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Auf dem Viktualienmarkt II

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Samstag, 7. Juni 2008, 21:15

„Wäjsse, wat de mal mache muss', Kolleje! Do jehsse in Köln in ne Knäjpe un denn pfeifste de Köbes her und bestells' dir en Alt! Un' denn guckste, wat passiert!“. Die drei Rheinländer lachten sich kaputt. Ausgehend von der vorhergehenden Unterhaltung konnte sich Sedlmeyer in etwa vorstellen, was passieren würde. Sie waren im Laufe ihres Gespräches auf die diversen Hasslieben zu sprechen gekommen, die sich zwischen Nachbarn so entwickeln konnten. Sie waren zunächst bei den Österreichern gelandet, da die drei wissen wollten, was sie in Klagenfurt zu erwarten hätten, wenn sie am Donnerstag zu ihrem EM-Spiel dorthin aufbrechen würden. Sedlmeyer hatte ihnen erklärt, dass es hierzulande Tradition sei, die Österreicher durch den Kakao zu ziehen, während es bei denen üblich war, die benachbarten Deutschen zu veräppeln und dass das ganze gerade deshalb ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sei. Darauf hin hatten ihm die drei Kölner ausführlich erklärt, dass ähnliches auch auf Köln und Düsseldorf zuträfe allerdings ohne jede Verbundenheit. Was also würde passieren, wenn man in einer Kölner Kneipe ein Düsseldorfer Altbier bestellte? Man flog mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Stelle raus. Sedlmeyer grinste und trank seinen letzten Schluck Bier aus. Schon seit einiger Zeit kreisten seine Gedanken um seine neue CD. Er hätte sie zu gerne so schnell wie möglich angehört. Er hatte eine hochwertige Stereoanlage zuhause, der einzige wirkliche Luxus, den er sich gönnte und einen sündhaft teuren Kopfhörer. Sich in der lauen Sommernacht auf den Balkon und den Kopfhörer auf den Kopf setzen, eine Zigarette drehen und ein seltenes Pantera bootleg anhören, das erschien ihm gerade extrem verlockend. Dann kam ihm noch ein anderer Gedanke. Was wäre, wenn er zuvor noch ein wenig andere – natürlich längst nicht so gute – Musik hörte, und sich den ultimativen Genuss noch ein bisschen aufhob? Das war so eine Sache mit den Genüssen: sollte man sie packen, sich ihnen ergeben, so schnell und wann immer es ging? Oder sollte man sie sich aufheben, die Vorfreude genießen und die Erwartung wachsen lassen? Eine Frage, die sie einmal unter den Kollegen in der Kantine beim Mittagessen diskutiert hatten, lautete: „Wenn du zwei Zutaten auf deinem Teller hast, eine schmeckt dir wahnsinnig gut und die andere nicht ganz so gut, welche isst du zuerst?“. Die Antworten waren unterschiedlich ausgefallen; die einen würden das schmackhaftere Gericht sofort aufessen und das andere erst danach, während die anderen sich den Leckerbissen bis zum Schluss aufhoben. Sedlmeyer war einer der letzteren gewesen. Er hatte einen Plan gefasst. Er würde die drei Kölner ihrem Schicksal überlassen, das wahrscheinlich unter anderem darin bestand, dass sie am nächsten Tag einen saumäßigen Kater haben würden, und noch in eine Kneipe gehen. Sie hatten ihm zuvor erzählt, „höjte nochmal rischtisch Party machen“ und die Münchner Club-Szene auskundschaften zu wollen. Ob das mit dem Auskundschaften erfolgreich funktionieren würde, konnte man so oder so sehen; schließlich hatten sie jeder schon ungefähr vier Mass intus. Sedlmeyer stand auf, zog seine Jacke an, klopfte dem grantigen Alten neben sich auf die Schulter und wünschte den Rheinländern viel Spaß bei ihrem weiteren München-Aufenthalt. Die waren empört über sein frühes Aufbrechen:

„Kollege, du willst doch nicht etwa schon gehen? Bleib da, wir gehen später noch ins null-acht-neun, da kommste mit!“, sagte der erste.

„Würd ich ja gerne machen, aber ich kann nicht. Daheim wartet meine Frau mit dem Nudelholz auf mich“, antwortete Sedlmeyer und grinste verschwörerisch. Das war rundheraus gelogen; weder hatte er eine Frau, noch hatte die ein Nudelholz. Die einzige Dame, die auf ihn wartete, hieß Pantera und war eine US-Amerikanische Band aus Fort Worth, Texas, die richtungsweisende Einflüsse auf den modernen Heavy-Metal hervorgebracht hatte.

