich »wahr« ist. Aber unter emotionalem Druck, aufgewühlt, traumatisiert, verängstigt, empfinden die Menschen die Forderung, zwischen Illusion und Realität zu unterscheiden, als Zumutung. Sie sehnen sich nach erlösender Tat. Wenn der kritische Verstand keine anziehende Handlung bietet, greifen sie nach der Illusion – action is satisfaction. Goethe hat viel von den Resultaten der Gehirnforschung des 21. Jahrhunderts vorweggenommen, als er Faust nach langem Zögern die Übersetzung des Johannes-Evangeliums mit »Im Anfang war die Tat« beginnen lässt.
Ein Beispiel aus dem Alltag ist die Reaktion auf den Verlust eines Gegenstandes. Wir vermissen ihn und beginnen zweierlei: ihn zu suchen und uns zu erklären, was mit ihm geschehen sein könnte. In beidem verhalten wir uns häufig unsinnig, wobei wir gleichzeitig von diesem Unsinn zu wissen glauben, ohne unser Verhalten zu ändern.
Als mir in einer tschechischen Stadt das vor dem Hotel geparkte Auto gestohlen wurde, wusste ich genau, wo ich es abgestellt hatte – dennoch suchte ich erst einmal die Nebenstraßen ab. Denn es war ein gar zu traumatischer Eindruck, dass es für immer verloren sein könnte, gegen den ich spontan Illusionen von einem wider meine genaue Erinnerung doch in einer Seitenstraße geparkten schwarzen Golf aktivierte. Auch als dann der Diebstahl Polizei und Versicherung gemeldet war, hatte ich immer noch eine besondere Beziehung zu jedem schwarzen Golf dieses Modells, den ich auf der Straße stehen sah; es hätte ja mein verlorenes Auto sein können.
Angesichts des Handlungshungers unserer so leicht emotionalisierbaren Psyche wird die kühle Distanz zur Illusion, wie sie uns Freuds Religionskritik vermittelt, selbst zu einer Illusion. Wenn buchstäblich Millionen zum Begräbnis eines Papstes nach Rom pilgern und dort in allen Schattierungen des Events und der Ergriffenheit feiern, entsteht eine psychische Macht eigener Art. Wieder ist sie vom Standpunkt des Forschers kritisierbar, aber diese Kritik lähmt die Forschung, sobald sie nicht mehr die interessierte Frage zulässt, weshalb zu bestimmten Epochen neue Illusionen so viel mehr Macht gewinnen als alte.
Vielleicht müssten wir uns zuerst fragen, ob nicht der Begriff der Illusion selbst eher theologisch gefasst werden muss. Denn die eindeutigsten Zuschreibungen, dass etwas »Illusion« sei, kennen wir aus der Religionsgeschichte. Sie treffen den alten Glauben, den ein neuer ersetzen soll. In keiner anderen Situation wird die Illusion so hartnäckig und nachdrücklich gegen die Realität gesetzt, wie von den Missionaren eines neuen Glaubens gegen die »betrügerischen« Priester eines alten.
So finden wir zu einer neuen Fragestellung: Wir suchen nicht mehr nach Antworten auf die Frage, ob etwas Illusion sei oder Realität, sondern erkunden die Kräfte, die zur Metamorphose der Illusion zur Realität, der Realität zur Illusion beitragen. Illusion ist kein Zustand, sondern ein Prozess.
Wie der Wanderer im Märchen mit seinem Zauberstab vor sich einen Steg baut, der hinter ihm wieder verschwindet, so ist unsere Wahrnehmung ein Prozess, in dem wir ständig Bilder schaffen, die sich im Näherkommen als Illusionen entpuppen. Wenn aber die Bilder, die als Illusionen entlarvt werden, nicht einmal »real« gewesen wären, hätten wir unseren Ausgangspunkt nicht verlassen.
Solange die Vögel die Vogelscheuche für einen gefährlichen Wächter gehalten haben, fürchteten sie sich, die Erbsen aufzupicken. Irgendwann erkennen sie, dass die Vogelscheuche nicht »wirklich« gefährlich ist. Das ist nur der Bauer, der am Abend mit der Schrotflinte kommt, um seinen Acker zu schützen.
Fassen wir zusammen:
Die menschliche Erlebniswelt lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Illusion in drei Bereiche gliedern:
1. Den mathematisch-empirisch fassbaren, auf den sich alle menschlichen Kulturen einigen konnten. Es gibt keine Kultur, die dafür missioniert, dass zwei plus zwei fünf sei, dass Wasser nicht bei 100 Grad Celsius kocht, sondern bei zehn, oder dass es besser ist, Boote aus Ziegelsteinen zu mauern, als sie aus Holz zu fertigen. Das Ideal ist hier die Gültigkeit – es gibt richtige Rechnungen und falsche.
2. Den Bereich der Ästhetik, der Meinungen über Benehmen und Geschmack, in dem sich die Individuen darüber einig sind, dass es sich um persönliche Vorlieben handelt. Manche Menschen schwärmen für Kuchen, andere essen lieber Fleisch oder Käse; manche wollen Wein trinken, andere Bier, andere nur Wasser oder Tee. Der Kern dieses Bereichs ist die reine Geschmackssache, in der es keine anderen Zwecke gibt. Das Ideal ist hier die Schönheit bzw. die Lust – alles, was gute Gefühle weckt.
