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Die Wahrheit der Hysterie

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»Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben: Aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehr setzen können.«1

Seit sie als Motiv unseres Denkens nachweisbar ist, hat die Hysterie damit zu tun, daß ein Ding nicht an seinem Platz ist. Unordnung herrscht, sie führt zu Angst, die sich bis zur Panik steigern kann. Bewältigungsversuche setzen ein, die Unordnung zu beheben. Das probateste Mittel, das der Erwachsene hat, um sich gegen seine Existenzangst zu behaupten und angesichts des Unausweichlichen einen kleinen Aufschub zu gewinnen, ist die Sexualität und in ihrer Folge die Hoffnung auf das Heranwachsen der eigenen Kinder. Sexuelle Erregung mindert die Angst; Kinder lenken von der Begegnung mit dem eigenen Altern ab.

Beides – sexuelle Aktivität und Schwangerschaft – wurde in den traditionellen Welten, als die Hysterie noch mit der losgerissenen Gebärmutter erklärt wurde, auch als Behandlung dieses Leidens empfohlen. Heute fallen an hysterischen Männern und Frauen eher ihre Neigungen auf, sich diesen existentiellen Behelfen zu entziehen. Sie ringen darum, alles besonders gut zu machen. Eine wirklich gute, wirklich befriedigende, wirklich leidenschaftliche und wirklich stabile Beziehung ist doch das Mindeste an Basis! Leider führen diese Verbesserungsversuche in der Praxis eher dazu, daß die Partnerschaft unbefriedigender wird und die ersehnte Schwangerschaft daran scheitert, daß aneinander die überoptimale Elternqualität vermißt wird. Die »moderne« Hysterie, die wir seit Flauberts Roman über Emma Bovary beobachten können, hängt mit unerfüllten narzißtischen Ansprüchen zusammen. Die Realität – die Partnerin, die Heimatstadt, die Freunde, der Beruf – sind nicht gut genug. Was andere sind, was andere haben, wäre besser; erst fehlt der Becher, später der Wein. Die unwissende Kraft der Jugend wird ohne eigentliches Erwachsenenalter von der wissenden Kraftlosigkeit des Alters abgelöst, für die ernsthafte sexuelle Bindung ist es lange Zeit zu früh und dann mit einem Mal zu spät. Diese Qualitäten teilen Männer und Frauen, wir nennen sie heute oft »narzißtische Störung«, aber das lenkt, so scheint es mir, von ihrer Verwurzelung in der menschlichen Sexualität ab.

Denn um deren Grundtatsachen geht es. Erwachsen ist nicht, wer irgendwelche psychologischen Ideale erfüllt, sondern wer die Verantwortung für sich selbst, für seine Kinder und seine Eltern tragen kann. Die Charakterqualitäten, die wir als »hysterisch« erleben und die jeder geschulte Beobachter im eigenen Erleben entdeckt, auch wenn es ihm gelingt, sie zu beherrschen, hängen damit zusammen, daß dieser Zustand instabil ist und Stabilität gerade im Akzeptieren seiner Gefährdung gewinnt.

Eine fünfzigjährige Frau berichtet, daß sie in letzter Zeit immer wieder völlig »hysterisch« reagiere, ihren Partner oder ihre Kolleginnen anschreie. Sie ist gerade damit beschäftigt, den Umbau ihres Hauses zu organisieren, und kann, obwohl sie einen guten Architekten bezahlt, diesem die Bauleitung nicht überlassen. Sie kontrolliert jede Kleinigkeit, fühlt sich für jedes Versagen der Handwerker schuldig und schläft nur noch drei Stunden pro Nacht, kein Wunder, daß sie immer reizbarer wird und fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Sie fügt dem realen Streß der Mehrbelastung einen hysterischen hinzu, indem sie von sich verlangt, alle Probleme zu lösen, ehe sie schlafen darf. Gerade dadurch wird sie immer unruhiger und meint, ihre Kontrolle steigern zu müssen. Ihre Welt ist durch den »Umbau« in Unordnung geraten; wie Hamlet fühlt sie sich dafür verantwortlich, sie zu ordnen.

Hysterie hängt mit einem Rückkopplungsprozeß zusammen: Das Ich versucht, die zwangsläufige Unsicherheit des Lebens zu kompensieren; durch diese Kompensationen wird die Situation weiter destabilisiert, was die Kompensationsanstrengungen weiter verstärkt. Die Wirkung der Psychoanalyse läßt sich damit verknüpfen: Hier wird einerseits ein Rahmen strikt eingehalten, der Halt gibt (die analytische Sitzung), auf der anderen Seite ein hoher Grad von Unsicherheit hergestellt (durch das Gebot der freien Einfälle, das dem Kontrollbedürfnis entgegenarbeitet).

Auf diese Weise wird ein Lernprozeß eingeleitet, der dazu führen kann, daß der Patient wieder zwischen den Situationen, die er durch Kontrolle verbessern kann, und jenen unterscheidet, die er durch Kontrolle und Perfektionismus verschlechtert – und sei es nur, weil er Energie und Selbstvertrauen vergeudet. Freuds Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Leid und dem hysterischen Elend geht in eine ähnliche Richtung: das allgemeine Leid – die Begrenzungen der Biographie, des Körpers, damit des Geschlechts – lassen sich nicht anfechten.

Natürlich wissen auch Psychoanalytiker, daß ihre eigenen Ideale unerfüllbar sind. Kein Mensch ist in der Lage, dem stoischen Ideal zu folgen und das Unausweichliche an seinem Schicksal in jeder Situation ruhig zu ertragen. Seit Menschen denken können, haben sie die Sehnsucht nach der Erfüllung solcher Wünsche projiziert, in Tiere, in Götter. Sie wußten, daß sie um diesen inneren Frieden ringen, ihn aber nicht erreichen können. Lichtenberg hat es in seiner unnachahmlichen Weise positiv umgemünzt: »Wer über gewissen Dingen den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.«

Hysterie hängt also damit zusammen, daß die möglichen seelischen Verletzungen durch die geschlechtliche Rolle, konkreter: durch seelisch/somatische Aufgaben wie Schwangerschaft, Geburt und hilflose Kindheit abgewehrt werden müssen. Die Entwicklung dieser Abwehr hängt eng mit der kulturellen Evolution zusammen: Je ausgeprägter die Entscheidungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Fortpflanzung sind, um so mehr unterschiedliche Formen gewinnt die Hysterie. Bereits in der ersten Fallgeschichte von Breuer und Freud läßt sich diese Situation belegen. Anna O. war auf dramatische Weise hysterisch, bis die Zeit vorbei war, in der sie hätte heiraten können. Um die Jahrhundertwende war ein Mädchen um die zwanzig – als Anna O. erkrankte – im besten Heiratsalter, ab fünfundzwanzig war sie spät dran, ab achtundzwanzig nur noch unter Mühen und mit reicher Mitgift zu verheiraten. Mit achtundzwanzig trat Anna O. als Bertha Pappenheim gesund und politisch aktiv an die Öffentlichkeit.

Die in der Moderne entstandene Notwendigkeit, sich für oder gegen enge Beziehungen zu entscheiden, hat sicher zu dem enormen Anwachsen der Hysterie bei beiden Geschlechtern geführt. Solange das nicht möglich und daher auch nicht nötig war, scheiterten Männer und Frauen oft genug an der praktischen Bewältigung ihres Lebens, konnten sich nicht vor Hunger und Kälte schützen, fielen einem Stärkeren zum Opfer. Aber jenes exemplarische Scheitern an einer Entscheidung, wie es die Hysterie charakterisiert, war doch selten und – wie Hamlets Zögern – ein Privileg der oberen Schichten. Das gleiche galt für den Rückzug aus der Realität in körperliche Symptome.

Daß die Hysterie mit diesem Entscheidungsdruck zusammenhängt, dokumentiert häufig der Verlauf: Sobald dieser Druck nachläßt, wie bei Bertha Pappenheim, nachdem sie das Heiratsalter verlassen hatte, verschwinden auch die dramatischen Symptome und geben Raum für eine neue Lebensgestaltung. Hysterie heißt, daß Männer und Frauen ihre Geschlechtsrolle überoptimal spielen, daß sie nicht ausreichend auf ihren Körper und ihre Wünsche vertrauen können, daß sie Anlehnung suchen und, weil sie diese suchen, auch eine überoptimale Anlehnung bieten. Ein ebenso ironisches wie illustratives Spiel über dieses Thema ist der Film »Some like it hot« von Billy Wilder, in dem ein Saxophonspieler den reichen Erben spielt, um eine Blondine zu verführen, die sich darüber beklagt, daß sie immer statt der reichen Erben einen Saxophonspieler erwischt, während der echte reiche Erbe – ein Muttersöhnchen – die Liebe seines Lebens in einem als Frau verkleideten Mann findet. Selbst die erotische Begegnung wird zum Spiel: Marilyn Monroe hat die Aufgabe, diesen reichen Erben, der keiner ist, von einer Impotenz zu kurieren, die er nicht hat.

Die Hysterie führt Männer und Frauen dazu, nicht Männer und Frauen zu sein, sondern zu beweisen, daß sie es sind. Daher ihre engen Beziehungen zur Verführung: im Akt der Eroberung vollzieht sich auch der Beweis; im Genuß geht er schon wieder verloren.

Der hysterische Mann

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