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Die Schlucht der Höhlen

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Die Hauptfarbe des Flickenteppichs war rot in allen Schattierungen mit grünen Fle­cken. Koster starrte aus dem Fenster des Flugzeuges nach unten und beobachtete, wie sich der Teppich entfernte und immer weiter ausbreitete, bis er am Horizont im Dunst verschwand.

Pünktlich um 14.00 Uhr war er in Madrid gestartet und auf dem Weg nach Sevilla. Madrid lag in einer riesigen Ebene, die überwiegend rötlich leuchtete. Das Flugzeug flog nach Süden, und Koster konnte aus dem Fenster nach Westen sehen. In der Ferne zog sich eine Bergkette dahin, mit einem schneebedeckten Gipfel. Er fischte sich die Bordillustrierte aus dem Vordersitz, suchte nach einer Landkarte und fand eine ausge­zeichnete geographische Spanienkarte. Koster hatte sich schnell orientiert. Die Berg­kette musste das Kastilische Scheidegebirge sein, mit dem 2592 m hohen „Pico de Almanzor“. Unten lagen meist wenig bewachsene Flächen aus rotem Stein oder Sand. Nur vereinzelt leuchteten grüne Flecken dazwischen: graugrünes Grasland mit dunkel­grünen einzelnen Bäumen und Sträuchern oder olivgrüne Wälder. Im Gegensatz zu deutschen Landschaften gab es kaum rechteckige Flächen. Hier waren alle Linien gewunden wie zufällig liegengebliebene Bindfäden. Es war von hier oben nicht zu erkennen, ob die Linien Straßen oder Wasserläufe waren. Inzwischen war die Maschine schon einige tausend Meter hoch, und der Horizont verschwand im Dunst. Nach unten konnte er aber noch gut sehen.

Zehn Minuten später lag ein riesiger Stausee unter ihm. Der hohe, leicht gebogene Staudamm war deutlich zu sehen. Das musste der Stausee von Cijara sein, der den Lauf des Guadiana hemmte. Mehrere langgestreckte Höhenzüge in Ost-West-Richtung waren den Bergen der Sierra Morena vorgelagert, die vor ihnen lagen. Koster schaute nachdenklich hinunter. Dort unten, an einem der schroffen Felsen, lag sein eigentliches Ziel. Aber das war nur über Land zu erreichen.

Die Berge unter ihm wurden höher und zerklüfteter. An den Nordseiten der Täler lag noch Schnee. Es zogen immer mehr Wolken auf, doch ab und zu war ein Blick nach unten möglich. Gegen 14.50 Uhr machten die Berge einem weitgestreckten, grünen Tal Platz. Ein Fluss wand sich hindurch, undeutlich konnte Koster eine Stadt im Dunst erkennen. Es waren der Guadalquivir und Sevilla. Das Flugzeug ging in den Landeanflug über, und wenige Minuten später waren sie am Boden.

Lewin wartete schon ungeduldig hinter der Gepäckausgabe. Er konnte seine Aufre­gung kaum bändigen.

„Es ist überwältigend! Das müssen Sie unbedingt sehen!“, stürzte er auf Koster zu, kaum dass er ihn entdeckt hatte.

„Ja, ja, das haben Sie mir schon am Telefon gesagt! Deshalb bin ich ja hier“, wehrte Koster ab. Er war zwar auch begierig auf diese kleine Sensation, die sein Assistent ent­deckt haben wollte, doch er blieb eher skeptisch. Echte Neuentdeckungen waren selten geworden.

„Haben Sie inzwischen alles vorbereitet?“, fragte er betont zurückhaltend.

„Ja, wir können sofort weiterfahren. Ich habe vorsichtshalber eine Ausrüstung zusammengestellt, die uns weitgehend unabhängig macht.“

Koster nickte zufrieden. Auf Lewin konnte er sich verlassen. Neben dem Terminal wartete schon ein geländegängiger Unimog mit Kastenaufsatz, der entfernt an ein Motor­home erinnerte. Bevor sie losfuhren, ließ er sich noch die Ausstattung zeigen. Über eine kleine Klappleiter an der Heckseite kam man in den Innenraum, der vollge­stopft mit Kisten und technischen Geräten war.