3. Den religiösen Bereich, in dem einerseits verbindliche Forderungen aufgestellt werden, die nicht durch den persönlichen Geschmack verändert werden dürfen (etwa Schweinefleisch zu essen, das Böcklein in der Milch seiner Mutter zu sieden, am Freitag statt des Bratens einen Fisch zu verzehren), es andrerseits aber keine mathematisch-empirische Begründung gibt, keinen überkulturellen Konsens. Das Ideal ist hier die Wahrheit, die zu einem Sinn führt, der die physische Natur überschreitet. Es geht um Transzendenz und Metaphysik.
Für die Aufgaben einer analytischen Untersuchung trennen wir diese Bereiche. Im Alltag verschmelzen sie in der Regel. Der Gläubige findet Schweinefleisch ungesund und seinen Verzehr wider die menschliche Natur; ihm wird übel, wenn er nur daran denkt. Wenn in seiner Kultur diese Meinung nie in Frage steht und es genügend koscheres Essen gibt, wird sich daraus nie ein Problem entwickeln – wohl aber, wenn der Gläubige sehr hungrig ist und weit und breit keine anderen Speisen findet als die verbotenen.
Interkulturell neigen die aufgeklärten Zivilisationen dazu, den schriftlosen Kulturen zu unterstellen, sie könnten gar nicht zwischen diesen Bereichen unterscheiden. Paul Parin erzählt eine Anekdote zu diesem Irrglauben. Der Weiße trifft einen Afrikaner, der zwei verkrüppelte Zehen hat. Dieser erzählt ihm, welcher Zauberer den Fluch auf ihn gelegt hat, der dazu führte, dass eine seiner Zehen Schaden litt. Darauf zeigt der Europäer auf die zweite verwachsene Zehe und fragt: »Und wer hat diese Zehe verhext?« Der Afrikaner lächelnd darauf: »Es ist Schmutz unter den Nagel geraten, er hat geeitert und ist abgefallen, kennst du solche Krankheiten nicht?«
Wir begegnen in dieser Anekdote einem typischen Bedürfnis des technisch-wissenschaftlich geprägten Menschen: Er möchte Zusammenhänge vereinheitlichen. Ohne diese Haltung könnten wir in einer technischen Welt nicht überleben. Stromführende Leitungen sind immer gefährlich, ein Automobil, das bei hoher Geschwindigkeit die Fahrbahn verlässt, wird immer zur Todesfalle. Wer die bewiesene Kausalität respektiert und die unbewiesene ignoriert, lebt leichter.
Darüber hinaus hat die Naturwissenschaft viele Ursachen aus dem Chaos unserer Eindrücke herausgefiltert. Einst hielten wir sie für übernatürlich. Sie öffneten dem guten oder dem bösen Zauber, den Engeln, den Göttern und auch noch dem einen Gott zahlreiche Eintrittspforten in unser Erleben.
Man könnte sagen, dass die Fortschritte der Naturforschung das traditionelle Gottesbild geschwächt haben, bis Nietzsche dieses Siechtum mit seinem Satz »Gott ist tot« überspitzte. Aber die Dinge liegen komplizierter, nicht nur, weil es schon in der Antike Atheisten gab, sondern auch weil die Definitionen von Gott zu vielgestaltig sind, um ihn mit einer einzigen Formel erledigen zu können. Wenn Gott tot ist, muss er irgendwann gelebt haben. Wenn er aber gelebt und gewirkt hat – warum? Und wenn er es heute nicht mehr tut – warum nicht mehr? Das sind psychologische Fragen, welche eine reine Kritik der dogmatischen Religion verfehlt. Diese Schwäche des Freud’schen Denkens angesichts der »heißen« Religion wird uns noch ebenso beschäftigen wie diese Unterscheidung selbst.
Die Psychoanalyse steht ganz deutlich, selbst der Name ist der Chemie entlehnt, in der Tradition der naturwissenschaftlichen Ursachensuche. Der Chemiker ist das Musterbeispiel für den Forscher, der komplexe Erscheinungen in wenige, einfache, genau definierte Bestandteile zerlegt und die Gesetzmäßigkeiten dokumentiert, nach denen sich diese Elemente verbinden.
Mit diesem Ansatz der seelischen Elemente, die Verbindungen (Assoziationen) eingehen und sich zu größeren Einheiten (»Komplexen«) zusammenfügen, haben Freud und anfangs noch unabhängig von ihm C. G. Jung jene Menschen erforscht, deren »nervöse« Erkrankungen den Ärzten Rätsel aufgaben, ohne dass sich ein Erreger finden ließ.
Freud konzentrierte sich dabei auf die hysterischen Patienten, C. G. Jung auf die geisteskranken, die damals noch unter der Diagnose einer vorzeitigen Denkschwäche (Dementia praecox) in Anstalten wie das Burghölzli in Zürich kamen.