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Eine Wohnung in Allach

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Samstag, 7. Juni 2008, 18:50

Die Frau fluchte und riss hektisch eine Küchenschublade auf. Hier musste irgendwo noch eine halbvolle Schachtel Zigaretten sein. Sie hatte bereits die halbe Wohnung auf den Kopf gestellt, sogar im Badschrank hatte sie nachgesehen, obwohl die Chancen hier eher gering waren. Eigentlich hatte sie schon längst mit dem Rauchen aufgehört – streng genommen immer wieder. Den ersten erfolgreichen Versuch hatte sie damals während der Schwangerschaft gemacht, das hatte immerhin sieben Jahre ohne Rückfall funktioniert, wenn man mal von den einzelnen seltenen Ausrutschern absah – hier im Fasching mal eine, dort mal eine zum Weißwein wenn die Gesellschaft besonders nett war. Was ihr anfangs die größten Probleme bereitet hatte, waren die Ritualzigaretten: morgens eine zum Kaffee, eine mit den Kolleginnen in der Pause oder die Genuss-Zigarette nach einem besonders gelungenen Essen. Die berühmte „Zigarette danach“, stilecht schnaufend und zerzaust im Bett, hatte ihr dagegen nie wirklich gefehlt. Dass sie nach sieben Jahren wieder rückfällig geworden war, hatte mit der Trennung zu tun gehabt. Die war zwar alles in allem ganz zivilisiert abgelaufen, keine Schlammschlacht, kein Krieg um das Sorgerecht für Jasmin, sie hatten das ganze einvernehmlich geregelt und waren stolz und erleichtert gewesen, so erwachsen gehandelt zu haben. Allerdings sah sie sich damals natürlich schlagartig einer völlig neuen Lebenssituation ausgesetzt, und zwar in finanzieller, organisatorischer und emotionaler Hinsicht. Und da hatte sie wieder zugeschlagen, die alte Sucht. Sie hatte früher mal ein Märchen gelesen, sie erinnerte sich nur noch undeutlich, die Geschichte drehte sich jedenfalls um den Teufel, der jemandem die Seele abschwatzen wollte und diesen jemand dazu raten ließ, welche Pflanzen er wohl auf seinem Feld anbaue. Und was der Teufel da anbaute, war Tabak. Und der Teufel war zu ihr gekommen, damals, nach der Trennung, als ihr der Stress zuviel geworden war und hatte ihr seine Pflanzen wieder schmackhaft gemacht. Nach ein, zwei Jahren hatte sie sich dann wieder in den Griff bekommen, war aber seither immer mal wieder rückfällig geworden. Und jetzt, heute, waren alle Dämme gebrochen.

In der hintersten Ecke einer Küchenschublade fand sie endlich, was sie suchte, eine halbvolle Packung Lucky Strike, das Feuerzeug steckte praktischer Weise mit in der Schachtel. Sie öffnete den Deckel, holte eine schon ziemlich trockene Zigarette heraus und versuchte, sie anzuzünden. Sie zitterte so stark, dass es ihr erst beim dritten Versuch gelang; Feuerzeug und Schachtel legte sie anschließend geistesabwesend auf den Herd. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und schaute mit glasigem Blick an die Wand. Aus dem benachbarten Wohnzimmer tönte der Fernseher herüber, Bayerisches Fernsehen, die Rundschau mit den Lokalnachrichten:

„...Noch immer gibt es keine neuen Erkenntnisse im Fall der vor drei Wochen verschwundenen Schülerin Laura S. Ein Sprecher der Münchner Kriminalpolizei teilte in einer Pressekonferenz mit, man werte derzeit alle sachdienlichen Hinweise mit höchster Priorität aus, konkrete Ergebnisse könne man zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht vorlegen. Die vierzehnjährige Realschülerin war vor drei Wochen als vermisst gemeldet worden, seither fehlt jede Spur des Mädchens. Dies ist der erste Fall einer mutmaßlichen Kindesentführung in München seit...“

Die Frau stand auf, zog eine Untertasse aus dem Küchenregal und drückte die kaum angerauchte Zigarette darauf aus, dann stellte sie den provisorischen Aschenbecher gedankenlos in die Spüle. Sie ging zum Küchenfenster und öffnete es, fächelte mit der Hand Frischluft hinein und die verrauchte Luft hinaus. Dann ging sie zum Herd, nahm eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie mit zitternden Händen an. Sie griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Am anderen Ende meldete sich eine Männerstimme:

„Hallo, was gibt’s?“

„Hi Gianni, ich bin's, ich weiß nicht was ich machen soll, die Jasmin ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.“

„Hast du versucht, sie anzurufen?“

„Natürlich hab ich versucht, sie anzurufen, glaubst du ich bin bescheuert?“

„Und?“

„Geht nicht ran. Gianni, ich glaub, da ist was passiert!“ Die Stimme der Frau begann brüchig zu werden, eine Träne lief ihr die Wange hinab.