„Lass di nüt verkloppe von deine Frau! Et hät no immer joot jegange, Kolleje!“ riet ihm der dritte Kölner. Sedlmeyer hob die Hand zum Gruß und bahnte sich seinen Weg durch den Biergarten. Er wollte noch in eine Kneipe in der Nähe gehen, in der sie normalerweise halbwegs ordentliche Rockmusik spielten und dort noch ein Bier trinken, bevor er nach Hause fahren und sich genussvoll seiner neuen CD widmen würde. Dass er am morgigen Sonntag ausschlafen konnte, war ein weiteres Detail, das seine Laune ansteigen ließ – sein Beruf brachte es mit sich, dass er unter der Woche sowieso und oft auch an den Wochenenden unter großer Anspannung stand, präzise Entscheidungen zu treffen und sich mit bürokratischen Hürdenläufen zu beschäftigen hatte. Da kam ihm ein Samstag Abend wie dieser gerade recht: ein bisschen mit den angetrunkenen Biergarten-Nachbarn herumzualbern war eine nette Abwechslung zu den investigativen, folgenschweren und sachlichen Gesprächen, die er sonst so zu führen hatte. Gespräche zu führen, sich in den anderen hineinzuversetzen und ihn letztlich auch so zu manipulieren, dass er am Ende da stand, wo man ihn haben wollte, das war im Grunde genommen die Hauptbeschäftigung eines Kriminalbeamten. Sedlmeyer war gut in diesem Geschäft und sein Beruf erfüllte ihn die meiste Zeit mit der Genugtuung, seine Fähigkeiten der Gesellschaft zur Verfügung gestellt zu haben. Heute allerdings war er nicht in der Stimmung, bedeutungsschwere Unterhaltungen zu führen und freute sich auf ein bisschen Musikgenuss ohne dazu etwas sonderlich raffiniertes beitragen zu müssen. Er schloss sein Fahrrad auf.

Sedlmeyer radelte langsam und entspannt durch die abendliche Stadt. Über die Reichenbachstraße gelangte er zum Gärtnerplatz, dem kreisrunden Zentrum des gleichnamigen Viertels, mit bunten Blumenbeeten und einem steinernen Brunnen in der Mitte. Rundherum waren Bänke aufgestellt, auf denen schwatzende Studenten saßen und Bier tranken. Im Sommer war der Platz Anlaufstelle für zahlreiche Nachtschwärmer, die den Abend im Freien beginnen und später in einer der zahlreichen Kneipen des benachbarten Glockenbachviertels fortsetzen wollten. Sedlmeyer hatte einen Moment lang das Bild eines Germknödels vor Augen, über den schwarze Mohnsamen gestreut waren, als er die vielen Menschen über den kreisrunden Platz verteilt sitzen sah. An einer Seite des Platzes befand sich das Gärtnerplatz-Theater, ein spätklassizistischer Bau aus den 1860er Jahren, vor dessen Eingang sich eine Treppe breit machte, übersät mit ausgelassenen Jugendlichen. Sedlmeyer überlegte kurz, wie es wäre, selbst wieder Student zu sein, mit Kumpels hier zu sitzen und sich nicht mit dem Gedanken zu belasten, was morgen und übermorgen passieren würde. Wahrscheinlich würden sie sich gegenseitig schlechte Witze erzählen, sich über die unverständliche Vorlesung von Professor soundso beschweren und Frauengeschichten diskutieren. Mit den Frauen war das so eine Sache. Hier hatte er in der letzten Zeit gar kein gutes Händchen gehabt; irgendwie war ihm alles misslungen, was er in dieser Hinsicht versucht hatte, anzustellen. Wann war er das letzte Mal wirklich verliebt gewesen? Vor einer Ewigkeit. Wann war er das letzte mal überhaupt irgendwie in die Nähe einer Frau geraten? Auch schon bedenklich lange her. Dabei war er durchaus nicht unattraktiv: groß und dunkelhaarig, keinerlei Ansatz zur Glatzenbildung, trotz seiner 39 Jahre und eine einigermaßen sportliche Figur. Er nahm sich vor, das Thema hier und jetzt nicht zu durchdenken, Musik wollte gehört und ein Bier wollte getrunken werden. So radelte er weiter, bis er zur Reichenbach-Brücke kam, die über die Isar führte. Die Isar war so etwas wie die erholungstechnische Hauptschlagader Münchens. Im Süden, in den Isarauen rund um den Flaucher, wurde im Sommer gegrillt was das Zeug hielt, die halbe Stadt versammelte sich dann zum relaxen, Musik machen, sonnenbaden und Frisbee spielen. Die Münchner Polizei war dafür verantwortlich, die Lärm- und Brandschutzbestimmungen im Auge zu behalten und all zu eifrige Grillmeister auf die selbigen aufmerksam zu machen; ein bisschen albern, wie Sedlmeyer persönlich fand. Aber so war das nunmal mit der Bayerischen Bürokratie. Vor ein paar Jahren hatten sie selbst einmal im Kollegenkreis eine kleine Isar-Party organisiert: ein Kasten Bier, zwecks Kühlung im Fluss versenkt, ein kleines Lagerfeuer und Schweinenackensteaks zum grillen. Seine Kollegin hatte noch eine riesige Schüssel Nudelsalat beigesteuert. Irgendwann war dann eine Patrouille, bestehend aus zwei Mann auf Mountainbikes vorbei gekommen und hatte sie darauf hingewiesen, dass sie diverse Bestimmungen verletzen würden und sie angewiesen, das Feuer sofort auszumachen. Nicht ohne eine gewisse schelmische Genugtuung hatte Sedlmeyer den Kollegen daraufhin seinen Dienstausweis unter die Nase gehalten und sie gefragt, ob sie nicht Lust hätten, sich dazu zu setzen. Die hatten sich daraufhin wortreich entschuldigt und waren wieder abgezogen.

