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Hadern mit dem Familienerbe

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Ich erzählte ihr, dass ich häufig mit dem Phänomen der Familiennase konfrontiert bin, und dass ich zwei Arten des Umgangs damit festgestellt habe. Die einen tragen ihre Charakternasen mit Stolz, als etwas, das sie verbindet, quasi wie ein Familienwappen. Die anderen kämpfen mit ihren Charakternasen und würden viel dafür geben, unauffällig auszusehen.

Da Aurelie, ganz anders als ihr Bruder, für dieses Thema nun doch einigermaßen offen zu sein schien, machte ich weiter. »Wissen Sie, was der Unterschied zwischen diesen beiden Familientypen ist?«, fragte ich.

Aurelie dachte nach. Sie schüttelte den Kopf, obwohl ich vermutete, dass sie schon einen Verdacht hatte.

»In den Familien, die stolz auf ihre besondere Nase sind, verstehen sich alle eher gut miteinander. Es gibt einen Zusammenhalt und so etwas wie eine gemeinsame Identität, für die die Nase dann auch stehen kann. In den Familien, die unter ihrer gemeinsamen Nase leiden, sind die Beziehungen eher durcheinander.”

Ich hatte den Eindruck, dass Aurelie nicht nur verstand, was ich sagte, es interessierte sie offenbar tatsächlich. Jedenfalls fühlte ich mich zum Fortfahren ermutigt und stellte die meiner Meinung nach entscheidende Frage.

»Verstehen Sie sich mit Ihrem Vater?«

»Ja«, sagte sie mit ernster Miene. »Wir können ganz gut miteinander.«

Das hatte ich nicht erwartet.

Schon von Raphaël wusste ich, dass der Vater der beiden ein harter Mann war. Er hatte eine gehobene Position bei den Vereinten Nationen inne, weshalb seine Kinder eine internationale Schule in Wien besucht hatten und mit einem breiten Horizont aufgewachsen waren. Geboren war er in einer französischen Industriestadt, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen. Mit viel Fleiß hatte er sich nach oben gekämpft, was ihm allerdings nicht automatisch die Achtung und Liebe seiner Kinder gesichert hatte. Zumindest Raphaël hatte das wenig beeindruckt. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war so schwierig, dass er selbst in unseren nicht eben sehr persönlichen Gesprächen immer wieder giftige Seitenhiebe gegen ihn platziert hatte.

Aurelie schien meine Gedanken zu erraten.

»Mich hat er immer gut behandelt«, sagte sie. »Raphaël und meine Mutter können das nicht behaupten.«

»Ein Mann, der die eigene Mutter und den eigenen Bruder schlecht behandelt, ist keiner, dessen Wappen man gerne vor sich herträgt«, wandte ich ein.

Ich wusste, dass ich mich damit auf gefährliches Terrain wagte. Genau genommen stehen solche Bemerkungen einem Psychologen, aber keinem Arzt und Chirurgen ohne jeden Hauch einer nachweisbaren psychologischen Ausbildung zu. Doch Aurelies nun unverkennbares Interesse an dem Thema ermutigte mich.

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte sie.

»Sie ahnen es.«

»Sie meinen, ich wäre bei einem Psychotherapeuten besser aufgehoben als bei einem Schönheitschirurgen?”

Das meinte ich.

Das meine ich allerdings bei vielen Frauen und Männern, die einen Schönheitschirurgen konsultieren. Für mich ist Wunschmedizin, also Schönheitsmedizin, Verantwortungsmedizin und aufgrund meiner Erfahrungen mit dem Zusammenhang zwischen Seele, Psyche und Einschätzung des eigenen Äußeren hielte ich es schon lange für gut, wenn in einer plastischen Ordination routinemäßig auch Psychologen anwesend wären. Wogegen natürlich vor allem die erwähnte Schnelllebigkeit unserer Zeit spricht. Menschen erwarten rasche Lösungen.

Dir gefällt deine Frisur nicht?

Du gehst zum Friseur.

Du bist unglücklich mit deinem Aussehen?

Du gehst zum Schönheitschirurgen. Und wenn der ein Problem damit hat, dann hat er den falschen Job.

Sich selbst lieben lernen?