„Jetzt mach dir mal keine Sorgen, das muss noch gar nichts heißen.“

„In den Nachrichten haben sie gerade nochmal die Entführung von diesem anderen Mädchen gebracht. Ich hab solche Angst, Gianni, ich kann nicht mehr.“ Sie begann zu schluchzen.

„Ob das eine Entführung war, wissen die doch noch gar nicht, jetzt beruhig dich erst mal!“ Die Frau sagte nichts, sie weinte stumm ins Telefon.

„Hallo, bist du noch dran?“ Die Frau sah sich suchend um, dann entdeckte sie die provisorische Aschenbecher-Untertasse, die sie vorher in die Spüle gestellt hatte und drückte ihre Zigarette aus. Dann sagte sie mit zitternder Stimme:

„Was soll ich denn jetzt machen, unsere Tochter ist verschwunden und draußen läuft ein Kindesentführer rum, Gianni!“

„Hör mal: gestern war Freitag, Jasmin ist fünfzehn und hat pubertären Unsinn im Kopf. Die wird wahrscheinlich gerade auf irgend einer Teenie-Party ihren Rausch ausschlafen.“

„Ach ja, ist das so?“ antwortete die Frau zornig, „weil du sie ja so genau kennst, so oft wie du sie siehst!“

„Karin, jetzt beruhige dich doch mal bitte. Was ist das letzte, was du von ihr weißt?“

„Sie ist gestern nach der Schule direkt mit zur Amelie. Ich hatte ja Spätschicht und die Mädchen wollten zusammen Hausaufgaben machen. Sie wollte aber auf jeden Fall um zehn zuhause sein, sonst hätte sie ja auch angerufen!“

„Die Amelie ist nochmal...“

„Ihre Schulfreundin, Gianni. Die Schulfreundin deiner Tochter!“

„Ok. Hast du bei den Eltern von der Amelie angerufen?“

„Gianni, glaubst du ich bin total verblödet oder was? Natürlich hab ich da angerufen, gestern Nacht noch!“

„Und was haben die gesagt?“

„Sie ist schon um acht gegangen und wollte dann mit dem Bus zur S-Bahn Station fahren.“

„Hmm...“

„Was heißt hier 'hmm'?“

„Also weißt du, was ich glaube? Sie hat wahrscheinlich an der Bushaltestelle ein paar von ihren Freunden getroffen. Die wussten von irgend einer Mega-Party und haben sie überredet, mitzugehen. Gibt's da nicht eh irgend so ein Jugendzentrum, wo die sich andauernd treffen? Und nach dem ersten Bier wollte sie dich anrufen und hat gemerkt, dass ihr Akku leer ist.“

„Dann wäre sie aber irgendwann nach Hause gekommen, Gianni, verdammt!“

„Am besten, du beruhigst dich erst mal, Karin. Und dann rufst du nochmal bei den Eltern dieser Amelie an und fragst, ob die nicht vielleicht doch noch irgendwas wissen. Ich bin mir sicher, spätestens morgen ist unsere Jasmin wieder aufgetaucht.“

Unsere Jasmin, ja klar. Ich sag dir was ich mache: ich ruf jetzt bei der Polizei an!“

Die Frau hatte aufgelegt. Sie sah sich fahrig um, dann ging sie ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher aus. Dann ging sie zurück in die Küche, holte eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie an, ließ sich auf den Stuhl am Küchentisch fallen, starrte die Wand an und wischte sich mit der Hand die Tränen vom Gesicht. So saß sie etwa fünf Minuten regungslos da, während die Zigarettenasche auf den Linoleumfußboden bröselte. Dann griff sie erneut zum Telefon und wählte eine Nummer. Ein kurzes Freizeichen, dann meldete sich eine freundliche Männerstimme:

„Elf-Acht-Drei-Drei, mein Name ist Velten, was kann ich für Sie tun?“

„Grüß Gott, ich bräuchte bitte die Nummer der Polizei.“

„Gerne, in welcher Stadt?“

„Ach ja, in München bitte.“ Eine kurze wortlose Pause, dann sagte der Mann am anderen Ende:

„Ich hätte hier die Zentrale oder wollen Sie eine bestimmte Durchwahl?“

„Ich muss eine Vermissten-Anzeige aufgeben.“ Wieder eine kurze Pause.

„Ich lasse Ihnen die Nummer ansagen, möchten Sie danach gleich verbunden werden?“

„Ja, bitte.“

Im Polizeipräsidium München wurde am 7. Juni 2008, um 19:23 eine telefonische Vermisstenanzeige betreffend einer fünfzehnjährigen Schülerin aufgenommen, ordnungsgemäß protokolliert und zur Wiedervorlage für die zuständige Kommission am nächstfolgenden Werktag weitergeleitet. Die Anruferin wurde darauf hingewiesen, dass vor Ablauf von drei Tagen, in denen die vermisste Person unauffindbar blieb, üblicherweise keine ermittlungstechnischen Vorgänge gestattet seien, dass man aber aufgrund der besonderen Situation und der möglichen Parallelen zu einer anderen bisher unaufgeklärten Personenfahndung diese Sache schnellstmöglich und mit Nachdruck verfolgen werde.

Der Gärtner war der Mörder

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