Er überquerte die Brücke, radelte noch ein paar Meter die Ohlmüllerstraße entlang und stellte sein Fahrrad vor dem Schwarzen Hahn ab, dem Ziel seiner Reise. Es war eine ganze Weile her, dass er das letzte mal hier gewesen war; der Verkäufer aus seinem Lieblings-Plattenladen hatte ihm damals den Tip gegeben, „unbedingt mal in den Hahn schauen“ zu müssen, weil der seinen musikalischen Vorlieben gut zupass kam. In der Tat hatte er den Laden von damals in ganz guter Erinnerung behalten, es war ein Abend mit lauter und harter Rockmusik gewesen. Sedlmeyer betrat den unscheinbaren Eingang und sah sich um. Die Kneipe war mittelgroß und in zwei Bereiche unterteilt: auf der rechten Seite befand sich dem Eingang gegenüber die Bar, die sich L-förmig nach rechts fortsetzte, mit dem DJ-Pult am rechten Ausleger. Die linke Hälfte des Lokals bestand aus einer quadratischen Tanzfläche, die von Bänken eingerahmt war, davor eine Fensterfront. Die Bänke waren besetzt, auf der Fläche in der Mitte standen vier junge Männer in schwarzen T-Shirts, mit Bierflaschen bewaffnet, und unterhielten sich. Sedlmeyers Blick schweifte nach rechts: der linke Barhocker war vakant, die drei daneben besetzt. Er ging zu dem leeren Barhocker und setzte sich. Die Bedienung, eine hübsche junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, unterhielt sich mit den drei Nachbarn zur rechten, während sie Gläser spülte. Sedlmeyer lauschte eine Weile der Musik und wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Das hatte etwas rockiges, etwas treibendes, durchaus diskussionswürdig, aber irgendwie... Waren da etwa Country-Einflüsse? Mit Country konnte er nun so rein gar nichts anfangen. Soviel er wusste, hatten Soundgarden einmal „Rusty Cage“ von Johnny Cash gecovert, darüber ließ sich reden, aber das hier war nicht seine Baustelle. Plötzlich fiel ihm auf, dass sich die Bedienung zu ihm über die Bar gebeugt hatte und ihn fragend anlächelte. Er lächelte zurück und bestellte.

„Ein Bier bitte.“

„Augustiner, Tegernseer, Becks, Becks Gold,...“, zählte sie auf.

„Ein Augustiner, bitte“, sagte Sedlmeyer. Die Bedienung drehte sich um, öffnete einen Kühlschrank und holte eine Flasche heraus. Derweil waren ihm die Aschenbecher aufgefallen, die in regelmäßigen Abständen über die Bar verteilt waren.

„Darf man bei euch jetzt eigentlich wieder rauchen?“ fragte er, als sie ihm sein Bier hinstellte.

