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Die narzißtische Spende

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Die narzißtische Aufwertung durch den Beweis, männlicher oder weiblicher zu sein als jene, die nichts beweisen können oder wollen, ist eine Art Schutzschicht und wurzelt in einer verlängerten Abhängigkeit von Elternbildern: Der hysterische Mann sucht aus dem Augenwinkel immer noch das Leuchten im Auge der Mutter, die ihm beteuert, daß er der einzige Mann ist, der ihr Eindruck macht.

Was die Hysterie oft schwer durchschaubar macht, ist die Tatsache, daß die Dynamik der narzißtischen Spende kein individuelles Geschehen, sondern eine Interaktion ist. Die Geschichte der Hysterie ist, wie wir betont haben, eine Geschichte der Delegation; in der modernen, individualisierten Gesellschaft wiederholen sich solche Delegationen auf zahlreichen Schauplätzen. Ein wichtiges Feld solcher Delegationen sind die helfenden Berufe. Der »vernünftig« an die »unvernünftige« Frau gebundene Helfer reagiert häufig in dem Moment selbst irrational, in dem sich die Partnerin ändert. In einem Fall gelang es während der Therapie, eine Frau von einer heftigen Flugangst soweit zu befreien, daß sie in den nächsten Ferien eine Fernreise buchen wollte. Es geschah, aber während bisher ein souveräner Partner seine zitternde Frau trösten mußte, hatte diesmal die Frau große Mühe, ihrem taumelnden Mann in die Maschine zu helfen: Er hatte sich, um seine wachsende Panik zu betäuben, auf dem Weg Mut angetrunken.

Solche Delegationen neurotischer Symptome sind in der Familienforschung und Familientherapie lange bekannt. Spannend wird es, wenn wir sie auf die unbewußten Haltungen der Helfer anwenden, die Symptome diagnostizieren und Diagnosen entwickeln. Die Hysterie wird, wenn wir sie als »Frauenleiden« ansehen, zu einer Schimäre, die aus der Ferne groß und einheitlich wirkt, näher betrachtet aber in ganz unterschiedliche Einzelbereiche zerfällt und schließlich – wie im Diagnose-Handbuch der amerikanischen Psychiater – gänzlich verschwindet. Als Leiden der Geschlechter aneinander betrachtet, läßt sich die Hysterie nur noch narrativ fassen: als Geschichte über biographische Interaktionen. Dieses Vorgehen spielt in der psychotherapeutischen Praxis eine Hauptrolle; auf der wissenschaftlichen Bühne wird es eher ausgepfiffen. Aus dieser Lage der Dinge heraus wird auch Micales Feststellung verständlicher, daß die Hysterieforschung der jüngeren Zeit vor allem von Literaturwissenschaftlern vorangetrieben wurde (Micale 1995, S. 10 f.).

In dem Spektrum der hysterischen Reaktionen drücken Männer und Frauen ein Bedürfnis aus, für das der Uterus eine Metapher von unübertroffener Dichte ist. Die Realität erscheint, so wie sie durch Sinne und Intellekt wahrgenommen werden kann, dem eigenen Ich unzumutbar. Während dieses Ich in der Psychose die eigene Wahrnehmung trübt, sucht es in der Hysterie nach Schutz und gewinnt Halt durch Anlehnung an idealisierte Werte oder Personen. Diese fungieren dann wie ein erweitertes Ich, sie umgeben die gefährdete, verletzliche Struktur mit Schutz und Schonung, engen sie aber auch ein und müssen sehr oft durch falsche Versprechungen (etwa die künftigen Glücks als Entschädigung gegenwärtigen Elends) die ärgsten Zweifel am Sinn dieses Unternehmens beschwichtigen. Von hysterischen Symptomen sprechen wir, wenn diese Stützen durch das Repertoire der Körper- und Geisteskrankheiten herbeimanipuliert werden sollen: durch Dämmerzustände, Persönlichkeitsspaltungen, durch Anfälle, Lähmungen, Angstzustände und die vielfältigsten Angstäquivalente – das Herz will stehenbleiben oder macht Schläge außer dem Takt, das Bewußtsein droht zu schwinden, die Beine versagen ihren Dienst, so daß jeder Schritt unmöglich ist. Aber der hysterische Mechanismus reicht weiter; die Symptome können sich in Kompensationen hinein verzweigen, z. B. in die vielfältigen Formen der Sucht.

