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Ausgeweint
ОглавлениеSelbstauflösung, große Sache das! Schwer im Kommen. Müllsäcke, italienische etwa, wie man hört. Oder die Plastik-Milchkapsel, die sich in heißem Kaffee auflöst. Ganz so weit ist es mit dem leblosen menschlichen Körper noch nicht, aber auch er, immerhin – was wäre hier los, wenn er es gar nicht täte! Doch Schluss mit diesem morbiden Thema – richten wir den Scheinwerfer lieber auf den Literaturnobelpreis, den alternativen natürlich, der im Oktober an die frankofone Dichterin Maryse Condé vergeben wurde von einer schwedischen Spontanjury, die sich längst wieder selbst aufgelöst hat. Dadurch kann es gar nicht erst zum Skandal kommen. Bravo! Vorbild war sicher der Deutsche Buchpreis, dessen Jurys nach Wahl der Longlist (zwanzig Romane), Shortlist (sechs) und First Place sich sofort auflösen und in alle Winde zerstreuen. Dabei könnte sie sich durchaus noch eine Ehrenrunde gönnen, die Jury 2018, denn ein Roman wurde Nummer eins, der – so die meisten Rezensenten – zwar unlesbar ist, aber originell – und diesen Treffer muss der Jury erst mal einer nachmachen. Schon früh war durchgesickert, dass die deutsch-kanarische Kandidatin mit Wurzeln in Teneriffa »es« werden würde. Großinterview im Spiegel Wochen vor der offiziellen Bekanntgabe: Der Reporter T. Würger (nomen est omen?) rang der Autorin Inger-Maria Mahlke das Geständnis ab, sie würde nahezu jeden Tag dreißig Minuten weinen, bevor sie dann sechzehn Stunden schriebe. Die Kritiker hatten der Einundvierzigjährigen fast alle bestätigt, dass ihre Romantechnik verblüffend sei, ihre Sprache faszinierend, man aber nach der Hälfte spätestens aussteige – na schön, mehr lesen Rezensenten sowieso nur selten, also gab es keinen Totalverriss. Die Jury war, das muss man einfach zugeben, diesmal mutig, nachdem sie in den letzten Jahren eher lang bekannte Routiniers gekürt hatte.
Auch deshalb konnten zwei Ex-Wahlmünchner einfach nicht mithalten, obwohl auch sie eher am Rande des Literaturbetriebs operieren und brandneue Romane vorgelegt haben. Wolf Wondratschek, der mit seiner »Macho-Attitude« wohl endgültig abgeschlossen und zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag das leicht fade Alterswerk »Selbstbild mit russischem Klavier« gemalt hat. Und Maxim Biller, 58, der vor Jahr und Tag in seinen »Hundert Zeilen Hass« alles und jeden beschimpft hat – außer Gerhard Schröder, seine heimliche Liebe. Aber der Gerd saß nicht in der Jury. Und diese clevere und – wie alle Jurys der Welt – ungerechte Jury wollte Billers neuen, mit ständigen Perspektivwechseln raffiniert geknüpften Familien-Kurzroman »Sechs Koffer« einfach nur bis zur Shortlist kommen lassen. Biller wird’s tränenlos verkraften, Inger Mahlke ihre Tränen mit frischem Ruhm abwischen und Wondratschek hat schon 2017 den »alternativen Büchnerpreis« bekommen – na also, geht doch!
November 2018