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Pathologie

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Sonntag, 8. Juni 2008, 14:25

Sedlmeyer und Jutta bogen ein auf den Parkplatz vor dem Gerichtsmedizinischen Institut. Er parkte den Wagen, sie stiegen aus, dann drückte er eine Taste auf dem Autoschlüssel und schloss mit einem leisen Doppel-Piepton die Zentralverriegelung. Auf der Fahrt hatten sie kaum ein Wort gewechselt; beide waren noch immer einigermaßen mitgenommen vom Anblick der Wasserleiche und insbesondere von der Tatsache, dass hier ein so junges Mädchen in so einem entsetzlich entstellten Zustand tot aus der Isar gezogen werden musste. Sedlmeyer sah sich kurz auf dem Parkplatz um, dann fragte er Jutta:

„Meinst du, der Mommsen ist schon da mit seiner Autopanne?“ Sie sah an der Fensterfront des Gebäudes hoch, dann sagte sie:

„Muss. Wenn nicht, kill ich ihn persönlich, dann hat der Leichentransport noch einen weiteren Auftrag heute. Ich ruf ihn mal eben an, warte 'nen Moment.“ Sie drückte ein paar Tasten auf ihrem Mobiltelefon, wartete ein paar Sekunden und sprach danach kurz mit der Stimme am anderen Ende. Dann legte sie auf.

„Kommt gleich runter.“ Sie warteten schweigend fünf Minuten, dann glitt eine Schiebetüre an der Vorderseite des Gebäudes auseinander und ein kleiner, dicklicher Mann Mitte fünfzig kam heraus. Er trug einen dunklen Anzug ohne Krawatte, der oberste Hemdknopf war geöffnet. Sein blondes Haar klebte ihm in Form eines Seitenscheitels am Kopf und sein rundes Gesicht umrahmte einen voluminösen Schnauzbart. Er kam mit schnellen Schritten zu ihnen herüber und begrüßte zunächst Jutta per Handschlag.

„Morgen, Frau Hemmers,“ sagte er, dann reichte er Sedlmeyer wortlos die Hand. Der wusste nicht recht, was er sagen sollte und versuchte sich mit smalltalk:

„Wie geht’s ihrem Wagen, Herr Mommsen?“ Dafür erntete er einen vernichtenden Blick.

„Dem fabulösen ADAC sei Dank, vermutlich inzwischen besser als mir. Könnten Sie mich schonmal auf den Stand der Dinge bringen, während wir auf die Leiche warten?“ Sedlmeyer war leicht irritiert von dieser Wortwahl. Auf die Leiche warten, das hatte etwas vom Warten auf den Weihnachtsmann. Er begann, Mommsen zu informieren:

„Wie Frau Hemmers schon mit Ihnen besprochen hat, hatten wir heute morgen einen Leichenfund an der Isar. Wir haben einigen Grund zu der Vermutung, dass es sich dabei um die vor drei Wochen als vermisst gemeldete Schülerin handelt. Der Leichnam schien längere Zeit im Wasser gelegen zu haben und ist gelinde gesagt... nicht sehr ansehnlich.“ Mommsen runzelte die Stirn.

„Für die Wissenschaft gibt es kein 'ansehnlich' oder nicht, Herr Sedlmeyer. Was Ihnen vielleicht unangenehm aufgestoßen ist, sind die normalen Mazerations-Prozesse toter menschlicher Körper in wässriger Umgebung.“ Er schaute kurz auf seine Uhr, dann sah er von Sedlmeyer zu Jutta und zurück und verschränkte die Arme. Sedlmeyer fuhr fort:

„Die Kriminaltechnik war nicht in der Lage, wirklich brauchbare Spuren zu sichern. Der Zustand der Leiche ist auch nach deren Auskunft sehr dürftig, wenn man das überhaupt so sagen kann. Sie haben allerdings ein Detail gefunden, das sie nicht einordnen konnten; neben Verbissspuren von Fischen sind denen noch weitere ungewöhnliche Verletzungen im Bereich des Oberkörpers aufgefallen, die keinen natürlichen Ursprung zu haben scheinen.“ Mommsen verzog keine Miene.