„Ich musste etwas improvisieren“, erläuterte Lewin, „Natürlich durfte ich über den Zweck unserer Reise nichts verlauten lassen. Man hält mich hier für einen spinnerten Geologen, der nur Steine sammelt. Na ja, so falsch ist das ja auch nicht.“

Er zeigte auf die geschlossenen Kisten und erläuterte kurz den Inhalt. Mehrere Klapptische und Stühle standen an der Seitenwand. Wenn das Wetter mitmachte, konnten sie weitgehend im Freien arbeiten. Trotzdem hatte er auch ein größeres Zelt für die Arbeit und zwei Schlafzelte aufgeladen.

Koster war zufrieden. Er hielt es für ebenso unnötig, sich in Sevilla ein Hotelzimmer zu nehmen, wie Lewin. Die nächsten Tage würden sie ohnehin in den Bergen übernach­ten. Also konnten sie auch sofort losfahren. Auf der nördlichen Umgehungsstraße umfuhren sie Sevilla, überquerten den Gua­dalquivir und bogen nach Norden auf die Straße Richtung Merida ab. Nach einigen Kilometern hatten sie das breite Tal des Flusses verlassen und fuhren immer höher in die Berge der Sierra Morena. Noch befanden sie sich auf der gut ausgebauten Europa­straße und kamen zügig voran. Koster hatte Zeit genug, die Geschehnisse der letzten Tage an sich vorbeiziehen zu lassen. Als Anthropologe auf dem Spezialgebiet der Paläoanthropologie und Paläontologie besaß er zwar einen Lehrstuhl der Fakultät für Geowissenschaften an der Universität München, doch seine Arbeit trieb ihn immer wieder in die Welt hinaus, wenn es um neue Funde ging, die seine Forschungen über die Entstehung der Menschheit unter­stützten. Es war ihm aber unmöglich, an jeder Ausgrabungsstätte anwesend zu sein, um nach Hinweisen zu suchen. In dieser Hinsicht unterstützte ihn sein wissenschaftlicher Assistent und „Hans Dampf in allen Gassen“ Dr. Josef Lewin. Wie ein Sensationsrepor­ter verfolgte er weltweit alle Hinweise auf Ausgrabungen und paläontologische Funde und recherchierte sorgfältig, ob sie für die Forschung Kosters Bedeutung haben könn­ten. Vor einigen Wochen war ihm eine kleine Pressemitteilung aufgefallen, die jedoch kaum allgemeines Interesse erweckt hatte.

An einem Höhenzug nördlich der spani­schen Sierra Morena war es durch geotektonische Verschiebungen zu einem Bergsturz gekommen, bei der einige bis dahin unzugängliche Höhlen freigelegt wurden. Ein Schafhirt hatte eine Höhle betreten und die Knochen eines angeblich großen Tieres gesehen. Der Veterinär der nächsten Kleinstadt identifizierte sie als „ungewöhnlich große Rinderknochen“, und damit schien die Angelegenheit zunächst erledigt zu sein. Nicht jedoch für Lewin, dem die „ungewöhnlich großen Rinderknochen“ nicht aus dem Kopf gingen. Mit Genehmigung der Universität und im Auftrag Kosters fuhr er persönlich dort hin, um sich den Fund anzusehen. Er fand schnell heraus, dass es keine Rinderknochen sein konnten, denn sie unterschieden sich erheblich von denen in Form und Größe. Telefonisch teilte er Koster mit, dass er es für angebracht hielt, wenn dieser den Fund persönlich begutachtete.

So kam es denn, dass sich Koster auf den Weg machte. Heute früh war er in Mün­chen in einer Linienmaschine nach Madrid gestartet und dort in ein kleineres Inland­flugzeug nach Sevilla umgestiegen. Den Rest der Strecke konnte man nur mit dem Auto zurücklegen.

Lewin kannte sich inzwischen aus. Er war die Strecke in den letzten Wochen schon mehrmals gefahren. Das Ziel in den Bergen war heute nicht mehr zu erreichen. Sie beschlossen deshalb, in einem kleinen Motel kurz hinter Santa Olalla del Cala zu über­nachten, um dann am nächsten Morgen ausgeruht weiterzufahren.

Die Sonne brannte schon früh am Morgen, als die Männer aufbrachen. Nach weni­gen Kilometern bogen sie auf eine kleinere Straße Richtung Llerena ab und kletterten auf der Serpentinenstrecke immer höher in die Berge. Sie hatten kaum einen Sinn für die landschaftlich eindrucksvolle Fahrt. Koster war begierig, die versprochene Höhle zu besichtigen und Lewin noch aufgeregter in der Erwartung, seine Entdeckung zu zeigen.

Eine Schotterstraße führte sie zu dem kleinen Dorf Puebla del Valle, in dem der Schafhirt Ortega wohnte. Doch zunächst suchten sie diesen nicht auf, sondern fuhren wei­ter auf abenteuerlichen Pfaden in ein schmales Tal hinein. Zu beiden Seiten erhoben sich steile Felsen, die sich zum Teil mehrere hundert Meter über das Niveau des Weges erhoben. Es wurde immer schwieriger, mit dem Unimog zu fahren. Der Pfad bestand hauptsächlich aus dem Geröll, das im Laufe der Jahrhunderte von den Bergen herabge­fallen war. Ein schmaler Trampelpfad war gut zu erkennen, auf dem wahrscheinlich seit Urzeiten Schafe und Menschen gewandert waren. Lewin hatte mit Hilfe des Schafhir­ten in den letzten Tagen einige größere Felsbrocken beiseitegeschafft, um die Auffahrt mit dem Unimog zu ermöglichen.

Das Tal stieg gleichmäßig an, und im gleichen Maße wurden die Berge zu beiden Seiten niedriger. Stundenlang schaukelten die beiden Männer im Schritttempo voran. Lewin erwies sich als hervorragender Fahrer auf dieser schwierigen Piste.

Als sich das Tal verbreiterte, konnte Koster die geologischen Schichtungen an der Nordwand besser erkennen. Er versuchte, sie einzuordnen. Die harten Abrisskanten deuteten auf erdgeschichtlich späte Erhebungen hin. Die Erosionen waren noch nicht sehr stark ausgeprägt.

Lewin zeigte auf einen Bergrutsch an der Nordwand, der das Tal erheblich schmaler gemacht hatte.

„Wir sind da!“

Koster betrachtete beim Näherkommen prüfend die Wand und entdeckte eine ganze Reihe von Höhleneingängen, die offensichtlich durch diesen Erdrutsch freigelegt worden waren. Es sah so aus, als wäre ein haushoher Felsenkeil durch Erosion abge­sprengt und in die Schlucht gefallen. Riesige scharfkantige Steine lagen am Fuß der Felswand und reichten fast bis zu einem Drittel hinauf.

Lewin hielt den Unimog am Fuße des Geröllhaufens an.

„Dort hinauf!“, zeigte er auf ein dunkles Loch, das über den Bergrutsch zu errei­chen war. Die Männer begannen, über die Felsbrocken hinaufzusteigen. Nach einigen Metern fasste sich Lewin an den Kopf und stieg wieder hinab. Mit zwei kräftigen Akku­lampen machte er sich erneut an den Aufstieg. Koster hatte inzwischen geduldig gewartet. Er wollte Lewin nicht den Triumph nehmen, ihm die Höhle persönlich zu zei­gen. Von der ungewohnten Anstrengung nach Atem ringend, kamen sie oben an. Der Höhleneingang war so hoch, dass sie aufrecht gehen konnten. Die Lampen benutzten sie zunächst nicht. Langsam gingen sie hinein. Der Boden war glatt und sah so aus, als wäre er über lange Zeit begangen worden.

Sie folgten einem etwa vier bis fünf Meter langen Gang, in den zurzeit die tief ste­hende Nachmittagssonne hineinschien. Danach öffnete sich der Gang zu einer mehrere Meter breiten Höhle.

Hier lag eine Vielzahl von Knochen. Ganz vorn war ein merkwürdig geformter Schädel zu sehen, danach folgten weitere Knochen, die offen­sichtlich zu einem langgestrecktem Tier gehörten, das hier gestorben und danach nicht mehr bewegt worden war. Eine Reihe von Schwanzknochen verlor sich im Halbdunkel der Höhle.

Koster schüttelte den Kopf. Das war äußerst untypisch. In solchen verschlossenen Hohlräumen, die durch Abspaltungen frei wurden, konnte man normalerweise niemals Reste von Lebewesen finden. Wie sollten sie auch hineingeraten sein?

Jetzt erst schaltete er seine Lampe an. Die Knochen waren gut erhalten. Koster kramte in seinem Gedächtnis, ob er derartig geformte Knochen schon gesehen hatte. Sie passten zu keinem Tier, das ihm bekannt war, einschließlich der prähistorischen. Ohne Zweifel waren es aber keine Rinderknochen, wie es der Veterinär behauptet hatte.

Das Tier hatte eine Körperlänge mit Hals und Kopf von ca. drei Meter, zuzüglich einem Schwanz von etwa der gleichen Länge. Es lag auf fast sechs Meter ausgestreckt. Wer dieses mit einem Rind verwechseln konnte, musste schon sehr schlecht sehen kön­nen. Koster schaltete seine Lampe ab und wies Lewin ebenfalls dazu an. Im Halbdunkel waren jetzt nur noch die Schädel- und Halsknochen gut zu erkennen. Der Rest verlor sich in der Dunkelheit der Höhle. Wenn man sich nun noch die Situation am Vormittag vorstellte, wenn die Sonne nicht durch den Gang schien, dann war der Irrtum des Veterinärs vielleicht verständlich.

„Na, was sagen Sie nun, Professor?“, fragte Lewin gespannt.

Kosters Aufregung war bereits von nüchterner Überlegung verdrängt worden. Trotzdem stellte sich eine ungeheure Spannung ein.

„Das ist eine Sensation!“, sagte er anerkennend, „Das ist die ungewöhnlichste Ent­deckung, die wir jemals gemacht haben.“

Kopfschüttelnd schritt er die Länge des Skelettes ab, als wollte er sie messen.

„Ich weiß nur nicht, was das sein soll. Vielleicht eine völlig neue Spezies. Das wäre wahnsinnig!“

Entschlossen drehte er sich um und hob die Hand zu einem triumphalen Schlag in die ebenso erhobene Hand Lewins. Dann umarmte er gegen alle Gewohnheiten seinen Mitarbeiter und Freund, der gar nicht wusste, wie ihm geschah.

„Es liegt viel Arbeit vor uns!“, sagte Koster. „Erst das Standardprogramm: Alters­bestimmung, chemische Zusammensetzung der Knochen und der Umgebung, geologi­sche Besonderheiten, Altersbestimmung der Höhle, Rekonstruktion und so weiter. Doch zunächst bleibt alles geheim: keine Presse, keine Auskünfte an Dorfbewohner etc. Wir wollen keine schlafenden Hunde wecken. Wir müssen erst wissen, was das ist, ehe wir an die Öffentlichkeit gehen.“

„Vielleicht ist es ja auch nichts“, fügte er nachdenklich hinzu.

„Natürlich ist es was!“, protestierte Lewin: „Das hab ich im Gefühl!“

Koster hob besänftigend die Hand.

„Abwarten.“

Sie verließen die Höhle wieder und schauten in die untergehende Sonne. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, um sich für die Nacht einzurichten.

Unter einem Felsvorsprung an der gegenüberliegenden Wand fanden sie einen geschützten Platz für die Zelte. Lewin hatte sie schnell aufgebaut, während Koster schon die Ausrüstung sichtete. Das große Zelt richteten sie als Arbeitsraum und Labo­ratorium ein. Der Einfachheit halber stellte Koster auch sein Feldbett hinein. Er hasste die kleinen Schlafzelte. Lewin stellte siegesgewiss eine Flasche schweren Portwein auf den Klapptisch, als sie alles eingerichtet hatten.

„Wir haben einen Grund zum Feiern!“, sagte er, Koster ein gefülltes Glas reichend. „Den Rest der Flasche trinken wir, wenn wir wissen, was es ist.“

Befriedigt saßen die Männer anschließend in der warmen Abendluft und nutzten die Gelegenheit, wieder einmal ausgiebig miteinander zu reden. Lewin hatte viel zu erzählen und neigte dazu, seine Erlebnisse mit weiteren Arabesken zu versehen. Koster schmunzelte. Er kannte seinen Freund gut und freute sich immer wieder über diese sel­tenen Abende, die sie für sich allein hatten. Als sich Lewin schließlich in sein Schlafzelt zurückzog, hatten sie die Flasche doch schon geleert.

Am nächsten Morgen stiegen sie mit Fotoapparaten, Maßbändern und Zeichen­brettern nach oben. Bevor sie auch nur einen Knochen berührten, wurde die ganze Szene ausgiebig fotografiert. Die Lage in der Höhle war ebenso wichtig, wie die Posi­tion der Knochen zueinander.

Dann folgte eine Aufmessung des Skeletts. Kosters Schätzung vom Vortag war ziemlich genau. Das gesamte Skelett vom Kopf bis zum Schwanz hatte eine Länge von 5,90 Meter, wovon fast genau drei Meter auf den Schwanz entfielen. Dem ersten Anschein nach, konnte es ein Saurier sein. Doch dann musste es eine bisher unent­deckte Art sein. Das Skelett passte zu keiner der bekannten Typen. Völlig verblüfft war Koster, als er schließlich einen Knochen aufnahm. Er hatte offensichtlich kein Fossil – also keine Versteinerung – in der Hand, sondern einen Knochen im Originalzustand. