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Das Tier erwacht

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Wieder einmal saß Koster in gespannter Erwartung im Flugzeug, diesmal auf dem Weg nach London. Im Frachtraum der Maschine befand sich ein komplettes Skelett, von dem er sich nicht trennen wollte. Bedauernd hatte er deshalb seine Mitarbeiter in Spanien allein gelassen, um den Transport persönlich zu begleiten. Sein Team war wei­terhin damit beschäftigt, das Höhlensystem zu erforschen und den Fundort jedes aufge­fundenen Skeletts sorgfältig zu sichern. Bei der Vielzahl der Fundorte war das inzwischen eingefahrene Routine.

Es war ihnen bisher gelungen, den Fund vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Ab und zu kam Ortega der Schafhirt oder ein anderer Dorfbewohner vorbei, doch alle dachten, die Forscher würden dort nach Steinen suchen. Zum Glück waren Telefone in dieser Gegend rar und die Presse weit weg. Nur wenige Mitarbeiter im Münchener Insti­tut waren in die tatsächlichen Gegebenheiten eingeweiht.

Koster hatte auch seinen Kollegen Bone vom Londoner Institut für Paläontologische Rekonstruktionen nicht über den wahren Grund seines Kommens eingeweiht. Er hatte ihn nur gebeten, ihn bei der Rekonstruktion einiger Knochen zu unterstützen.

Der Flieger stieß durch graue Wolken nach unten. Während des ganzen Fluges hatte die Sonne geschienen, so dass sich der sonnige Eindruck Spaniens erhalten hatte. Über Frankreich wurde die Sicht nach unten aber schlechter und schließlich unmöglich. Den Rest der Strecke flogen sie über weiße Wolken, die wie Wattefelder in der Luft hingen. Erst beim Landeanflug wurde Koster bewusst, dass es in England regnete.

Je tiefer sie flogen, desto dunkler wurden die von oben so weiß aussehenden Wol­ken. Er schaute nach unten auf London, das sich auf einem riesigen Areal ausbreitete. Die Maschine flog über einige Vororte, doch von seinem Platz an der Steuerbordseite hatte Koster einen hervorragenden Blick auf die ganze Stadt, deren andere Seite am Horizont im Regen verschwand. Als der Boden immer näher kam, wartete er besorgt auf das Auf­setzen, als könnten die Knochen dadurch Schaden nehmen. Doch seine Sorge war völ­lig unbegründet, denn erstens war das Aufsetzen kaum zu spüren und zweitens hatte er das Skelett eigenhändig so gut verpackt, dass man die Kiste auch aus der Ladeluke wer­fen konnte, was selbstverständlich nicht geschehen würde.

Von dem Londoner Nieselregen merkte er noch nichts, als er das Flugzeug über den Finger verließ und sich in den Ankunftsbereich des Airports Heathrow begab. Er las sofort das Schild mit seinem Namen, das ein kräftiger Mann mit rötlich-glänzendem Bart hochhielt. Wahrscheinlich ein Ire, dachte Koster, und gab sich zu erkennen. Der Mann stellte sich als Mitarbeiter Bones vor. Sein Name war McCulloch – ein Schotte.

„Der alte Knochen lässt sich entschuldigen!“, dröhnte er, auf Bones Namen anspie­lend. „Er muss noch einen wichtigen Test abschließen, dann hat er aber Zeit für Sie.“

Er schaute auf Kosters leichtes Gepäck und fragte: „Wo sind denn die abgenagten Knochen?“

Lautstark lachte er über den eigenen Witz, war dann aber sehr hilfsbereit, als es darum ging, die Kiste aus dem Frachtbereich abzuholen.

„Jetzt wird mir klar, warum ich mit dem Kleinlaster kommen sollte“, keuchte er beim Verladen.