„Aha. Nun ja, wir werden ja sehen.“ Er sah sich ungeduldig um. Die drei standen etwa fünf Minuten schweigsam herum, dann sahen sie wie der Leichentransport auf den Parkplatz einbog und in der Nähe der Schiebetüre zum Stehen kam. Der Fahrer und zwei weitere Männer stiegen aus und öffneten die Heckklappe, während Sedlmeyer, Jutta und Mommsen zu ihnen herüber trabten. Eine Bahre wurde ausgeladen, auf der ein länglicher schwarzer Plastiksack lag, mit einem Reißverschluss vom einen Ende zum anderen. Ein Fahrgestell unter der Bahre wurde aufgeklappt, einer der Männer kam um den Wagen herum auf sie zu und schüttelte ihnen allen die Hand. Mommsen drehte ihnen daraufhin wortlos den Rücken zu, ging zum Eingang des Instituts und bedeutete ihnen mit einer ausladenden Handbewegung, ihm zu folgen. Dort angekommen, holte er eine kleine Plastikkarte aus der Tasche und hielt sie gegen einen Sensor neben der Schiebetür, die daraufhin geräuschlos auseinander glitt. Wie ein Sankt-Martins-Umzug betraten sie das Gebäude, Mommsen voran, danach die Bahre mit der Leiche, zum Schluss Sedlmeyer und Jutta als Nachhut. Sie marschierten durch einen breiten Gang, bis sie an dessen Ende vor einer breiten Fahrstuhltür zum Stehen kamen. Mommsen holte seine Magnetkarte hervor und entriegelte den Aufzug, dessen Türe sich daraufhin langsam und mit einem leichten Quietschen öffnete. Sie betraten eine großräumige Kabine, die sie in den Keller beförderte. Dort gingen sie einen Gang entlang, bogen um ein paar Ecken, marschierten durch die verschachtelten Eingeweide des Gebäudes und gelangten schließlich zu einer breiten Türe, die Mommsen öffnete. Sie traten ein und fanden sich in einem kühlen, hell erleuchteten Saal mit gekacheltem Fußboden wieder, in den in regelmäßigen Abständen Abflüsse eingelassen waren. Mommsen wartete, bis alle drin waren, dann schloss er die Tür. In der Mitte des Saales waren in einigem Abstand vier Stahltische montiert, jeder davon ausgestattet mit einem Auffangbecken am einen Ende und einem verschiebbaren Tablett auf Schienen, auf dem diverse chirurgische Werkzeuge lagen. Seitlich an jedem der Tische war ein Wasserschlauch angebracht mit einem Brausekopf am Ende. Mommsen ging zu einem Schrank an der Wand, öffnete ihn und entnahm ihm einen grünen Kittel, den er sich überstreifte. Dann zog er ein paar Latexhandschuhe aus einer Vorratspackung und steckte sie sich in die Kitteltasche. Dabei rief er den Männern mit der Bahre über die Schulter zu:

„Bitte zuerst zur Waage“. Die fuhren daraufhin im Zickzack durch die Obduktionstische zu einer stählernen Platform an der gegenüber liegenden Seite des Saales und hievten den schwarzen Plastiksack darauf. Mommsen kam zu ihnen herüber. Er setzte seine Brille auf, ein rahmenloses Modell mit rechteckigen Gläsern, und holte ein kleines Diktiergerät aus seiner Kitteltasche, an dem eine Schlaufe befestigt war. Er schaltete es ein, was ein paar ratlose Versuche mit den falschen Schaltern und ein Stirnrunzeln erforderte, dann hängte er sich das Diktiergerät mit der angebrachten Schlaufe um den Hals. Er begann, vor sich hin zu sprechen:

„Leichenschau, Pathologisches Institut der LMU München, Sonntag der 8. Juni 2008, Beginn“ er sah kurz auf seine Armbanduhr, „vierzehn Uhr zweiundfünfzig. Obduzent Prof. Dr. Christian Mommsen. Gewicht des Leichnams bei Einlieferung:“ Er beugte sich zu der Waage hinüber, auf dem der schwarze Plastiksack lag und las ab:

„58,8 Kilogramm. Außerdem anwesend: die Kriminalkommissare Hemmers und Sedlmeyer.“ Dann stoppte er das Diktiergerät, nahm seine Brille ab, hielt sie an einem Bügel in der rechten Hand, drehte sich zu den Männern vom Leichentransport um und sagte:

