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Worte der Überlieferung

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Schon oft hatte Trent das Fest der Namengebung erlebt, doch noch nie im Mittel­punkt des Geschehens gestanden. Am Nachmittag sammelten die jungen Männer Holz und schichteten es in der Mitte des Dorfplatzes zu einem großen Haufen auf. Der Gol­dene Drache hatte sich langsam herabbegeben und schwebte über den Wipfeln des Waldes, der das Dorf umgab. In dieser Höhe hatte er die gleißende Glut des Tages abgelegt und zeigte sich in einem dunkelroten Licht, das den Dorfplatz in ein warmes Rot tauchte.

Die Männer versammelten sich um den Holzstapel und konnten der Großen Mutter nun ins Antlitz sehen, ohne sich die Augen zu verbrennen. Der alte Kaan nahm Trent das Fellbündel mit seinem Sohn ab, hob den Kopf der Mutter entgegen und dankte ihr für den neuen Sohn, den sie geboren und den Männern geschenkt hatte. Er dankte ihr ebenfalls dafür, dass sie Trent als Vater ausgesucht und ihn zu seinem Sohn geführt hatte und dass beide unverletzt zurückgekommen waren. Er versprach, die alten Über­lieferungen in Ehren zu halten und die Männer seines Dorfes anzuhalten, die unge­schriebenen Gesetze zu beachten, damit das Wohl des Dorfes auch weiterhin erhalten bleibe. Mit einer ausladenden Armbewegung zeigte er auf Trent.

„Diesen Mann, Trent, Sohn von Leff, nehmen wir nun in unsere Gemeinschaft der Väter auf und versprechen, ihn und seinen Sohn zu schützen und ihm beizustehen bis zu seinem oder unserem Tod. Das versprechen wir im Antlitz der Großen Mutter.“

Mit diesen Worten schloss der Alte seine Rede und übergab Trent das kleine Fell­bündel mit dem Sohn. Trent kannte seine Pflicht, hob seinen Sohn der Mutter entge­gen, so dass sie in sein Gesicht schauen konnte und wiederholte die Worte, die er seinem Sohn bereits in der Steppe zugeflüstert hatte:

„Ich nenne dich Muth, Sohn von Trent, denn mutig sollst du werden und uner­schrocken den Drachen gegenübertreten, wenn du ein Mann bist. Bis dahin werde ich für dich sorgen und dir alles beibringen, wie es mein Vater für mich getan hat.“

Beifälliges Geflüster begleitete die Worte. Es waren große Erwartungen, die Trent in seinen Sohn setzte. Man musste schon großen Mut besitzen, sich den Erzfeinden der Männer, den Drachen gegenüberzustellen, auch wenn es nur darum ging, das begehrte Kum zu erkämpfen. Mit diesen Worten hatte Trent nicht nur seinem Sohn den Weg gewiesen, sondern sich auch selbst eine große Verpflichtung auferlegt. Hoffentlich würde er lange genug leben, um dieser Verpflichtung gerecht zu werden. Auch der alte Kaan nickte beifällig. Der Goldene Drache beantwortete die Zeremonie mit einem grandiosen Farbenspiel, bevor er sich hinter den Bäumen zurückzog.

Doch der Silberne Wächter bekam noch keine Gelegenheit, den Dorfplatz mit sei­nem silbernen Schein zu überziehen. In der Mitte des Platzes wurde das große Feuer entzündet, um welches jetzt alle Platz nahmen, um den neuen Namen und den jungen Vater mit einem gemeinsamen Mahl zu feiern. Es waren alle zugelassen. Selbst die jüngsten Söhne, die schon laufen konnten, blickten fröhlich in das knisternde Feuer und aßen, was sie nur ergattern konnten.

Als alle gesättigt waren, kehrte Ruhe ein, und alles schaute auf den alten Kaan, der schon eine Weile in die flackernden Flammen, in Wirklichkeit aber in selbst hineingeschaut hatte. Dann zitierte er die alten Überlieferungen, die alle Versammelten schon so häufig gehört hatten. Die Älteren bewegten ihre Lippen, die Worte stumm mitsprechend, denn vielleicht würden auch sie eines Tages Dorfältester sein und die alten Überlieferungen pflegen.

„Hört, ihr Männer und Söhne, hört die Geschichte unseres Volkes, hört auf die alten Überlieferungen, die ich aus dem Munde meiner Väter gehört habe, so wie diese sie aus dem Munde ihrer Väter hörten.

Seid meine Zeugen, dass ich die Worte spreche, ohne etwas auszulassen und ohne etwas hinzuzufügen, denn ewig sind die Worte des Gesetzes von Anbeginn unseres Vol­kes an!

Am Anfang war die Große Mutter, die unsere Welt geschaffen hat mit allen Bergen und Tälern, mit allen Wassern und Winden, mit den Pflanzen und allen Tieren, die sich darauf bewegen. Sie hat es eingerichtet, dass alle leben können, miteinander, unterein­ander und voneinander. Sie schuf aufrechte Lebewesen und schenkte ihnen die Gabe des Verstandes und nannte sie Sapien. Sie überantwortete ihnen alle Dinge, die Pflan­zen und die Tiere der Welt, auf dass sie davon lebten mit Weisheit und Verstand. Und sie schuf Drachen, damit die Sapien mit ihnen kämpften.

Achtet die Drachen, denn die Drachen tragen das Leben, doch im Sieg liegt die Kraft und im Tod das Leben. Aber suchet die Drachen nicht, denn sie werden euch fin­den.

