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Fontane ins Netz

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Die Schneeziege, korrekt oreanus americanus, leidet, und das stimmt uns alle sehr nachdenklich, seit fünf Jahren unter einem Geburtenrückgang von fünfundsiebzig Prozent! Kanadische Forscher, die den Ziegen seit vielen Jahren in aufreibenden Feldstudien nachsteigen, schwanken, ob dies am räuberischen Puma liegt oder an anderen Stressfaktoren. Die Weibchen, und das darf jetzt bitte kein Vorwurf sein, gebären eben auch erst sehr spät. Nämlich mit fünf Jahren und auch dann nur jeweils ein einziges Zicklein.

»Ein weites Feld« hätte Theodor Fontane dazu vermutlich bemerkt. Der Autor (1819–1898), der sich in einem gut erhaltenen Brief an seine Frau als »Sonntagsschriftsteller« bezeichnete, bei dem es »nur dröppelt« und keineswegs »strömt«, hätte derlei Forschungsergebnis im Berlin der 1860er-Jahre, wenn es denn zu ihm vorgedrungen wäre, sicher mit Skepsis kommentiert: Wozu das alles?

Das Faktum, dass sich eine Forschergruppe jahrelang in den Bergen herumtreibt, um aus dem Kot der weiblichen Ziegen prüfend und wertend Stresshormone zu gewinnen und Rückschlüsse auf deren Gebärlust zu ziehen, zeigt uns wieder einmal, welche Mühen der Forscher auf sich nimmt, um den Ur-Geheimnissen von Mutter Natur auf die Schliche zu kommen. Beiprodukt übrigens: Die Ziegenforscher weisen es als Mythos zurück, dass Adler mit ihren Schwingen die kleinen Kitze von den Klippen in die Tiefe stürzen. Möglicherweise entdecken wir hier eine dieser »Wandersagen« – ähnlich jenen, die den Yeti umkreisen oder die Riesenspinne in der Yuccapalme. Klar, dass sich die Wege von Natur- und Geisteswissenschaft hier trennen.

Letztere stürzt sich, während die Ziegen dahinkümmern, derweil wieder vehement auf Fontane und hinein in sein Schreib-Gebirge. Bedeutende deutsche Autoren aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wir ja leider nicht allzu viele, weshalb die Forschung ihren Fokus auf das Vorhandene lenkt. Da lockt immerhin der Textauswurf des durchaus schreibfreudigen, »dröppelnden« Dichters T. F.: Mehr als zehntausend seiner Original-Handschriften und zwölftausend Blatt Kopien verschollener Originaltexte will das Potsdamer Fontane-Archiv jetzt für das Internet »aufbereiten« und ins Netz stellen. Die Fontane-Forschung soll befruchtet und beflügelt werden! Sie wird sicher viele Pro- und Habilitationen hervorbringen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der künftige junge Fontane-Doktorand sich behände und gämsengleich zwischen vergilbten Texten bewegt, ihnen am Rande des Abgrunds – pardon – Proben entnimmt, diese prüft und bewertet.

Wer die Schneeziege in den eisigen Höhen der Rocky Mountains erforschen will, so heißt es, der muss unbedingt schwindelfrei sein. Aber auch der Germanist muss zäh dran bleiben am Objekt seiner Wünsche, die Quellen korrekt zitieren, und: Er darf auf keinen Fall schwindeln! Wir werden noch davon hören.

Februar 2015

SPOTTLICHTER

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