Wesentlich an der Hysterie ist immer eine soziale Bezogenheit des Symptoms oder der Illusionsbildung. Im Beobachter verfestigt sich die Phantasie, wenn er die betreffende Person auf einer pazifischen Insel aussetzen würde, dann könnte sie plötzlich mit einem Schlag wieder normal gehen, normal essen, sich normal bewegen. Nur hierzulande will es trotz größter Anstrengung nicht gelingen.

Beispiel: Der Patient war in Deutschland entweder unglücklich verheiratet oder schwer asthmakrank. Er versucht es gegenwärtig mit der vierten Ehe – diesmal mit einer Frau, die er wirklich gern hat und neben der er viel Geborgenheit erlebt. Gleichzeitig hat er eine Analyse begonnen, die zunächst wenig gegen das Asthma ausrichtet. Nur während seines mehrwöchigen Jahresurlaubs, den er fast immer in Mittel- oder Südamerika verbringt, ist er ganz symptomfrei.

Die Illusionsbildung läßt sich auch dort nachweisen, wo Symptome bei dem Partner der hysterischen, d. h. überoptimalen Beziehung fehlen. Die Frau des Alkoholikers ist symptomfrei und sogar besonders realitätstüchtig. Sie versorgt die Kinder, verdient das Familieneinkommen, wenn dem Mann wieder einmal gekündigt worden ist, putzt, wäscht und kocht. Die Hysterie in dieser Situation läßt sich darin finden, daß sie es ihm jedesmal glaubt, wenn er verspricht, nie wieder zu trinken.

Die Hysterie stellt also bei beiden Geschlechtern einen Uterus her, eine Gebärmutter für ein verletztes und daher besonders verletzliches Selbstgefühl. Die Co-Alkoholikerin kann einfach nicht darauf verzichten, daß sie mehr erträgt und mehr leistet als die Durchschnittsfrau; der Schauspieler mit der hysterischen Gangstörung entwickelt dieses Symptom in dem Augenblick, in dem ihm klarwerden könnte, daß er die wirklich großen Rollen auf den wirklich großen Bühnen niemals spielen wird. Nicht die Grenzen seines Talents, sondern die Grenzen seines Körpers sind es, die ihn aufhalten; das Symptom schützt ihn, dient als Puffer gegenüber einer als allzuschmerzlich erlebten Wahrnehmung der nackten, grausamen Realität.

Diese Dynamik ist unbewußt. Sie wird wahrscheinlich viel öfter nicht aufgeklärt als wirksam gedeutet. Was Anna O. heilte, war nicht das, was ihr der psychoanalytische Pionier an Einsichten vermittelte, sondern es war die Veränderung ihrer Lebenssituation: Sie war zu alt geworden, um noch heiraten zu müssen. Der Schauspieler wird nichts davon wissen wollen, daß sein Talent enge Grenzen hat; lieber konsultiert er Krankengymnastinnen und Verhaltenstherapeuten, die er fallen läßt, wenn sie ihn nicht symptomfrei machen können. Er meint damit: ihn von der Gehstörung befreien, nicht von dem in ihr verschlüsselten Bedürfnis, überoptimal zu sein.

Die Situation des Alkoholikers und der Co-Alkoholikerin spiegelt sozusagen die klassische »Behandlung« der hysterischen Frau durch ihren Arzt oder Ehemann. Beide sind sich, falls nicht ohnehin ein und dieselbe Person, darüber einig, daß die männliche Vernunft die weiblichen Widersprüche zähmen muß, wie es das Textbuch der »Zauberflöte« gebietet. (»Ein Mann muß eure Schritte leiten / Denn sonst pflegt jedes Weib / aus seinem Wirkungskreis zu schreiten«, d. h. sich loszureißen und am falschen Ort zur falschen Zeit zu erscheinen, wie die Königin der Nacht im Reich Sarastros.) In der Ehe der Co-Alkoholikerin hingegen sind die Probleme in der Unbeherrschtheit und Unberechenbarkeit des Mannes zu suchen, der seine Frau braucht, um nicht ganz zu scheitern.

Die Hysterie entsteht immer an Reibungsflächen und in Grenzgebieten, in denen sich widersprüchliche Bedürfnisse (aus denen Freud ganze »Instanzen«, Es und Über-Ich formte) nicht vereinigen lassen: Der Wunsch nach Autonomie und der nach Liebe, die Sehnsucht nach Anerkennung und die nach Selbstverwirklichung, letztlich die Hoffnung, Kind bleiben und doch die Privilegien der Erwachsenen teilen zu können.