Achtet die Mutter, denn die Mutter ist das Leben.

Tötet nur, um selbst zu über­leben. So will es die Natur und alle Dinge die darin leben.

Haltet zusammen, unterstützt die Schwachen und ernährt die Hungrigen, denn nur in der Gemeinschaft seid ihr stark. Lehrt eure Söhne das Leben, so wie eure Väter euch das Leben gelehrt haben, dann werdet ihr in ihnen weiterleben bis ans Ende aller Tage.

Prägt euch die Worte des Gesetzes ein und gebt sie an eure Söhne weiter, ohne etwas auszulassen und ohne etwas hinzuzufügen, denn ewig sind die Worte von Anbe­ginn unseres Volkes an!“

Das Feuer war inzwischen niedergebrannt, doch die Glut wärmte den Kreis der Väter und Söhne, die den Worten des alten Kaan gelauscht hatten. Einige jüngere hat­ten den Sinn nicht immer verstanden, und bereitwillig beantwortete Kaan die Fragen.

„Weshalb sollen wir jeden Drachen töten?“, fragte ein Knirps, der sich selbst schon als großer Drachentöter fühlte.

„Du hast die Worte falsch verstanden!“, erwiderte Kaan sanft, „Das Gesetz sagt, achtet die Drachen, denn die Drachen tragen das Leben, doch im Sieg liegt die Kraft und im Tod das Leben. Das bedeutet, dass man die Drachen ehrt, wenn man mit ihnen kämpft. Aus dem Sieg über sie gewinnt der Mann die Kraft für sein Leben.

Das Gesetz sagt aber auch, töte nur, um selbst zu überleben. Das gilt auch für den Drachen. Greift er jedoch an, verstecke dich nicht, sondern bekämpfe ihn mit aller Kraft und allem Mut. Wenn du ihn besiegst, wird er dir Kraft geben, denn im Sieg liegt die Kraft. Sollte er dich töten, so ist es ein ehrenhafter Tod. Bist du ihm aber überle­gen, dann lass ihn leben – so will es das Gesetz!“

Ein anderer Sohn betrachtete nachdenklich den schlafenden Muth und fragte: „Wo kommen die kleinen Heuler her, die unsere Väter gefunden haben?“

Kaan dachte einen Augenblick nach, denn diese Frage ließ sich nicht unmittelbar aus den Worten der Überlieferung beantworten. Er versuchte es trotzdem.

„Die Heuler werden von der Großen Mutter geboren und dem Volk geschenkt, denn die Worte sagen, die Mutter ist das Leben.“

„Warum werden die Kleinen ’Heuler’ genannt?“, wollte ein anderer Knirps wissen.

„Die kleinen Lebewesen haben die Fähigkeit, einen Laut von sich geben, der über sehr große Entfernungen wahrgenommen werden kann. So kann ihn der Vater hören und ihn von dort abholen, wo ihn die Große Mutter abgelegt hat. Allerdings können nur erwachsene Männer, die bereits viele Drachenkämpfe hinter sich gebracht haben, diesen Ton empfangen, der sich in ihrem Kopf wie ein leises Heulen anhört. Dazu sind weder der Mund des Kleinen noch das Ohr des Vaters erforderlich. Du siehst also, kleiner Mann, du musst erst ein mutiger Drachenkämpfer werden, bevor du Vater wer­den kannst.“

„Warum wird die Große Mutter auch Goldener Drache genannt?“, war die nächste Frage.

„Die Antwort kannst du dir selber geben“, erwiderte Kaan. „Schaut sie euch in den Abendstunden an, wenn sie sich rotglühend zum Ende der Welt begibt. Betrachtet die Wolken um sie herum und ihr werden sehen, dass sie Flügel wie ein Dra­che hat und einen langen Schwanz, der manchmal um die halbe Welt reicht.“

Lem, Sohn von Laku, der seinen Vater schon mehrmals bei Drachenkämpfen begleitet hatte und die Gefährlichkeit des Kampfes kannte, machte sich andere Gedan­ken.

„Weshalb liegt im Sieg die Kraft?“, fragte er.

„Das hat zwei Bedeutungen“, sinnierte Kaan, „Besiegst du den Drachen, gewinnst du das kostbare Kum, das den Sohn zum Mann macht und dem Mann Kraft und Stärke gibt. Außerdem muss sich jeder Mann ständig auf die Kämpfe mit Drachen vorbereiten und dabei Mut und Geschicklichkeit beweisen. Jeder Sieg ist deshalb ein Beweis für die Kraft des Mannes.“

Lem schien beruhigt, und Kaan nickte befriedigt. Dieser junge Mann schien bald reif genug für das Leben zu sein. Doch er hoffte, dass sein Freund Laku, der Vater des Jun­gen, noch lange genug leben würde, um ihn als Dorfältesten abzulösen. Er fühlte seine Kraft langsam weichen, und nur seine große Erfahrung im Drachenkampf verhalf ihm immer noch zum Sieg. Doch eines Tages würde auch er nicht mehr zurückkehren.

Die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer hatte nachgelassen, und die Glut verlor ihre Kraft. Langsam erhob sich Kaan, ging auf seine Hütte zu, die er von seinem Vater geerbt hatte und die bald seinem Sohn gehören würde. Für die anderen Männer war das ein Zeichen, sich auch zur Ruhe zu begeben.

Trent nahm seinen Sohn, trug ihn zur Hütte und legte ihn sorgfältig schlafen.

Ein neues, aufregendes Leben wartete auf ihn.

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