„Bitte auf Tisch eins rüber“. Die wuchteten den schwarzen Sack daraufhin wieder auf ihre Bahre und fuhren zu dem ihnen genannten Obduktionstisch. Dort zogen sie den Reißverschluss des Plastiksacks auf. Sedlmeyer, der mit Jutta in der Nähe des Tisches stand, drehte sich augenblicklich der Magen um; penetrant breitete sich ein unangenehmer, fauliger Geruch aus und nahm ihnen den Atem. Die Männer hatten sich derweil Latexhandschuhe angezogen und hoben den Leichnam mit ausdruckslosen Gesichtern auf den Obduktionstisch. Dann verschlossen sie den Sack. Zwei von ihnen fuhren mit der nun leeren Bahre Richtung Ausgang und warteten dort. Der dritte holte ein Klemmbrett hervor und bat Sedlmeyer und danach Mommsen um eine Unterschrift. Dann verabschiedete auch er sich und ging zur Tür, wo seine Kollegen auf ihn warteten und verließ mit ihnen zusammen den Saal. Mommsen setzte seine Brille auf, schaltete das Diktiergerät wieder auf Aufnahme und begann, die Leiche sorgsam zu betrachten, indem er langsam den Obduktionstisch umrundete. Währenddessen zog er geistesabwesend die Latexhandschuhe aus seiner Kitteltasche, streifte sie sich über und sprach vor sich hin:

„Vorliegender Leichnam ist weiblich und nach visuellem Erstbefund ca. zwölf bis achtzehn Jahre alt. Deutliche Ausprägung von Waschhaut an den Handinnenflächen deutet auf längeren Aufenthalt in wässriger Umgebung hin. Epidermis teilweise abgelöst, Capilli fehlend, ausgeprägte autolysebedingte Verfärbung der Rumpfhaut. Abdomen stark aufgebläht.“ Dabei betastete er mit einer Hand den gewölbten Bauch der Toten. Dann betrachtete er eine Weile eine Stelle am Oberkörper und fuhr fort:

„Möglicherweise Bisspuren im Bereich des Sternums und der Carotis, postmortal, offenbar tierischen Ursprungs. Interessant...“ Er beugte sich tiefer und betastete aufmerksam den Bereich um die Halsschlagader. Sedlmeyer wagte einen vorsichtigen Blick. Mommsen fuhr fort:

„Druckhämatome im Bereich des fünften Halswirbels, vermutlich prämortalen Ursprungs.“ Er richtete sich auf, stoppte sein Diktiergerät und sah Sedlmeyer an. Der machte ein fragendes Gesicht, hob die Schultern, schaute erst Jutta und dann wieder Mommsen an.

„Was bedeutet das genau?“ wollte er wissen.

„Es sieht so aus, als ob vor dem Tod lokal begrenzte Gewalteinwirkung im Bereich des Halses stattgefunden hätte.“ Sedlmeyer sah genauer hin, konnte allerdings auf der grünschwarz verfärbten Haut nichts spezielles erkennen.

„Das heißt...“ Er überlegte einen Moment, „Könnte das heißen, sie ist erwürgt worden?“

„Das kann ich jetzt noch nicht beurteilen. Für die genaue Todesursache müssten Sie bitte meinen Abschlussbericht abwarten.“ Sedlmeyer's Aufmerksamkeit war sprunghaft angestiegen. Das war der erste brauchbare Hinweis in seinem neuen Fall. Er deutete auf die Tote.

„Können Sie irgendwas zu den Verletzungen sagen, die nicht von den Fischen stammen?“ Mommsen schaltete das Diktiergerät wieder ein, dann machte er sich am Brustkorb der Leiche zu schaffen. Eine Weile betastet er die Haut, dann nahm er eines der silbern glänzenden Instrumente zur Hand, die auf dem verschiebbaren Tablett am Ende des Obduktionstisches lagen und begann, damit einen ca. zwei Zentimeter langen Riss in der verfärbten Haut zu untersuchen. Dann legte er das Instrument zurück und fuhr fort, zu diktieren:

„Mehrere transfaziale Inzisionen, anterior im Brustbereich und an den Oberarmen, Länge im Zentimeterbereich, geringe Ausfransung. Beginnender Wundverschluss deutet auf prämortale Applikation hin.“ Sedlmeyers Neugier gewann endgültig die Oberhand über sein mulmiges Gefühl und er setzte an zu fragen:

„Was...“ Mommsen hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. Dann nahm er eine Pinzette zur Hand und holte damit ein winziges Stückchen aus dem Einschnitt, den er gerade untersucht hatte, legte es in eine ovale Metallschale und schaltete sein Diktiergerät aus. Sedlmeyer sah ihn verblüfft an. Mommsen nahm seine Brille ab und begann zu erklären:

„Diese Verletzungen sind definitiv menschlichen Ursprungs. Sie müssen von einem sehr scharfen Gegenstand verursacht worden sein, wahrscheinlich von einem Skalpell. Und sie sind mit hoher Wahrscheinlichkeit prämortal.“ Sedlmeyer war elektrisiert. Der zweite brauchbare Hinweis. Sosehr er Mommsen auch manchmal an die Wand klatschen konnte, der Mann war gut.

„Was ist das, was Sie da eben rausgeholt haben?“ fragte Jutta.

„Ein noch unbestimmter Fremdkörper. Der Laborbericht wird Ihnen Aufschluss über die Beschaffenheit geben.“

„Kann das Ding zufällig in die Wunde gelangt sein? Also, ich meine, als die Leiche bereits im Wasser lag?“ wollte Sedlmeyer wissen.

„Kaum. Der Fremdkörper befand sich subfaszial in den oberen Fettgewebeschichten. Ein zufälliges Eindringen von außen ist sehr unwahrscheinlich. Es ist im Gegenteil anzunehmen, dass er manuell dort hin verbracht wurde.“ Jutta schickte ihm einen kecken Augenaufschlag und fragte:

„Prämortal?“ Sedlmeyer's sah sie mit offenem Mund an. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich und ließ die Andeutung eines Lächelns erkennen. Diesen Fachausdruck für 'vor dem Tod' hatten sie nun schon zum dritten Mal in den letzten paar Minuten gehört und er war amüsiert darüber, wie Jutta sich erdreistete, Mommsen mit seiner eigenen Terminologie zu Leibe zu rücken. Der setzte seine Brille wieder auf, verzog keine Miene und antwortete:

„Das ist schwer zu sagen. Dazu müssen wir den Laborbericht abwarten. Wir werden einen histologischen Befund des fraglichen Wundgewebes anfertigen und eine mikroskopische Analyse des Fremdkörpers. Damit lässt sich dann mit etwas Glück Ihre Frage beantworten.“ Sedlmeyer beugte sich über die kleine Metallschale, in welcher der besagte Fremdkörper lag. Er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was das Ding sein sollte. Es war oval, etwa zwei Millimeter lang und von schwarzbrauner Farbe. Mommsen hatte derweil sein Diktiergerät wieder eingeschaltet und ging um den Tisch herum, um den Rest der Leiche in Augenschein zu nehmen. Er nahm ein kleines Tuch vom Tablett und bespritzte es mit einer scharf riechenden Flüssigkeit aus einer Plastikflasche, dann fing er an, eine Stelle an der Hüfte damit zu reinigen. Er beugte sich ganz nahe zu der besagten Stelle, sah sie sich genau an und betastete das umliegende Gewebe. Dann diktierte er:

„Mögliche Anzeichen einer exogenen Dermatitis, caudal, betreffend die unteren Extremitäten und Teile des Abdomens.“ Er betastete noch eine Weile verschiedene Hautbereiche, dann richtete er sich auf, stoppte er sein Diktiergerät und winkte Sedlmeyer herbei.

„Sehen Sie das?“ fragte er und deutete auf die Stelle, die er soeben gereinigt hatte. Sedlmeyer schaute genau hin. Er konnte in all der Verwüstung überhaupt nichts erkennen, was ihm bemerkenswert erschienen wäre.

„Ähh, also um ehrlich zu sein... nicht so wirklich“ antwortete er. Der Pathologe verschränkte die Arme und sah ihn an.