Ein sehr erfolgreicher Manager beklagte immer wieder, wie sehr er leide, weil er sich so schlecht durchsetzen könne. Er sei immer viel zu konziliant, lasse sich auf Kompromisse ein und könne nachher sich selbst nicht mehr ausstehen, weil er sich wieder so klein gemacht und so angepaßt habe. Genauere Betrachtung der von ihm als Ursprung seiner Probleme geschilderten Szenen zeigt deutlich, wie er versucht, durch Verständnis, Einfühlung und gelegentlich Nachgiebigkeit seine Verhandlungspartner auf seine Seite zu ziehen. Seine Erfolge sind beträchtlich, aber er kann sie nicht anerkennen, sondern glaubt, er würde noch viel mehr erreichen, wenn er härter und entschiedener auftrete. Er nehme sich das immer nachträglich vor, lasse sich in den konkreten Situationen jedoch wieder geradeso über den Tisch ziehen wie das letzte Mal.

Er will beides, den Beweis seiner Härte und den Beweis seiner Liebenswürdigkeit, und er kann, indem er sich für die Liebenswürdigkeit entscheidet, die Phantasie nicht loslassen, durch Aggression mehr zu erreichen – ebensowenig kann er aber auf sein Werben um Sympathie verzichten. Er muß also jedesmal mit einem Gefühl des Scheiterns nach Hause gehen, kann aber seine Größenphantasie kultivieren, daß er geradesogut hart und aggressiv sein könnte wie liebenswürdig und verhandlungsbereit. Er kann die Phantasie festhalten, daß er mit zweiundfünfzig Jahren noch alle Optionen offen hat und sich vielleicht schon morgen aus seiner lästigen Verpuppung befreien wird. Dann hat er alles, er kann sich aggressiv durchsetzen und wird damit sogar mehr Sympathie gewinnen, als es ihm gegenwärtig möglich ist.

In einem 1998 erschienenen Buch über die »Ökonomie der Aufmerksamkeit« hat Georg Franck behauptet, daß in den postindustriellen Gesellschaften das Gut »Aufmerksamkeit« bedeutender wird als der Verkehr materieller Güter. Wenn wir beispielsweise von der täglich wachsenden Datenflut ausgehen, die via Internet jedem Nutzer zugänglich ist, dann ist das eigentlich knappe (und daher am heißesten umkämpfte) Gut das Interesse, das immer mehr beansprucht und immer weniger angeboten wird. Der sprichwörtliche italienische Stoßseufzer tutti vogliono chiacchierare, nessuno vuole sentire (alle wollen reden und keiner will zuhören) kennzeichnet ein soziales Klima, in dem mehr publiziert und weniger gelesen, mehr gezeigt und (proportional) weniger gesehen wird als je zuvor. Die Menge bedruckten Papiers, das täglich ungelesen weggeworfen wird, hat sich in den letzten Jahrzehnten multipliziert.

So verschwindet die Hysterie als klinische Diagnose in einer Zeit, in der die Show zur Überlebenstechnik wird und die histrionische Persönlichkeit zur Galionsfigur der Unterhaltungsindustrie. Eine der Protagonistinnen der Selbstvermarktung in den späten neunziger Jahren, die Sexshow-Moderatorin Verona Feldbusch, hat die Situation klargemacht: »Man versucht dauernd, hinter meine Fassade zu gucken. Aber da ist nichts, ich verstelle mich nicht.«2 Dieser Ausspruch bahnt Filmszenarien den Weg, die Peter Weir in seinem Streifen »The Truman Show« andeutet: Hier entdeckt die Hauptperson, daß ihr ganzes Leben ohne ihr Wissen als Reality-Serie verkauft worden ist. Der Held hat ahnungslos in Fernsehkulissen gelebt, seine Freunde sind Schauspieler, seine Eltern haben die Rechte an seinem Bild schon vor seiner Geburt verkauft. Shakespeares Vers von der Welt als Bühne, ein poetischer Versuch, Abstand zu den Tragödien des Lebens herzustellen, wird in einem multimedial vernetzten Kosmos zum Alptraum.

Der hysterische Mann

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