Ja gerne. Aber das geht ja wohl mit einem korrigiertem Äußeren ganz von allein.

Wobei ich einschränke, dass auch Psychologen und Psychotherapeuten oft nur scheinbare Hilfe bieten. Auch sie vermeiden gerne den altmodischen Weg des Aufarbeitens bestimmter Probleme und lassen ihre Klienten lieber Ich-bin-ich-Affirmationen auswendig lernen.

Psychotherapeuten arbeiten bei Klienten, die ihr eigenes Äußeres ablehnen, oft nur das Ego heraus, was das Problem auf Dauer nicht löst. Wer versucht, seine Probleme mit einem künstlich gesteigerten Selbstwertgefühl zu überstrahlen, steht am Ende vor der gleichen Mauer, nur auf der anderen Seite.

Auf diese Weise fühlen sich Menschen vielleicht eine Weile unangreifbar. Doch eine nachhaltige Lösung bringt das nicht, denn irgendwann kommt zum Beispiel ihre Einsamkeit zurück. Jetzt allerdings nicht deshalb, weil sie sich selbst ablehnen, sondern weil sie ein Verhalten an den Tag legen, das alle anderen ablehnen und deshalb nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen. Seit einer Weile arbeite ich deshalb mit Psychotherapeuten zusammen, denen ich vertraue, und von denen ich weiß, dass sie mir die Patienten gegebenenfalls auch wieder zurückschicken.

»Argumentieren Sie da nicht gegen Ihre eigenen Interessen?«, fragte Aurelie.

»Es gibt auch unter Schönheitschirurgen so etwas wie einen Ehrenkodex«, antwortete ich. »Er sieht unter anderem vor, Patienten ausreichend aufzuklären, wenn sie etwas wollen, das ihnen nichts bringt oder vielleicht sogar schadet.«

»Bei meinem Bruder galt der Ehrenkodex nicht?«

Ich zögerte. »Vielleicht habe ich die Situation damals noch nicht richtig überblickt.«

»Oder Sie haben die Situation richtig überblickt und wussten, dass Sie mit diesen Argumenten bei ihm abblitzen würden.«

Jetzt lächelte ich. »Er wäre einfach zu einem anderen Chirurgen gegangen«.

Aurelie nickte. »So ist mein Bruder. Etwas stur. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, zieht er es durch. Er war ziemlich sauer, als ich damals nicht gleich zu Ihnen mitgekommen bin.« Sie machte eine kleine Pause. »Lassen Sie mich ein paar Tage über Ihren Vorschlag nachdenken.«

Mit einem Happy End kann ich bei dieser Geschichte nicht dienen. Dabei wäre es so schön gewesen. Aurelie hätte ihre offenbar komplexe und keinesfalls aussichtslose Beziehung zu ihrem Vater grundlegend überdacht und damit eine positive Dynamik in die ganze Familie gebracht. Sie hätte ihre spezielle Nase bis ans Ende ihrer Tage mit Stolz getragen, während der schon operierte Raphaël ein wenig bedrückt gewesen wäre, weil er diese Nase leichtfertig einer Art emotionalen Kurzsichtigkeit geopfert hatte.

In Wahrheit kam Aurelie zum nächsten Termin in Begleitung ihres Bruders, neben dem sie viel schwächer und unselbstständiger wirkte. Raphaël führte das Wort, es ging jetzt auch bei Aurelie endgültig nur noch um die Modalitäten des Eingriffs.

Bei der Operation ging alles gut. Raphaël und Aurelie sehen einander wieder ähnlich und sind so weit zufrieden damit. Ich bekam noch mit, dass der Vater der beiden ziemlich sauer war, dass seine Kinder sich sein »Wappen« wegoperieren hatten lassen. Etwas, das ich bei derartigen Familienkonstellationen immer wieder beobachte. Die genetische Quelle der Nase, in diesem Fall der Vater, betrachtet es als Verrat an ihm und an der Familie insgesamt, sie zu verändern.

Es mag romantisch und vielleicht etwas naiv klingen, aber ich bleibe trotzdem dabei. Das oben skizzierte Ende wäre mir als das glücklichere erschienen, auch wenn ich dabei nichts verdient hätte.

Deine Nase kann nichts dafür

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