„Das Aderngeflecht, welches, wie bei Wasserleichen üblich, deutlich durch die Oberhaut scheint, ist abwärts des Bauchnabels weniger scharf umrissen und nicht so kontrastreich wie am Oberkörper. Das deutet darauf hin, dass es dort eine spezifische Abnormität im Hautbild gegeben hat. Ich vermute eine entzündliche Veränderung der Epidermis, da die hämatologischen Fäulnisprozesse in den entzündeten Hautschichten die farbliche Abgrenzung zu den unterliegenden Gefäßen erschweren würden.“ Sedlmeyer schaute verwirrt.

„Äh, könnten Sie das nochmal...“

„Sie hatte mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Haut-Entzündung, oder irgend ein Ekzem, das, so wie es aussieht, beim Unterbauch beginnt und sich bis zu den Füßen erstreckt.“ Sedlmeyer war perplex. Er sah Jutta an, der es ähnlich zu gehen schien. Dann fragte er Mommsen:

„Haben Sie irgend eine Idee, was das verursacht haben könnte? Bzw. ist das für uns relevant? Könnte es vielleicht viel älter sein, als drei, vier Wochen?“ Mommsen nahm seine Brille ab und grübelte einen Moment.

„Das ist durchaus möglich. Wir werden, wie schon gesagt, genauere Untersuchungen im Labor machen, aber den Entstehungszeitpunkt der Entzündung – falls es denn eine ist – werden wir wahrscheinlich nicht präzise bestimmen können.“ Sedlmeyer knetete mit seiner rechten Hand seine Linke. Er fühlte deutlich, dass er langsam aber sicher hier raus musste. Dann wandte er sich wieder Mommsen zu und fragte:

„Ich weiß, das werden Sie jetzt nicht hören wollen, aber haben Sie eine ungefähre Abschätzung, was den Todeszeitpunkt anbelangt? Nur eine ganz grobe?“ Diese Frage, gleich zu Anfang einer Obduktion gestellt, war seiner Erfahrung nach bei Gerichtsmedizinern in der Tat eine sehr unbeliebte. Was auch verständlich war: die wollten ihre Arbeit machen, gründlich und in Ruhe und konnten dabei keine nervenden Kriminalbeamten gebrauchen, die einfach nicht begreifen wollten, dass für eine exakte Auskunft zahlreiche Untersuchungen vonnöten waren, die nicht in fünf Minuten zu machen waren. Doch Mommsen wirkte nicht besonders verärgert.

„Das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abzuschätzen. Ich muss für eine möglichst präzise Auskunft die Liegezeit im Wasser ermitteln, dann werde ich die exakten Wassertemperaturen der Isar in den letzten Wochen benötigen, die müssen beim Wasserwirtschaftsamt angefragt werden. Zudem müssen die inneren Organe und das Gehirn entnommen und ihr autolytischer Zustand bestimmt werden...“ Sedlmeyer bekam bei dieser Vorstellung ein äußerst flaues Gefühl im Magen und er unterbrach:

„Äh, ja, selbstverständlich. Nur eine ganz ganz grobe Schätzung vielleicht?“ Mommsen überlegte kurz, dann sagte er:

„Basierend auf meinen Erfahrungswerten würde ich schätzen, irgendwas zwischen zwei und vier Wochen.“ Das war der nächste brauchbare Hinweis und Mommsens Erfahrung ließ versprechen, dass die Schätzung ziemlich gut sein würde. Sedlmeyer warf einen kurzen Blick zu Jutta, die nicht glücklich aussah. Dann sagte er:

„Herr Mommsen, bevor wir Sie jetzt gleich in Ruhe Ihre Arbeit machen lassen – was ist Ihr spontaner erster Eindruck?“ Das schien dem Pathologen dann doch auf die Nerven zu gehen und er antwortete kurz angebunden:

„Ich kann dazu im Moment nichts sagen. Ich werde Sie per mail informieren, wenn ich mehr weiß, auch was den Todeszeitpunkt anbelangt. Sie bekommen meinen Bericht, sobald er fertig ist.“ Darauf wäre Sedlmeyer auch von selbst gekommen. Bevor er Mommsen die Hand zum Abschied hin streckte sagte er:

„Selbstverständlich. Vielen Dank für ihre Hilfe, Herr Mommsen. Wir werden uns in den nächsten Tagen bei ihnen melden.“ Der hob nur seine Latex-behandschuhten Hände zum Gruß und sagte:

„Ja ja. Sie finden ja selbst hinaus nehme ich an.“

Draußen angekommen, standen sie noch eine Weile beim Wagen, Sedlmeyer den Schlüssel schon in der Hand und bereit zum Aufsperren, und besprachen, was sie eben gehört hatten.