„Bei uns hat man schon immer rauchen dürfen“, sagte sie lächelnd, „macht drei Euro bitte“. Sedlmeyer zahlte und holte eine Packung Schwarzer Krauser aus seiner Jackentasche. Die Geschichte mit dem Rauchverbot war eine unübersichtliche: vor einem halben Jahr als ausnahmslose Regelung für alle Gaststädten im Freistaat eingeführt, hatten sich bald danach juristische Schlupflöcher aufgetan, die in der Regel mit sogenannten Raucherclubs und Mitgliedsausweisen zu tun hatten. Sedlmeyer hatte kürzlich eine interessante Geschichte in der Süddeutschen gelesen, über ein Lokal in Hamburg, in dem sie sich eine weitere Ausnahmeregelung zunutze gemacht hatten: da bei Theateraufführungen den Schauspielern das Rauchen nicht verboten werden konnte, deklarierte der Wirt kurzerhand alle seine Gäste zu Laiendarstellern in einem Theaterstück. Wie der Schwarze Hahn die Sache allerdings im Moment regelte, war ihm schleierhaft. Er begann sich eine Zigarette zu drehen, während er der Musik lauschte. Es wurde nicht besser. Zwar immer noch rockig, aber viel zu langsam und mit einem äußerst penetranten Blues-Einfluss. Aber egal, Pantera würde es wieder richten, später, bei ihm zuhause. Er drehte die Zigarette fertig, zündete sie an, und sah der Bedienung beim Abspülen zu. So saß er eine Weile da, nippte an seinem Bier, hörte mit gemischten musikalischen Gefühlen dem DJ zu und rauchte. Plötzlich ein Geräusch: ein mattes, gläsernes „klock“. Eine Bierflasche hatte sich der seinen genähert und mit ihr angestoßen; sein Barhocker-Kollege zur rechten hatte sich zu ihm herum gedreht und prostete ihm zu. Sedlmeyer nahm den Nachbarn in Augenschein: ein relativ großer, massiger Typ mit schütteren, zurück gekämmten Haaren, die in Sachen Fülle und lückenlose Kopfbedeckung schon wesentlich bessere Zeiten gesehen hatten. Seine Nase war grobporig, blau geädert und merklich gerötet – untrügliches Zeichen einer soliden Trinkervergangenheit. Sedlmeyer taxierte ihn kurz und schätzte ihn auf Mitte vierzig, wobei langjähriger Alkoholgenuss auf solche Altersbestimmungen oft einen irreführenden Effekt hatte. Der Rotnasige sah ihn aus wässrigen graublauen Augen an und eröffnete ein Gespräch:

„Super Sound, oder? Des is amal richtig erdiger Rock! Is aus den siebzigern, weißt schon. Des war'n noch Zeiten, wo man anständige Musik g'macht hat und nicht so einen Elektro-Scheiß wie'st ihn heutezutage überall kriegst!“ Sedlmeyer war da überwiegend anderer Ansicht. Was den sogenannten Elektro-Scheiß anbelangte, hatte der Mann in seinen Augen nicht unrecht – er selbst konnte damit auch nichts anfangen – aber anständige Musik war das hier deswegen noch lange nicht. Der Rotnasige wartete nicht auf eine Antwort, er führte stattdessen seine Erläuterungen fort:

„Der DJ is a Spezi von mir, der legt hier öfters auf.“ Dabei wandte er sich nach rechts, hob seine Flasche und prostete dem DJ über den Tresen zu: „Prost Ernstl!“. Dann trank er mit einem zügigen Schluck sein Bier leer und suchte den Blick der Bedienung. Die sah ihn mit der leeren Flasche herum wedeln, ein Blickkontakt genügte und sie hatte ihm eine neue hingestellt. Sedlmeyer war beeindruckt, wie effizient das Zusammenspiel zwischen Gast, Bier und Bedienung in dieser Konstellation funktionierte; es hatte sicherlich einiges an Einarbeitung und praktischer Übung bedurft, bis die Dinge sich so gut eingespielt hatten. Er beschloss, auf die Toilette zu gehen. Auf dem Weg dorthin fiel ihm ein kleines Regal auf, in dem die üblichen Kneipen-lifestyle-Postkarten aufgereiht waren. Eine Karte stach ihm ins Auge: ein Foto eines ungemachten Bettes mit der Überschrift „Lieber auf Latten als unter Bohlen“. Er schüttelte den Kopf und ging auf die Toilette. Als er wieder zurück kam, unterhielt sich sein rotnasiger Sitznachbar wieder mit dessen beiden Mitstreitern zur Rechten. Sedlmeyer nippte an seinem Bier und versuchte erneut, DJ Ernstl's Musikauswahl etwas abzugewinnen. Aber da war nichts zu machen. Jetzt bewegte sich das ganze bedrohlich in die Softrock-Ecke: garantiert auch nicht seine Tasse Tee. Er nahm sich vor, beim nächsten Besuch in seinem Lieblings-Plattenladen den dortigen Verkäufer um einen neuen Kneipen-Tip zu bitten. Er sinnierte eine Weile hin und her, dann setzte plötzlich abrupt die Musik aus. Er sah zum DJ hinüber; der hob entschuldigend beide Hände und machte sich danach konzentriert an seiner Anlage zu schaffen. Der Rotnasige neben ihm rief lautstark nach rechts:

„Mei Ernstl, was machst'n scho wieder! Hast an richtigen Schalter wieder ned g'funden!“. Er lachte herzhaft. Dann wandte er sich der Bedienung zu:

„Du Kathi, kannst bitte dem Herrn DJ a mal an Schnaps bringen! Sonst wird des nix mehr mit dem! Und bringst mir auch gleich noch einen, bittschön! An Obstler wenn'st hast, des wär lieb, dank dir schön.“ Kurze Zeit später hatte er seinen Schnaps vor der Nase stehen und prostete quer über den Tresen dem DJ zu:

„Prost Ernstl!“ Dann kippte er ihn in einem Zug weg und wandte sich wieder an Sedlmeyer:

„Des da hinten, des is der Ernstl, also quasi der DJ.“ Sedlmeyer nickte.

„Den Ernstl kenn ich noch von früher her, weißt schon, in den achtzigern war des, da ham mir mal zusammen in einer Band gespielt, der Ernstl und ich!“ Er sah Sedlmeyer bedeutungsvoll an. Dann fuhr er fort: „Und ich sag's dir gleich, wie's is: des war'n noch andere Zeiten damals!“ Dieser Satz leuchtete Sedlmeyer sofort ein: Fokuhila-Frisuren, neongelbe Frottee-Schweißbänder, Stretch-Jeans, Björn Borg und Nena, die achtziger, wie sie manche am liebsten aus den Geschichtsbüchern streichen würden. Der Rotnasige nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und sagte:

„Des war a super Zeit, war des! Weißt, ich damals an den Drums, in unserer Band, und der Ernstl am Bass. Normalerweise bist ja als Bassist immer eher im Hintergrund, aber beim Ernstl war des was ganz was anderes. Der war so voll im flow drin, weiß schon, und fast die gesamten Songs hat er geschrieben damals, der war sozusagen das brain in unserer Band!“ Dabei lachte er amüsiert. „Und auf der Bühne, mei ich sag's dir! Da war er der Star, der Ernstl, obwohl er nur Bassist war! Prost!“ Sie stießen erneut an. Dann sagte Sedlmeyer:

„Es gibt schon einige Bassisten, die innerhalb der Band eine tragende Rolle spielen, so ungewöhnlich ist das nicht.“

„Ah geh!“

„Ja, Billy Sheehan zum Beispiel.“

„Kenn ich ned.“

„Der hat schon mit vielen von den ganz großen zusammen gespielt: Tony McAlpine, Steve Vai, David Lee Roth...“

„Ah so, ja, den Steve Vai, den hab ich schon mal g'hört. Des is irgendwas mit Hardrock oder so.“

„Ich würde es eher Heavy-Metal nennen“, präzisierte Sedlmeyer. Das brachte den Rotnasigen auf eine Idee und er war wieder in seinem Element:

„Du, weißt was! Ich hab einen Spezi, der war mal Roadie bei den Scorpions! Ohne Scheiß, der hat die komplette Tour damals mit gemacht von denen, mit allem drum und dran, der war voll im Geschäft mit denen! Und weißt was! Ich verrat dir jetzt was...“ Dabei neigte er sich verschwörerisch zu Sedlmeyer hinüber und sagte mit gesenkter Stimme:

„Mein Spezi, also der, wo mal Roadie war bei den Scorpions... Der hat eine original Flying-V von denen! Vom Rudolf Schenker persönlich!!!“ Die sogenannte Flying-V war eine legendäre E-Gitarre von Gibson, deutlich erkennbar an ihrem pfeilförmigen Korpus und besonders beliebt bei Rock-Bands der härteren Gangart – und unter anderem Markenzeichen der Scorpions.

