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Veränderung der Buchten
ОглавлениеWie keine andere Landschaft im östlichen Mittelmeer wird Ionien von drei großen, auf weite Strecken schiffbaren Flüssen geprägt. Der Mäander, der Kaystros und der Hermos – alle mündeten in tiefe Meeresbuchten, die sie im Lauf der Zeit immer mehr auffüllten. Dieser Prozess ereignete sich, wie antike Quellen beweisen, in historischer Zeit. Im 5. Jahrhundert waren diese Probleme durchaus geläufig, denn Herodot [Historien 2,10] zählt die „Flüsse, die Ebenen angeschwemmt haben“ auf. Natürlich spielte es für die Wirtschaft und für das Leben der Bewohner eine ganz entscheidende Rolle, ob die Häfen ihre Aufgaben erfüllten oder ob sie verlandeten und nur über Kanäle eine Zufahrt freigehalten werden konnte.
Das Problem der Verlandung zeigt sich am eindrucksvollsten und zugleich auch unter Fachleuten am meisten umstritten in der Bucht des Mäander6 (Abb. 2). Diese hat eine Breite von 10 bis 12 Kilometer und war zur Zeit der Ankunft der ionischen Griechen noch in großer Tiefe und in voller Breite schiffbar. Nur manche Hügel, heute mit Hausgruppen oder Dörfern bestanden, ragten zur Zeit der offenen Bucht als Inseln aus dem Wasser. Grundlage dieser in ihrer Radikalität neuen Theorie ist eine Karte von den Küsten des Mittelmeeres im Maßstab 1: 50.000. Höhenlinien und zusätzlich Höhenpunkte ergeben dreidimensionale Bilder, wie sie bisher nicht möglich waren.
Doch fragen wir zunächst, warum sich der Mäander in diesen Jahrhunderten der Verlandung nicht ein gerade verlaufendes Bett geschaffen hat, um auf kürzeste Entfernung das offene Meer zu erreichen. Warum „mäandert“ der Fluss? Bei Plinius [Naturalis historiae 5,31] heißt es, dass „der Maiandros an sehr vielen Städten vorbeifließt und zahlreiche Flüsse aufnimmt. Er ist durch Krümmungen so gewunden, dass man oft glaubt, er fließe zurück. Zuerst strömt er durch das Gebiet von Apameia, hierauf durch das von Eumeneia und dann die Hyrgaletischen Felder mit sehr fruchtbarem Schlamm befeuchtend …“ Den Grund für das Mäandern des Flusses sieht der Geograph Strabon [Geographika 12,8,17] in der Tatsache, dass er viel Schlamm hinab führt, den er „bald an diesem, bald an jenem Teil des Ufers absetzt“. Dies ist im Prinzip richtig, denn Flüsse in Auenlandschaften, in gleichmäßig flachen Niederungen neigen dazu, Schlingen zu bilden, weil schon geringste Hindernisse genügen, den geraden Verlauf des Wassers zu hemmen. Die Hemmnisse werden zur Seite gespült und leiten damit eine Richtungsänderung ein. Nachfolgender Sand wird wiederum am Rand abgesetzt, und so verstärkt sich die Richtungsänderung. Es entstehen Kurven und schließlich sogar Schlingen, die der Fluss dann an den schmalen Hälsen durchbricht, und der Prozess beginnt von neuem. Bekannteste Beispiele für das „Mäandern“ in Deutschland sind die Flüsse Werra, Saale und Ruhr. Für den Mäander in Kleinasien gilt das gleichermaßen, und hier wie dort treten die Flüsse im Frühjahr regelmäßig über die Ufer, nehmen feines Erdreich auf und verfärben sich gelb oder braun. Münden die Flüsse direkt in das offene Meer, färbt sich das Delta, aber schließlich wird der Schlamm von der Strömung erfasst und über eine große Fläche verteilt. Anders in den Buchten: Hier setzt sich der Schlamm im Mündungsgebiet ab und es kommt fortschreitend zur Verlandung der Bucht. Dabei sorgt das Mäandern des Flusses dafür, dass die Bucht in ganzer Breite gleichmäßig aufgefüllt wird.
Abb. 2 Die Höhenmessungen in der Mäanderbucht belegen eine gleichmäßige Verlandung in ganzer Breite. Zur Zeit der Ankunft der Griechen um 1000 v. Chr. war die Bucht in großer Tiefe schiffbar.
Wann und wie schnell ging die Verlandung vor sich? Tatsachen sind leider nur für den südwestlichen Bereich der Bucht zu nennen: Im 5. Jahrhundert ankerte vor Myus noch eine große Flotte „mit 200 Segeln“. Und das tief in der Latmos-Bucht gelegene Herakleia erfuhr in hellenistischer Zeit, nach 190 v. Chr. – nach der Niederlage des syrischen Königs Antiochos bei Magnesia – eine Blüte7 und muss deshalb nicht nur mit Schiffen noch gut erreichbar gewesen sein. Wenig später aber begann der Mäander die Zufahrt zum Golf abzuschnüren. Denn bei Strabon heißt es [Geographika 14,1, 8–10], im Latmischen Golf liege Herakleia, ein Städtchen mit einem Ankerplatz. Mit werden in der antiken Literatur nur bedeutungslose Orte bezeichnet.
