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Raphaëls und Aurelies Familiennase

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Warum zwei Geschwister ihre Nasen nicht mochten und wieso ihr Vater daran schuld war.

Ich hätte den Notizzettel meiner Empfangsdamen nicht gebraucht, um den französischen Namen wiederzuerkennen. Mademoiselle Boulanger. Auf Deutsch wäre sie eine »Frau Bäcker« gewesen. Diesmal saß nicht Raphaël Boulanger vor mir, sondern seine um zwei Jahre jüngere Schwester Aurelie. Der Grund, warum sie zu mir kam, war aber derselbe. Es ging um ihre Nase.

Erst vor einem Jahr hatte ich die Nase ihres Bruders operiert. Raphaël, damals 26, hatte gerade sein Architekturstudium an der Akademie der Bildenden Künste am Wiener Schillerplatz abgeschlossen und auch bei seinem im wahrsten Sinne des Wortes hervorragendsten Gesichtsmerkmal gestalterisch eingreifen wollen.

Jetzt zeigte mir Aurelie Fotos von der operierten Nase ihres Bruders, mit dem sie nicht nur das Studium, sondern auch die Form der angeborenen Nase teilte. Sie wollte klarstellen, wie sie sich die Sache vorstellte.

»Ich möchte so eine Nase wie er«, sagte sie. »Nur weiblich.« Damit legte sie ein Foto auf den Tisch, das sie offenbar als Vorlage für mich aus dem Internet ausgedruckt hatte.

In solchen Momenten wird mir immer etwas mulmig. Exakte Vorstellungen von etwas zu haben, kann im Leben nützlich sein. Auf meinem Gebiet aber, in dem es um einen lebenden Körper und um organische Materie geht, ist es eine Katastrophe. Noch mehr fürchte ich mich nur vor Sätzen wie: Machen Sie es, wie Sie meinen. Ich vertraue Ihnen voll und ganz, Herr Doktor.

Ich schob Aurelie die Fotos wieder zurück und erklärte ihr, dass weder ich noch irgendein anderer Schönheitschirurg der Welt das Ergebnis einer Operation mit letzter Genauigkeit vorhersehen könne.

»Der Mensch«, sagte ich, »ist ein lebendiges Wesen, ein komplexes Kunstwerk der Natur, und er lässt sich nicht mit der gleichen Präzision gestalten wie eine Schule, ein Bürogebäude oder ein Wohnhaus.«

Aurelie sah mich mit einem Anflug von Enttäuschung an. Womit für mich gleich auch ein anderer Punkt geklärt war. Die Operation würde stattfinden, mit mir oder ohne mich. Die Fragen, die wir hier zu erörtern hatten, waren wohl bloß organisatorischer Natur.

Dies, obwohl Nasenoperationen zu den eher seltenen Eingriffen in der Schönheitschirurgie gehören. Laut Umfrageergebnissen, die jährlich die Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie vorstellt, machen sie gerade einmal 4,4 Prozent aller Eingriffe aus. Hier das gesamte Ergebnis, publiziert im Februar 2018.


Ich sah mir Aurelie genauer an, was gar nicht nötig gewesen wäre. Ich hatte schon erkannt, wie sich die Nasen der Geschwister ähnelten. Schon bei Raphaël hatte ich arabische Gene in der Familie vermutet, nun war ich mir fast sicher. Die natürliche Nase der beiden war prägnant. Sie war leicht gebogen und hatte etwas breite Flügel.

Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit war Aurelie das Gegenteil ihres Bruders. Sie war zierlich, während Raphaël groß und kräftig war. Außerdem wirkte sie umgänglich und weich, fast ein wenig passiv. Vielleicht hoffte sie ja, mit der gleichen Nase auch ein paar der energischeren Wesenszüge ihres Bruders abzubekommen.

Die angeborene Nase der beiden war keine Einheitsnase. Sie konnte Blicke auf sich ziehen und damit in gewisser Weise herausfordernd sein, das schon. Als klassisch schön empfindet eine Mehrheit der Betrachter ja nicht das Besondere, sondern das Durchschnittliche.

Deine Nase kann nichts dafür

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