„Was hältst du davon?“ fragte er. Jutta antwortete in gereiztem Ton:

„Na was schon. Sieht ganz nach Schema F aus. Junges Mädchen wird von Triebtäter entführt und missbraucht. Danach erwürgt er sie und wirft sie in die Isar. Mann! Ich könnte echt kotzen, ich kann solche Fälle gar nicht gut ab!“ Sedlmeyer sah geistesabwesend über den Wagen hinweg in die Ferne. Dann sagte er:

„Irgendwie glaube ich das nicht.“ Jutta empörte sich:

„Ach komm schon! So läuft das doch immer. Und das schlimme ist: es wird eine Ewigkeit dauern bis wir diesen Wichser haben, wenn überhaupt!“ Sedlmeyer grübelte eine Weile, dann sah er sie an.

„Ja, es spricht einiges dafür, dass du recht hast... Aber irgendwas passt hier nicht. Das Ding, das Mommsen aus dem Einschnitt geholt hat. Die Entzündung an den Beinen... Wenn die nach der Entführung entstanden ist, das wäre ja schon sehr merkwürdig...“ Jutta zuckte die Schultern.

„Das kriegen wir morgen in fünf Minuten raus, da brauchen wir nur die Angehörigen zu fragen, ob das Mädchen irgend ein Ekzem oder sowas hatte, das denen bekannt war.“

„Ja da hast du recht... Jutta, mir ist zwar der Appetit gründlich vergangen in Mommsens Grusel-Kabinett, aber mir fällt ein, ich hab den ganzen Tag noch nichts gegessen. Du?“

„Nee, Sedi, wenn ich's mir recht überlege. Wollen wir was essen gehen?“ Sedlmeyer sah kurz auf seine Armbanduhr.

„Was hältst du davon, wenn wir zuvor kurz im Präsidium vorbei schauen und schonmal den Papierkram aufsetzen, dann können wir morgen früh gleich mit der richtigen Arbeit anfangen. Der Tag heute ist eh schon im Arsch und um ehrlich zu sein, ein bisschen Ablenkung täte mir ganz gut und dir wahrscheinlich auch?“ Jutta's Gesicht hellte sich ein wenig auf.

„Das ist ne super Idee, Sedi. Jetzt sofort was essen, das wär vielleicht auch 'n büschen derbe oder?“ Sie lächelte matt. Sedlmeyer klopfte ihr auf die Schulter, dann entriegelte er den Wagen mit einem doppel-Piep.

Auf der Fahrt zum Präsidium sprachen sie so gut wie kein Wort. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken und versuchte, das zuvor Erlebte auf seine Art zu verarbeiten. Sedlmeyer nestelte geistesabwesend am Autoradio herum und suchte den nächst besten Sender. Ein unerträglich fröhlicher berufsjugendlicher Spaßvogel moderierte den nächsten Song an:

„...das war 'Summer in the City', genau der passende Song an diesem Sonntag. Hallo München, wir haben sie, die sonnigsten Hits der Stadt und der nächste Titel ist wieder ein Hörerwunsch. Die Carola aus Ottobrunn schreibt uns: 'Liebes Radio Sunshine Team! Ihr müsst unbedingt Rusty Cage für meinen Schatz spielen, der leider im Krankenhaus liegt.' Liebe Carola, das machen wir gerne und wünschen deinem Schatz auf diesem Wege gute Besserung. Allerdings haben wir zwei Versionen von Rusty Cage, nämlich das Original von Soundgarden und die geniale Cover-Version von Johnny Cash. Die spielen wir jetzt für euch...“ Sedlmeyer hatte nur mit einem Ohr hingehört, aber der letzte Satz war ihm dann doch aufgefallen. Wie war das? Er war sich immer sicher gewesen, dass das Original von Johnny Cash und die Cover-Version von Soundgarden war. Gestern noch hatte er kurz über diesen Song nachgedacht, als er abends in der Kneipe mit dem fragwürdigen DJ gesessen und mit dessen Musikauswahl gehadert hatte. Nun ja, wieder was gelernt.