Langsam schob sich der Wagen durch den Londoner Verkehr. Koster war jedes Mal von neuem überrascht, wie groß London war. Sie mussten fast durch die ganze Innen­stadt bis nach Chigwell fahren. McCulloch hätte zwar auch über den nördlichen Außenring fahren können, doch er meinte lachend, sie hätten ohnehin noch Zeit, dann könnte er auch noch eine Sightseeingtour machen. Er erwies sich als geselliger Erzähler, der Koster auf viele Besonderheiten Londons aufmerksam machte und ihn fast von sei­ner eigentlichen Mission abgelenkt hätte.

Inmitten des grünen Villenvorortes Chigwell lag das Institut, das von außen eher unscheinbar erschien. Bone begrüßte ihn herzlich. Er kannte wohl alle Witze, die sein Name in Verbindung mit seiner Tätigkeit, der Erforschung paläontologischer Knochen, hervorrief. Von vielen Freunden wurde er liebevoll „Great Bone“ genannt.

Doch Koster brannte darauf, seinen Fund vorzustellen. Er bat Bone darum, den Fund zunächst allein zu besichtigen, um dann zu entscheiden, welcher Mitarbeiter ver­trauenswürdig genug war, daran mitzuarbeiten. Gespannt beobachtete er, wie Koster den Deckel abhob und den ersten Knochen aus der Holzwolle nahm. Prüfend nahm er ihn in die Hand und stellte sofort das geringe Gewicht fest.

„Ein Vogel!“, sagte er spontan. Dann nahm er jedoch einen Knochen nach dem anderen entgegen und schüttelte immer häufiger den Kopf.

„Das habe ich noch nie gehabt“, stellte er schließlich fest.

„Ich muss sie im Zusammenhang sehen!“

Koster erzählte ihm die Einzelheiten des Fundes und das festgestellte Alter der Ske­lette. Bone blieb skeptisch.

„Das wäre ungewöhnlich“, sagte er. Eigentlich wollte er „unmöglich“ sagen, doch als Wissenschaftler ging er mit diesem Wort sehr vorsichtig um.

„So lange halten sich nichtfossile Knochen nicht. Ich werde das Alter noch einmal überprüfen lassen.“

Aber Koster war dagegen, dafür einen Teil des kompletten Skelettes zu opfern. Das konnte man später immer noch nachholen. Zunächst wollte er wissen, wie das Lebewe­sen, das zu diesen Knochen gehörte, ausgesehen haben könnte.

Bone willigte ein und entschied sich, McCulloch als Mitarbeiter hinzuzuziehen. Er selbst hatte viele andere Aufgaben zu erledigen, würde aber in allen entscheidenden Phasen dabei sein.

Für die nachfolgenden Arbeiten benötigten sie eine große Fläche. Koster hatte eigenhändig jeden einzelnen Knochen nummeriert und die Lage dokumentiert. Gemeinsam mit McCulloch legten sie das gesamte Skelett so aus, wie sie es vorgefun­den hatten. McCulloch erwies sich als besonnener, behutsamer Wissenschaftler. Von seiner lautstarken Ruppigkeit war nichts mehr zu spüren. Immer stärker überwältigte auch ihn die Großartigkeit des Fundes. Als die Männer fertig waren, besichtigte Bone das Werk.

„Das ist kein Vogel“, bestätigte er. „Eher eine unbekannte Art von Saurier. Wir werden sehen!“

In der nächsten Phase wurde jeder einzelne Knochen dreidimensional eingescannt und digital erfasst. So erhielt man von ihm ein Bild auf dem Computermonitor, das man von allen Seiten betrachten konnte.

Danach wurde die Position jedes Knochens zu seinen Nachbarn exakt bestimmt, indem die Bewegung der Gelenke, der Drehwinkel etc., mittels Computersimulation ermittelt wurden. Auf dieser Basis konnte ein Knochen nach dem anderen in ein Gesamtbild eingefügt werden, bis sich das ganze Skelett dreidimensional herausbildete.

Diese Arbeit zog sich über mehrere Tage hin, in denen Koster nur sporadisch telefonisch zu seinem Team in Spanien Kontakt aufnahm. Dort ging die Arbeit routine­mäßig weiter. Die sorgfältige Aufnahme und Katalogisierung aller Skelette war eben sehr zeitaufwendig, ohne dass neue Erkenntnisse zutage traten. Bisher hatte man acht Höhlen mit Skeletten entdeckt, einige weitere Höhlen waren leer.

Koster konnte sich mit dem Fortschreiten seiner Arbeit in London kaum noch von ihr trennen. Es entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zu McCulloch, der von Tag zu Tag begeisterter an der Arbeit war. Hatten sie wieder einmal eine wichtige Phase der Rekonstruktion erreicht, lud er Koster nach getaner Arbeit zu einem kräftigen Schluck Malt Whisky ein.

„Das hält Geist und Seele zusammen!“, meinte er jedes Mal entschuldigend. Koster hatte längst herausgefunden, dass in dem rauen Kerl eine empfindsame schottische Seele steckte.

Als sie sich das erste Mal die Gesamtrekonstruktion des Skelettes ansahen, holten sie Bone wieder hinzu.

Gespannt beobachteten sie den Monitor, auf dem das Skelett unter den geschickten Händen McCullochs zum Leben erwachte. Dreidimensional sahen sie, wie das Skelett lief, sich nach allen Seiten drehte, den Schwanz bewegte, den Kopf hob, sich aufrich­tete und dabei mit dem Schwanz abstützte.

Durch McCullochs Programmierung konnte jede Bewegungs­möglichkeit zwischen den Gelenken simuliert werden. Dadurch wurde die Gesamtbeweglichkeit ermittelt.

Andächtig verfolgten die Männer alle Bewegungen, die McCulloch durch immer neue Programmprozeduren ermittelte. Es war Koster, als wäre „sein“ totes Skelett zum Leben erweckt worden. Das Tier war erwacht. Bone und McCulloch betrachteten das Geschehen etwas nüchterner. Zu oft schon hatten sie mit diesem Effekt gearbeitet.

Nun galt es aber, Fleisch an die Knochen zu bringen. Dieser Vorgang war noch auf­wendiger als das Zusammenfügen des Skelettes. Aber auch hier half der Computer.

An jedem Knochen befanden sich Merkmale, die sich durch das Anwachsen von Muskeln und Sehnen entwickelt hatten. Die Struktur der Knochen, die Lamellenanord­nung etc., ließen unter Berücksichtigung der Schwerkraft Rückschlüsse auf die Muskelmasse zu. Einfache statische Berechnungen ergaben wiederum das Verhältnis der Knochen­stärke zu den Muskeln, die erforderlich waren, das Knochengerüst und den ganzen Körper zu tragen und zu bewegen. Alles hing irgendwie von allem ab. Im Laufe der Forschung auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten hatten sich Abhängigkeiten herauskristallisiert, die alle in dem entsprechenden Computerprogramm gespeichert waren.

McCulloch benötigte mehrere Stunden, bis er die noch fehlenden Daten eingege­ben hatte. Die wesentlichsten Fakten konnten bereits aus dem rekonstruierten Skelett herausgelesen werde. Aufatmend lehnte er sich zurück.

„Wenn wir Glück haben, war das alles. Den Rest macht der Rechner. Wir müssen nur noch warten.“

Entgegen Kosters Erwartung machte er keinerlei Anstalten, die Flasche mit dem Malt Whisky aus dem Schrank zu holen. Vor dem Ablauf einiger Stunden war das Ergebnis nicht zu erwarten.

Die Warterei zog sich die ganze Nacht hin. Keiner der beiden wollte schlafen gehen, obwohl sie das Ergebnis dann am nächsten Morgen ausgeschlafen gesehen hätten. Meh­rere Becher Pulverkaffee bereitete McCulloch im Laufe der Nacht für Koster. Das Labor war mit keiner Kaffeemaschine ausgerüstet, und er selbst trank ohnehin Tee.

Den Monitor hatten sie eingeschaltet, um den Fortschritt der Berechnungen zu sehen. Doch nur langsam entwickelte sich ein System von dreidimensionalen Gitterli­nien, die eher verwirrend wirkten. Jeder errechnete Muskel, jede Sehne wurden darge­stellt. Koster konnte bald nichts mehr erkennen. Zu unübersichtlich war die Vielzahl der Linien.

McCulloch war gelassener. Er hatte diesen Vorgang schon öfter beobachtet. Trotzdem wurde sein Interesse am Bildschirm im Laufe der Stunden immer größer. Großartiges schien sich dort zu entwickeln.

Als Bone in den frühen Morgenstunden erschien, saßen beide Wissenschaftler mit rotunterlaufenen Augen vor dem Bildschirm und starrten gebannt darauf.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, entfuhr es ihm.

Koster schaute auf. Was hatte Bone mit einem Blick gesehen, das ihm entgangen war? Er sah nur Liniengewirr.

„Es ist gleich fertig“, stellte McCulloch fest.

Kurz darauf erschien auch die Meldung auf dem Monitor.

Ein undefinierbares Bündel von Linien füllte den Bildschirm aus. McCulloch erweckte das Gebilde zum Leben. Mühsam – wie es schien – erhob sich das Monster und fing an zu laufen. Zwei Paar Beine richteten den schlanken Körper auf, ein langer Hals hob den Kopf an, und ein langer kräftiger Schwanz schleppte hinterher.

„Die Außenhaut!“, befahl Bone, und McCulloch tastete die erforderlichen Befehle ein. Das Liniengewirr überzog sich, vom Kopf beginnen, mit einer undurchsichtigen Haut. Sie war gelbbraun und plastisch mit allen Schatten, die sich durch die simulierte Beleuchtung ergaben. Auch Koster erkannte nun das Tier in aller Deutlichkeit.

„Das ist doch ...“, die Worte blieben ihm im Munde stecken.

„Ein Drache!“, entfuhr es McCulloch, und Bone nickte.

Die Simulation zeigte eindeutig ein Ungeheuer, das den Fantasien der Menschen des Mittelalters entsprungen schien.

McCulloch zog alle Register seines Könnens und belebte das Urvieh mit all seinen Möglichkeiten. Zügig lief es über eine gedachte Fläche, erhob sich auf die Hinterbeine, stützte sich dabei auf den kräftigen Schwanz und zeigte die mächtigen Krallen seiner Vorderfüße. Es bog den beweglichen Hals nach hinten, öffnete den weiten Rachen und entblößte zwei Reihen gefährlicher Zähne.

Noch gefährlicher schien aber der dolchartige Hakenschnabel zu sein, der am Ober­kiefer saß. McCulloch bleckte den Rachen so dramatisch nach vorne, dass Koster und Bone vor Schreck zurückzuckten.

Wie gefährlich musste das Tier in seiner Umwelt gewesen sein! McCulloch ließ es zur Ruhe kommen, damit sie weitere Einzelheiten erkennen konnten. Oberhalb des Rachens saßen zwei Augen, die offensichtlich nach vorn und zur Seite sehen konnten. Dahinter fächerte sich ein Hautlappen auf, der bei Bedarf aufgestellt werden konnte, vermutlich um den Kopf größer erscheinen zu lassen. Vom Kopf bis zum Ende des Schwanzes zog sich eine Reihe von Höckern hin, die im Nacken am höchsten waren und zum Schwanz immer kleiner wurden.

Interessant waren auch die Stummelflügel am Schulteransatz, die zu klein zum Flie­gen erschienen, aber trotzdem kräftig ausgebildet waren.

„Konnte der Drache fliegen?“, fragte Koster die beiden Experten.

„Das ist so ohne weiteres nicht zu sagen“, antwortete Bone nachdenklich.

„Das müsste noch durch andere Berechnungen ermittelt werden. Zunächst haben wir nur die Bewegungsmöglichkeiten auf einer ebenen Fläche dargestellt.

„Aber die Flügel sind viel zu klein zum Fliegen“, wandte McCulloch ein.

„Das haben die Wissenschaftler früher auch von der Hummel behauptet“, entgeg­nete Bone.

„Los, an die Arbeit! Bringen wir den Drachen zum Fliegen!“

Lächelnd wandte er sich dem fassungslosen Koster zu:

„Schließlich weiß jedes Kind, dass Drachen fliegen können.“

Er verließ das Labor, und McCulloch machte sich wieder an die Arbeit. Selbstver­ständlich waren auch alle Daten der Aerodynamik, des Auftriebs etc., im Zentralrech­ner gespeichert. Er musste sie nun mit dem Modell in Verbindung bringen.

Zunächst berechnete er das wahrscheinliche Gewicht des Drachen. Das ließ sich anhand der Muskelmasse leicht ermitteln. Die Simulation ergab jedoch keinerlei Hinweise über die inneren Organe des Tieres. Wie groß, wie schwer waren Lungen, Herz, Darm, Leber und was er sonst noch für Organe gehabt haben mochte.

Auf welche Weise pflanzte er sich fort? Legte er Eier oder trug er möglicherweise Nachwuchs in seinem Körper, der bei der Gewichtsberechnung auch noch eine Rolle spielte?

Das waren Fragen, die McCulloch nicht beantworten konnte. Er fügte einfach ein geschätztes Gewicht hinzu. Dann gab er die Werte der Luftdichte ein, die auf die Flä­chen der kurzen Flügel einwirkten und die Anziehungskraft.

Die ersten Simulationsver­suche zeigten aber eindeutig, dass der Drache mit seinen Flügeln flattern konnte, soviel er wollte. Er hätte sich keinen Zentimeter vom Boden erhoben. Alles wies darauf hin, dass der Drache nicht fliegen konnte.

McCulloch wusste keinen Rat mehr. Die Nacht war schon fortgeschritten. Er stand auf, um sich eine Tasse Tee aufzubrühen. Genüsslich trank er ihn in kleinen Schlucken. Aus einem Blatt Papier faltete er geistesabwesend einen Flieger, wie er es schon als Kind getan hatte und gab ihm einen leichten Stoß. Der Papierflieger startete leicht nach oben, beschrieb eine elegante Kurve durch das Labor und stürzte dann ab.

Das war es! dass er daran nicht früher gedacht hatte! Der Flieger flog, ohne mit den Flügeln zu flattern. Jedes Flugzeug konnte dies, und er war nicht darauf gekommen.

Er setzte den Drachen auf eine simulierte Felsenklippe.

Koster war schon lange auf seinem Stuhl mit dem Kopf auf der Tischplatte einge­schlafen, als McCulloch sich schließlich räusperte.

„Professor, ich hab´s!“, rief er behutsam.

Koster hob den Kopf und war sofort hellwach. Fragend schaute er McCulloch an.

„Ich bin mir nicht sicher“, zögerte dieser.

„Aber wenn eine Hummel fliegt, kann es dieser Drache auch. – Vielleicht!“, fügte er hinzu. Dann erläuterte er seine Theorie.

„Eindeutig sind die Stummelflügel zu klein, um genügend Auftrieb zum Fliegen zu erzeugen. Sie sind aber groß genug für einen Gleitflug bei hoher Geschwindigkeit. Die Frage ist nun, ob es dem Drachen auf andere Weise gelungen ist, diese Geschwindigkeit zu erreichen.“

Koster lauschte interessiert, und McCulloch fuhr fort.

„Mir sind die leichten Lamellenknochen, wie man sie nur bei flugfähigen Lebewesen findet und die ungewöhnlich starken Muskeln des Schwanzes aufgefallen.“

Mit einigen Tastaturbefehlen entfernte er die Oberfläche und alle anderen Muskeln aus der Simulation, bis nur noch die Schwanzmuskeln übrigblieben.

„Die Muskulatur ist stärker ausgeprägt, als es zur Benutzung des Schwanzes auf der Erde erforderlich gewesen wäre.“

Er zeigte auf mehrere diagonal angeordnete Muskelstränge und erläuterte weiter.