„Der mit der Flying-V war aber eher der Michael Schenker“ korrigierte Sedlmeyer.

„Ja, da kannst recht haben“, sagte der Rotnasige, „aber die Gitarre ist jedenfalls von denen. Da sagst nix mehr, oder?“ Sedlmeyers Bewunderung hielt sich in Grenzen.

„Ich weiß nicht recht... Die Scorpions sind nicht so meine Baustelle, was die machen, ist mir zu gewollt.“

„Ja ich hab 'dacht, du bist a alter Rocker!“ Dabei grinste er kumpelhaft, „was findst'n du nachad guad?“

„Pantera zum Beispiel, oder Steeler,...“ So, als ob er die Antwort gar nicht gehört hätte, fuhr der Rotnasige fort:

„Ich steh ja total auf die Seventies, weißt schon. So mit erdigem Gitarren-Sound und so. Weißt, bei mir muss des a ehrliche Musik sein, ned so verkünstelt. Ich bin quasi ein ehrlicher Mensch, da brauch ich auch a ehrliche Musik, weißt schon.“ Er lachte herzhaft, offenkundig sehr zufrieden mit sich selbst. Dann fuhr er fort:

„Du, weißt was! Jetzt verzähl ich dir a mal a G'schicht! Seiner Zeit, damals mit unserer Band, also der Ernstl und ich, mir hätt'n fast a mal in England g'spielt! Weißt warum? Ich kenn einen, a Spezi von mir, dem sei Schwägerin, also die kannte damals die Königin von England! Ich verzähl dir keinen Scheiß!“ Sedlmeyer blickte ihn stirnrunzelnd an. Dann sagte er:

„Ja steht denn die Königin von England auch auf erdigen Rock?“

„Weißt, des wär' jetzt nicht direkt bei der Königin selber g'wesen. Aber ohne Scheiß, mir hätten damals fast a Konzert in England g'habt. Mir ham ja auch schon immer englische Texte gesungen, weißt schon, heute zutage singen's ja alle auf deutsch, des passt doch überhaupt ned zamm!“ Dann wandte er sich wieder der Bedienung zu:

„Du Kathi, bringst mir noch a Halbe bitte? Des wär lieb von dir. Und sag bitte dem Ernstl, er soll a mal was von Pink Floyd auflegen!“ Pink Floyd. Die hatten zwar böse Ausrutscher in die Untiefen des indiskutablen Weichspül-Rock auf dem Kerbholz, wie Sedlmeyer fand, aber er konnte sich ihrer suggestiven musikalischen Genialität dennoch nicht entziehen. Besonders die frühen Alben hatte er schon immer faszinierend gefunden; es widersprach zwar seinem Credo, außer Heavy-Metal nicht viel auf dieser Welt vorzufinden, was musikalisch bemerkenswert war, aber hier machte er eine Ausnahme:

„Pink Floyd find ich tatsächlich auch nicht schlecht, obwohl sie mir eigentlich viel zu soft sind.“ Der Rotnasige war begeistert, einerseits von der Tatsache, dass er mittlerweile wieder ein neues Bier vor der Nase stehen hatte und andererseits von Sedlmeyer's musikalischem Zugeständnis:

„Ja siehst! Ich hab ja gleich g'wusst dass mir uns einig sind! Prost!“ Er grinste selig. Dann sagte er: „Was machst'n du eigentlich so?“ Sedlmeyer antwortete:

„Ich hab' früher mal Sozialpädagogik studiert.“ Das stimmte tatsächlich. Nach dem Abitur war es ihm nicht anders ergangen, als zahllosen Schulabgängern zu allen Zeiten: er hatte keine Ahnung gehabt, wie es jetzt weiter gehen sollte. Glücklicherweise war ihm die Bundeswehr erspart geblieben; irgend ein Fehler in der Wehrpflichtigen-Datei, irgend ein seltsamer Vorgang im Musterungsprozess seines Jahrgangs hatte dazu geführt, dass er schlichtweg übersehen worden war. Also war er ratlos dagestanden, direkt nach dem Abitur, und hatte beschlossen, ein Sozialpädagogik-Studium zu beginnen und damit einen Beruf anzustreben, der ihm eine gesellschaftliche Verantwortung übertragen und ihm eine sinnvolle Tätigkeit versprechen würde. Dies hatte er ein paar Semester lang durch-, es dann irgendwann aber nicht mehr ausgehalten. Sedlmeyer war ein ziemlich intelligenter und auch gebildeter Zeitgenosse, aber die Art und Weise, wie in diesem Studiengang mit Wissen umgegangen wurde, die Methodik des Lernens, die Themen, auf die fokussiert wurde, das war nicht seine Welt gewesen. Da wurde geschwafelt, ohne auf den Punkt zu kommen, wie er fand, da wurde eine Rede- und Diskussions-Kultur gepflegt, die in seinen Augen zu nichts führte und ihm mehr und mehr zuwider wurde. Also hatte er nach ein paar Semestern hingeschmissen und war wieder vor der Frage gestanden, wo es mit ihm hingehen sollte. Diverse Umwege und Zufälle hatten ihn dann schließlich zur Kriminalpolizei geführt. Und letztlich, wenn man es mal mit ein wenig Phantasie betrachtete, hatte sein Beruf als Kriminalbeamter durchaus Ähnlichkeiten mit dem Job eines Sozialarbeiters: die meisten seiner Klienten waren am Ende des Tages nicht viel mehr als arme Teufel, die erst auf dumme Gedanken und dann vom sogenannten rechten Weg abgekommen waren, denen man Erziehungsmaßnahmen seitens des Staates nicht ersparen konnte, die aber mit einem ernsten und wohlmeinenden Gespräch durchaus zu erreichen waren. Die Minderheit der wirklich üblen und teilweise schweren Verbrecher gab es allerdings leider auch; die wären ihm als Sozialpädagoge dann wahrscheinlich erspart geblieben.

Der Rotnasige grinste ihn an und sagte:

„Soso, ein Sozialer bist du also. Weißt, ich hab da einen Spezi, ein guter Freund von mir, der hat mal für so ein Kinderhilfswerk gearbeitet, Kinderhilfsdorf soundso. Und der Ernstl, also quasi der DJ des heutigen Abends, der ist mittlerweile auch im sozialen Bereich ansässig! Da sagt's nix mehr, gell!“ Dabei wandte er sich nach rechts zum DJ und rief lautstark zu ihm hinüber: „Du Ernstl, komm a mal her, des hier is ein Heavy-Metal-Sozialpädagoge, den musst unbedingt kennen lernen!“ Sedlmeyer fand nicht unbedingt, dass das sein müsse und sagte:

„Ich bin kein Sozialpädagoge.“ Sein Nachbar war irritiert:

„Ja was! Wie des jetzt?“

„Ich hab nie fertig studiert.“

„Ja sakrafix! Und was machst jetzt? Bist arbeitslos?“ fragte der Rotnasige besorgt und nahm einen beherzten Zug.

„Nein, ich bin bei der Kriminalpolizei.“ Sedlmeyer war bereit für die übliche Reaktion. Die ließ erwarten, dass sich eine unsichtbare Wand zwischen ihn und seinen jeweiligen Gesprächspartner schieben würde, ein Schutzschild des schlechten Gewissens, das jeder mit sich herumtrug. Es war ihm oft genug passiert, dass anfangs lockerer Smalltalk rapide in Reserviertheit umschlug, sobald er mit der Wahrheit herausrückte, was seinen Beruf betraf. Er hatte sich daran gewöhnt und diesem Umstand auch schon manch spaßige Erheiterung abgewinnen können. Doch hier geschah nichts dergleichen; sein Gesprächspartner schien nicht übermäßig geschockt zu sein. Das mochte vielleicht auch an der Tatsache liegen, dass er schon ordentlich gebechert hatte. Stattdessen sagte er:

„Oha! Im Ernst?“ Sedlmeyer nickte. Daraufhin beugte sich der Rotnasige verschwörerisch zu ihm herüber und sagte, in angetrunken-fahrigem Ton:

„Du, weißt was! Das Mädel, das da verschwunden ist vor drei Wochen! Soll ich dir was sagen? Ich kenn einen, ein Spezi von mir, der weiß, wer das war!“ Das wurde Sedlmeyer dann doch zu viel. Er hatte sich lange genug Räuberpistolen erzählen lassen, von den Scorpions und der Königin von England und jetzt noch das. Er würde sich hier nicht verarschen und als Adressat für das Geltungsbedürfnis seines Kneipen-Nachbarn instrumentalisieren lassen. Zudem war der Rotnasige leicht als Wichtigtuer zu durchschauen und Sedlmeyer kannte den Typus gut. Genervt trank er seinen letzten Schluck Bier aus und sagte:

„Alles klar. Aber ich bin leider gerade nicht im Dienst. Dieser Spezi soll sich morgen sofort bei der Kripo melden, ansonsten drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft wegen Begünstigung einer Straftat. Jeder, der Beweise hat und sie zurück hält, riskiert eine saftige Strafe und zwar im Knast. Ohne Bewährung. Klar soweit?“ Dabei sah er dem Rotnasigen eindringlich in die Augen. Der sah ihn eingeschüchtert und mit glasigem Blick an, ohne etwas zu erwidern. Sedlmeyer stand auf und verließ augenblicklich das Lokal. Mies gelaunt schloss er sein Fahrrad auf. Diesen Kneipenbesuch hätte er sich genau so gut sparen können. Die Musik war dürftig und das Gespräch mit dem mitteilungsbedürftigen Sitznachbarn ein Monolog ohne viel Inhalt gewesen. Missmutig radelte er nach Hause, Richtung Westend. Nach zwanzig Minuten war er angekommen, in der Kazmairstr. wo seine kleine Wohnung lag. Er schob sein Fahrrad in den Hinterhof und sperrte es an, dann ging er hinauf in den zweiten Stock und schloss seine Wohnungstür auf.

Noch immer war er genervt. Er hängte seine Jacke auf, setzte sich auf den Balkon und begann, sich eine Schwarzer Krauser zu drehen. Wie eine Zecke, die sich festgebissen hatte, beschäftigte ihn ein Gedanke und lies ihn nicht mehr los: hätte er den Hinweis des Rotnasigen vielleicht doch ernst nehmen sollen? Streng genommen war es nichtmal sein Fall: Kollege Jakubinski mit seiner Soko Laura war für das vermisste Mädchen zuständig, er hatte damit eigentlich überhaupt nichts zu tun. Allerdings war das natürlich kein Argument: falls er als Kriminalbeamter einem Hinweis auf die Spur kam, der einen anderen Fall betraf, würde er ihm selbstverständlich immer nachgehen. Aber was hätte er an dieser Stelle machen sollen? Ein offenkundig betrunkener Wichtigtuer erzählt Märchengeschichten in der Kneipe herum, eine absurder als die andere. Hätte er ihn sofort verhaften sollen? War nicht Jakubinski ohnehin schon kurz vor dem Durchbruch, was den Fall anbelangte? Sedlmeyer meinte sich zu erinnern, dass kürzlich eine Zeugin aufgetrieben worden war, die das entführte Mädchen in einem Geschäft erkannt hatte... Er versuchte sich selbst zu bekräftigen, so gut es ging und mit soliden Argumenten die Richtigkeit seines Verhaltens zu untermauern. Es war schon seltsam, wie der Verstand arbeitete: da gibt es eine Unsicherheit, ein gefühltes Unbehagen und schon läuft sie auf Hochtouren, die Maschine im Gehirn, die die passenden Ausreden dazu erfindet. Nach einer Weile war sich Sedlmeyer sicher, richtig geurteilt zu haben: der Rotnasige war definitiv ein Schwätzer gewesen mit einem ausnehmenden Geltungsbedürfnis, hatte ordentlich gebechert und offenbar wenig Ahnung, wovon er redete. Zudem schien er nicht wirklich Dreck am Stecken zu haben, sonst wäre er bei der Erwähnung von Sedlmeyers Beruf sofort in die Reserve gegangen. Und das wiederum hieß, dass er wohl auch keine Befürchtungen haben würde, der Polizei etwas zu melden, falls er wirklich etwas wusste – was ja zudem auch seinem offensichtlichen Durst nach Anerkennung dienlich gewesen wäre. Also Entwarnung, es war alles korrekt abgelaufen. Sedlmeyers Laune besserte sich und er beschloss, endlich das zu tun, worauf er sich schon den ganzen Tag so gefreut hatte. Er ging ins Wohnzimmer, holte die erste von zwei CDs aus der Hülle, schaltete die Stereoanlage an und legte sie in den CD-Player. Dann nahm er den Kopfhörer und die Fernbedienung mit auf den Balkon und setzte sich. Nachdem er den Kopfhörer aufgesetzt hatte, startete er den ersten Song, eine zufällig aufgezeichnete Jamsession mit Pantera-Gitarrist Diamond Darrell und Kerry King von Slayer. Ein großartiges Stück Musik. Und das beste war: er hatte noch beide CDs vor sich und konnte morgen ausschlafen.

Der Gärtner war der Mörder

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