Auf dem Parkplatz vor dem Präsidium angekommen, parkten sie den Wagen auf seinem Stellplatz, betraten das Gebäude, und fuhren mit dem Lift in den viertem Stock, in dem sich ihr Büro befand. Sedlmeyer als Teamleiter hatte seinen eigenen Raum, dessen Türe er allerdings immer offen ließ, um die Nähe zu seinen Mitarbeitern zu wahren. Jutta teilte sich mit den anderen zwei Teammitgliedern den angrenzenden größeren Raum.

„Willste auch nen Kaffee?“ fragte sie.

„Bullen trinken doch immer Kaffee oder nicht?“ antwortete Sedlmeyer. „Ja, bitte mach mir auch einen,“ sagte er lächelnd. Jutta verschwand in der Kaffeeküche, während Sedlmeyer seinen Computer startete und einen leeren Leitz-Ordner aus einem Aktenschrank holte. Dann suchte er eine Weile ein paar PDF-Dokumente auf seinem Rechner zusammen, die er anschließend zum Drucker schickte. Derweil war Jutta mit zwei dampfenden Tassen Kaffee erschienen. Sedlmeyer bedankte sich und nippte kurz. Jutta tat es ihm nach und verzog leicht das Gesicht.

„Sag mal, schmeckt dir diese Plörre eigentlich, Sedi?“ Sedlmeyer stand auf und ging zum Drucker, mit Jutta im Gefolge.

„Naja, es geht so?!?“ antwortete er.

„Wenn du mich fragst, brauchen wir hier endlich mal ne ordentliche Kaffeemaschine. Diese Brühe hier is echt eklig. So 'n schnieken lütten Espresso, damit könnte ich gleich viel besser arbeiten...“ Sedlmeyer nahm die Blätter aus dem Drucker und grinste:

„Schniek und lütt, aha... Ich schau mal, vielleicht lässt sich sowas ja mal organisieren.“ Er hielt ihr eines der ausgedruckten Blätter hin.

„Kannst du das mal eben ausfüllen? Ich hock mich währenddessen hin und mach die grobe Planung für morgen.“ Sie setzten sich an ihre Schreibtische und erledigten während der nächsten Stunde ihren Papierkram. Dann heftete Sedlmeyer die ausgefüllten Blätter in den bereitstehenden Ordner und schlug vor, endlich etwas essen zu gehen:

„Nach was steht dir der Sinn? Italiener? Mir ist es eigentlich egal.“ Jutta überlegte kurz. Dann sagte sie:

„Kennst du das Bobolovsky in Schwabing? Die haben alles mögliche und da schmeckt's eigentlich ganz gut.“ Sedlmeyer war einverstanden:

„Ok, ist mir recht, dann lass uns da hinfahren.“

Sie fuhren mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Münchner Freiheit, von wo aus das Restaurant ihrer Wahl zu Fuß lediglich ein paar Meter entfernt lag. Dort angekommen, suchten sie sich einen Tisch und stellten fest, dass das Lokal ziemlich gut besucht war und an mindestens drei Seiten große Leinwände aufgespannt waren. Sedlmeyer ging ein Licht auf: heute war ja das Deutschland-Spiel, von dem ihm die Kölner gestern im Biergarten erzählt hatten. Er sagte zu Jutta, die gerade die Speisekarte studierte:

„Heute spielt Deutschland gegen Polen. Könnte knapp werden, die Polen haben einen sehr guten Torwart.“ Die sah irritiert zu ihm auf und runzelte die Stirn.

„Seit wann bitte hast du denn eine Ahnung von Fußball, Sedi?“ Er lächelte überlegen und sagte:

„Wenn du wüsstest, von was ich alles eine Ahnung habe!“ Jutta schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihrer Speisekarte. Nachdem sie bestellt hatten – Sedlmeyer ein Radler plus Chicken Burger und Jutta eine Apfelschorle mit Wiener Schnitzel – schlug er vor, im Anschluss noch das Fußballspiel anzuschauen. Jutta war einverstanden. Deutschland gewann das Spiel gegen Polen mit 2 : 0. Beide Tore schoss Lukas Podolski, das eine in der 20. und das andere in der 72. Minute. Er hatte nicht absichtlich daneben geschossen, wie sein Kölner Landsmann gestern noch im Biergarten prophezeit hatte.

Der Gärtner war der Mörder

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