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Die anthropologische Dimension

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Wenn ein Thema in derart vielfältiger Gestalt das menschliche Denken bewegt wie die Hysterie, liegt die Vermutung nahe, daß es eine existentielle Dimension berührt. Diese erfaßt der Ödipus-Komplex nicht, sondern er symbolisiert sie. Die Hysterie hängt mit Folgen der Evolution zum Menschen zusammen. Spezifisch menschlich ist es, eine für die Nachkommen vitale Struktur – das Paar – durch eine sexuelle Bindung zusammenzuhalten. Damit scheint der für die Hysterie kennzeichnende Widerspruch zwischen Dauer und Beweglichkeit schon in der Entwicklungsgeschichte verankert. Die Konstruktion als solche spricht eher für die moderne Auffassung der Evolution als Zufallsgeschehen, das aus dem Vorhandenen neue Strukturen bastelt. Ob ein allwissender Gott auf den Gedanken käme, eine der Idee nach lebenslang funktionierende Partnerschaft auf Fundamenten launischer Lust zu errichten, ist nicht eben wahrscheinlich. Die Probleme, die ein solches Modell mit sich bringt, sind vorhersehbar.

Einerseits muß der/die Erwachsene erotisch beweglich sein, um die günstigste Wahl zu treffen, den stärksten, schönsten, am meisten für die Zeugung der nächsten Generation geeigneten Partner zu wählen. Dann sollen er/sie mit einem Schlag verläßlich, treu, fest gebunden sein, um die für die Kinder günstige Stabilität zu erreichen. Geht ein Partner des Paares verloren, soll diese Bindung auf einen neuen Partner übertragen werden können. Das alles ist nicht wenig verlangt.

Die Baumeister der Evolution haben diese vielfältigen Aufgaben so zu lösen versucht, daß sie der menschlichen Erotik eine Qualität kindlicher Abhängigkeit eingepflanzt haben und umgekehrt auch Abhängigkeitsverhältnisse latent sexualisierten. Das führte dazu, daß die beim Menschen sehr lange Kindheitsphase sexuell geprägt ist; die psychoanalytische Theorie der Neurosen geht davon aus, daß in der Kindheit immer wieder heftige sexuelle und aggressive Affekte das Ich so bedrohen, daß es nur durch Verdrängungen und Gegenbesetzungen arbeitsfähig bleibt.

Der Hysteriker ist in einer kindlichen Weise abhängig davon, daß er als absolut erwachsen, attraktiv, stark anerkannt wird. Er wünscht sich, unantastbar zu sein; in der Tat ist er so kränkbar, daß er von der Verleugnung (»alles kein Problem«) gleich in die Katastrophe kippt (»ich kann mich ja immer noch umbringen«). An dieser Stelle wird auch die Nähe von Hypochondrie und Hysterie faßbar. Der Hypochonder hat ebenfalls keine kleinen Gesundheitsprobleme. Er ist entweder vollkommen gesund oder lebensgefährlich krank; mit einem harmlosen Leiden zu leben und sich in das Unausweichliche zu fügen, fällt ihm äußerst schwer.

Die Hysterie ist sozusagen der Wächter an einer evolutionär bedingten Soll-Bruchstelle, ein Cerberus an dem Riß zwischen Ober- und Unterwelt. Der Wächter schützt, indem er früh und nachdrücklich Alarm schlägt, diese Naht davor, aufzuplatzen.

Die menschliche Paarbindung ist der soziale Ort, an dem Männer und Frauen wesentliche, für die meisten von uns unverzichtbare Bestätigungen und Befriedigungen erleben. Die hysterischen Sicherungen, die sich mit Begriffen wie »das Überoptimale« oder »das Phallische« beschreiben lassen, hängen damit zusammen, eine erlebte Schwäche in solchen Beziehungen zu kompensieren und das Ich vor einer vernichtenden Strenge zu schützen, die es zu strafen droht, wenn die Paarbeziehung nicht in der angestrebten Weise funktioniert. Oft verbergen sich solche Bindungen an das Überoptimale hinter Angstsymptomen. Durch sie versuchen die Betroffenen den drohenden Verlust der phallischen Stabilisierung auszugleichen.

Beispiele: Eine fünfzigjährige Frau erkrankt in ihrer zweiten Ehe an einer Herzneurose, sobald sie erkennen muß, daß ihr bisher sehr idealisierter Mann heimlich trinkt. Ein Vierzigjähriger erkrankt an Panikattacken, weil seine Frau das dritte Kind abtreiben ließ, da sie wieder in den Beruf zurückkehren will.

Nun ist die menschliche Paarbindung von ihren evolutionären Anfängen an immer intensiv sozial geregelt worden. Menschliche Paare sind keine autonomen Einheiten, sondern eher ein Merkmal von größeren Gruppen, die vermutlich auf der frühesten Stufe durch den Tausch von Frauen gutnachbarliche Beziehungen gestiftet haben.3 Das heißt, daß ein wesentlicher Teil der Männer- und Frauenrolle daran hängt, von der Gruppe als »guter Mann« bzw. »gute Frau« anerkannt zu werden. Die hysterischen Konflikte treten in der Regel dann auf, wenn der Gruppenbezug und der Partnerbezug einander widersprechen.

Beispiel: Wir können uns vorstellen, daß die Frau des Alkoholikers sagt: »Ein anständiger Mann trinkt nicht so viel. Wenn du abends immer betrunken bist, kann ich das nicht aushalten, ich laß mich scheiden.« Er setzt dagegen: »Eine anständige Frau steht zu ihrem Mann. Ich trinke, aber ich gehe jeden Morgen zu Arbeit, ich bin kein Alkoholiker, und ich habe dich noch nie geschlagen. Andere Frauen wären froh um einen Mann wie mich.«

Es geht in dieser Auseinandersetzung also immer noch um eine verborgene Gruppennorm, die jetzt als Kampfmittel gegen den Partner eingesetzt wird, in vielen anderen Fällen aber auch die Beziehung narzißtisch stabilisiert.

Beispiel: Sie: »Hast du gemerkt, wie betrunken Karl gegen Ende des Abendessens war? Karin hat mir erzählt, daß es oft noch viel schlimmer ist. Sie tut mir so leid, ich weiß auch nicht, wie sie es bei Karl aushält. Ach, ich bin so froh darum, daß du so gut maßhalten kannst!« Er, geschmeichelt: »Aber Karin läßt sich auch viel zuviel gefallen. Kein Wunder, sie hat ihr Studium abgebrochen und Karl wird einmal das Geschäft seiner Eltern erben. Wenn sie so selbständig wäre wie du, wäre es nicht soweit gekommen!«

Die erwachsene Identität wird also einerseits durch die sexuelle Bindung, anderseits durch die Idealisierung des Paares stabilisiert. Wenn beides in der Realität nicht ausreicht, müssen hysterische Mechanismen hinzugezogen werden, um den Mangel zu kompensieren. Sie sind immer Amalgame aus narzißtischem Anspruch und sexueller Sehnsucht.

Beides ist im »Normalfall« der befriedigenden Liebesbeziehung kongruent und letztlich kaum voneinander zu unterscheiden. Die männlichen oder weiblichen Werte, die wir hochschätzen, enthalten immer eine erotische Komponente – und wie sehr schätzen Menschen in aller Regel die sexuelle Befriedigung! Der Mann oder die Frau, die ihren Partner versorgen, beschützen, sexuell befriedigen, sind im Normalfall auch bewundert und geachtet.

In der Hysterie ist dieses Amalgam zerfallen. Die reale Befriedigung hat keinen Glanz; die schweifende Sehnsucht führt zu keiner oder doch nur zu einer flüchtigen Befriedigung. Emma Bovary liebt und begehrt nicht den Mann, der sie versorgt; sie sehnt sich nach einem unendlich anziehenderen. Don Juan bindet sich nicht an die Frau, die ihn befriedigt hat – im Gegenteil, er verläßt sie für die nächste, die seine phallische Phantasie reizt, alle Frauen der Welt zu besitzen.

Der hysterische Mann

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