Theodor Wiegand, der Ausgräber von Priene, war fest davon überzeugt, dass das neue Priene um 350 v. Chr. als Landstadt gegründet worden sei, weil die Umgebung hoch liege. Dieser Eindruck täuscht indessen. Denn die Höhenquoten auf der heute zur Verfügung stehenden Satellitenkarte (eingetragen in unsere Umzeichnung Abb. 2) beweisen, dass die Umgebung des gegenüber von Priene liegenden Myus nicht tiefer liegt. Und weil der Prozess der Verlandung von Myus zweifelsfrei dargestellt werden kann, muss Entsprechendes für Priene gelten. Das neue Priene war als eine Hafenstadt gegründet worden. Bei den jährlichen Überschwemmungen hat sich das Niveau der Bucht in ganzer Breite gleichmäßig erhöht. Wiegands Annahme, der südliche Arm des Mäander habe „Milet gerettet“, indem er die Schlammmassen wegspülte und den Weg für die Schifffahrt frei hielt,8 ist auch deswegen falsch, weil der Mäander vor 2500 Jahren an ganz anderer Stelle seine Kurven zog. In der erwähnten Satellitenkarte sind in der Bucht viele Reste von Schleifen des mäandernden Flusses eingezeichnet. Sie verteilen sich über die gesamte Bucht, stammen aus verschiedenen Zeiten und beweisen eine gleichmäßige Aufhöhung der Ebene in ganzer Breite nach Auffüllung der Unebenheiten des Grundes.
Der Geograph Strabon hatte in Nysa, einer weit im Innern der Mäanderebene liegenden Stadt, um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. studiert und kannte die Situation persönlich sehr gut. Er berichtet [Geographika 14,1,6], Milet verfüge über vier Häfen, von denen einer groß genug sei, eine ganze Flotte aufzunehmen. Milet war damals also von einer Verlandung noch weit entfernt.
Strabon sagt, die Entfernung von Milet nach Herakleia betrage für einen Küstensegler wenig mehr als 100 Stadien (= 17,8 km). In direkter Linie erreiche man dagegen Pyrrha (auf der Südseite des Golfs zwischen Milet und Herakleia) in nur 30 Stadien (= 5,3 km). Die Entfernung von Milet zur Mündung des Mäander betrage 50 Stadien (= 8,9 km). Und in 30 Stadien (= 5,3 km) könne man von dort mit einem Ruderboot die Stadt Myus erreichen, die wegen der wenigen Einwohner nun zu Milet gehöre. Das Ruderboot war offensichtlich nötig, weil Schiffe mit Tiefgang nicht mehr bis Myus fahren konnten. Die Verlandung war damals schon über die Höhe von Myus hinaus fortgeschritten. Der Reiseschriftsteller Pausanias bestätigt das in der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. im Buch 7 über Achaia auf der Peloponnes. Er schob nämlich ein Kapitel über die ionischen Städte ein, weil Achaia ein Herkunftsort der Ionier sei. Er selbst habe an der Stelle der einst blühenden Stadt Myus nur noch einen Dionysos-Tempel angetroffen. Denn der Maiandros habe mit seinen Schlammmassen die benachbarte kleine Bucht zu einem Binnensee gemacht. Dort, heißt es weiter, entwickelten sich Myriaden von Mücken und plagten die Bewohner von Myus so sehr, dass sie ihre Stadt aufgaben und nach Milet zogen. Dass sich dieser Auszug in späthellenistischer Zeit vollzogen hat, beweist eindeutig die Tatsache, dass in der Ruinenstätte Myus nicht eine einzige kaiserzeitliche Scherbe zu finden ist. Zur Zeitwende hat sich die Küstenlinie also im Süden bereits westlich von Myus befunden, auf der gegenüber liegenden Seite westlich des neuen Priene, denn nach Strabon 12, 579 beträgt die Entfernung von (Neu) Priene bis zum Meer 40 Stadien. Etwa 60 Jahre später, um 50 n. Chr. war Milet nur noch 10 Stadien = knapp 2 Kilometer vom Meer entfernt.
Aus diesen Angaben lässt sich die Strecke der durchschnittlichen jährlichen Zurückdrängung des Meeres errechnen und darstellen. Das hat schon vor hundert Jahren Erich Walter Buisson versucht9. Er kam auf eine Strecke von jährlich 20 Metern. Das ist aber mit Sicherheit zu wenig. Wir müssen mit einer jährlichen Verlandung von etwa 30 Meter in der weiten Bucht in Meeresnähe und mehr als 40 Meter weiter im Osten rechnen. So wie wir heute wunderte sich schon Pausanias [Beschreibung Griechenlands 8,24,11] darüber, wie schnell das Meer zwischen Myus und Milet zu Land werden konnte.