„Diese Muskeln haben offensichtlich die Aufgabe, den Schwanz mit ungeheurer Wucht seitlich zu peitschen. Der dadurch entstehende Luftwiderstand könnte einen genügend hohen Auftrieb erzeugen, der in Verbindung mit den Stummelflügeln aus­reicht, den Drachen fliegen zu lassen, ähnlich wie sich eine Kaulquappe im Wasser fort­bewegt.“

Er tastete ein vorbereitetes Programm ein und ließ den Drachen davonfliegen.

Andächtig schauten beide auf den Bildschirm, auf dem sich der Drache mit weit ausgestreckten Flügeln durch die Luft schlängelte.

„Das ist ja fantastisch!“, entfuhr es Koster. McCulloch programmierte die Bewe­gungen mit dem Spaß eines Kindes, das sich in Computerspielen übt. Er ließ den Dra­chen landen und mit verschiedenen Techniken wieder starten. Sie lachten wie die Kinder, wenn sich der Drache mühte, hopsend und flügelschlagend in die Luft zu kom­men und dabei auf den platten Bauch fiel.

Sie versuchten, ihn zweibeinig laufen zu lassen, was ebenfalls missglückte, da der schwere Schwanz dabei störte. Es gelang ihm nur, sich aufzurichten. Der Drache bewegte sich offensichtlich auf dem Boden vierbeinig vorwärts. Koster bewunderte das Muskelspiel, das sich plastisch unter der Haut zeigte. Noch immer war diese gelbbraun gefärbt.

„Welche Hautfarbe wird der Drache gehabt haben?“, fragte er für sich selbst. Inzwi­schen hatten sie wie selbstverständlich das Wesen als „Drachen“ eingestuft, obwohl diese bisher als reine Fantasiewesen gegolten hatten.

„Wir können jede Hautfarbe simulieren“, stellte McCulloch fest, öffnete eine Farb­palette in einer Ecke des Monitors und wählte ein kräftiges Grün. Sofort überzog sich die Oberfläche des Drachen mit dieser Farbe. Nun sah er noch mehr wie ein echter Drache aus.

„Wie wird die Oberflächenstruktur der Haut gewesen sein?“, fragte Koster weiter.

„Das ist nicht genau zu rekonstruieren“, überlegte McCulloch. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte dafür. Wir können nur versuchen, die Umweltbedingungen vor 10 Mil­lionen Jahren zu ermitteln, um daraus eine Hypothese aufzustellen. Doch das wäre reine Spekulation.

Gehen wir aber von ähnlich aussehenden Lebewesen der damaligen Zeit aus, dürfte die Haut hornartig geschuppt gewesen sein oder zumindest stark verhärtet, wie es zum Beispiel bei Krokodilen der Fall ist. Die Bewegungsmöglichkeiten des Skelettes lassen aber keine großflächigen Panzerplatten wie zum Beispiel bei der Schildkröte oder beim Gürteltier zu. Möglich wären starke Schuppen, die wie Schindeln auf der Oberfläche gelegen haben.

Er gab einen neuen Befehl ein und beobachtete das Ergebnis. Das Ungeheuer wurde noch plastischer und detaillierter.

„Donnerwetter!“, entfuhr es Koster. Inzwischen war der Drache für ihn mehr als nur ein Haufen Knochen.

Er lebte!

Mit seinen Zauberhänden hatte McCulloch ihn wahrhaftig zum Leben erweckt.

Koster ließ sich von McCulloch die Animationsbeispiele auf eine Videokassette überspielen, um sie auch anderorts auswerten und vorführen zu können. Das Skelett ließ er vorläufig bei Bone in London und versprach diesem, einige weitere Knochen zur Altersbestimmung zu schicken. McCulloch sagte zu – notfalls in seiner Freizeit – weitere virtuelle Experi­mente anzustellen. Auch ihn würde der Drache in Zukunft nicht mehr loslassen.

Triumphierend kehrte Koster nach Spanien zurück.

Drachenkinder

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