Jedenfalls stimmt diese rasante Verlandung ziemlich gut mit den Angaben der antiken Beobachter überein. Ungefähr lässt sich danach zurückrechnen, dass das Gebiet des heutigen Söke um 400 v. Chr. von den Schlammmassen des Mäander erreicht wurde. Das würde gut zu der Annahme passen, dass in dieser Gegend das alte Priene lag, das damals aufgegeben wurde.
Von den Geologen, die sich mit dem Problem neuerlich befasst haben, nehmen fast alle eine langsamere Verlandung an. Nur Bernd Schröder erwägt, „ … der rasche Vorbau der Menderes-Verlandung (archaische Küstenlinie evtl. östlich von Söke!) hat damit zu tun, dass die erhöhte Erosionsrate durch den Eingriff des Menschen … hier eine breite und flache Talform auffüllen konnte …“10
Die Windungen des Mäander sind sprichwörtlich und müssen die Ionier schon früh beeindruckt haben. So kommen Mäander in der charakteristischen Rechteckform auf geometrischen Vasen vor.11 Ein entsprechender Mäanderkreis ist häufig am Bildrand von Münzen der Städte Milet, Priene, Myus und Naulochos12 zu sehen. Der „fruchtbare Schlamm“, feinster Boden ohne Steine und Geröll beschert den Anwohnern landwirtschaftlichen Reichtum. Dazu schon Plinius [Naturalis Historia 1,5,113] placidus omnesque eos agros fertilissimo rigans limo …
Auch die Bucht des Kaystros-Flusses (Abb. 3) erstreckte sich zur Zeit der Landnahme der Ionier noch weit in das Landesinnere. Das niedrige und flache Gelände lässt sogar vermuten, dass in prähistorischer Zeit eine tiefe Meeresbucht bestand, aus der sich das Massiv des Berges Gallesius wie eine Insel erhob. Ephesos war noch bis in die Kaiserzeit eine Hafenstadt. Im 2. Jahrhundert n. Chr. war die Verlandung der Bucht jedoch so weit fortgeschritten, dass Schiffahrtsrinnen ausgehoben werden mussten.13
Weiter westlich liegt die Hafenstadt Notion, deren Hafen heute verlandet ist, während sich in der Antike eine schiffbare, schmale Bucht nach Norden in das Land hinein öffnete.
Die dritte der großen Buchten (Abb. 4), in die der Hermos mündet, ist noch heute von eminent wirtschaftlicher Bedeutung, weil hier auf den Ruinen der antiken Stadt Neu-Smyrna die Millionenstadt Izmir liegt. Die Verlandung der Bucht betrug auch hier mit Sicherheit mehrere Kilometer. Im 19. Jahrhundert wurde schließlich der Hafen der Großstadt Izmir bedroht. Die Rettung brachte ein weiter nördlich angelegter Kanal, ein gerade verlaufendes Bett für den Hermos.
Phänomene der Verlandung und der Veränderung der Landschaft wie bei den großen Buchten und Flüssen Ioniens kommen auch andernorts vor. So war Pella (Makedonien) als Hafenstadt gegründet worden, ist heute aber weit vom Meer entfernt.
Mit der Verlandung der Buchten in Ionien und den unbrauchbar gewordenen Häfen war ein Lebensnerv der dort liegenden Städte getroffen. Hinzu kam, dass in den stellenweise versumpften Gebieten Insekten brüteten und Mensch und Tier quälten. Wer im Spätsommer oder Herbst die Ruinen von Myus besucht, kann leicht ermessen, dass Myriaden von Mücken die Bewohner zum Umzug veranlassten (Abb. 5). Noch mancher Forscher der Neuzeit, so der Topograph Walther von Marées, ein Mitarbeiter von Theodor Wiegand, wurde Opfer der Malaria.
Abb. 3 Bei der vom Fluss Kaystros und seinen Nebenflüssen gespeisten Kaystros-Bucht sind Zeit und Ausmaß der Verlandung der einst tiefen Bucht unsicher. Ephesos konnte schon in der mittleren Kaiserzeit zu Schiff nur über einen Kanal erreicht werden, der immer wieder neu ausgeschachtet werden musste.
Abb. 4 Die große Hermos-Bucht im Norden Ioniens hat seit der Ankunft der Ionier eine Verlandung um viele Kilometer erfahren, wie aus den Höhenlinien ersichtlich ist. Das alte Smyrna, einst Hafenstadt, wurde nach Verlandung schon in archaischer Zeit aufgegeben. Das um 300 v. Chr. gegründete neue Smyrna, das Izmir der Neuzeit, drohte im 19. Jh. zu verlanden und konnte durch ein 1867 im Norden angelegtes Kanalbett für den Hermos gerettet werden.
Abb. 5 Die Ionier haben mehrere ihrer 13 Städte in der Tiefe der Buchten an der kleinasiatischen Westküste gegründet. Alle waren Hafenstädte (auch Priene), denn nur so erklärt sich die Verlegung der Städte als die Verlandung ihre Häfen bedrohte.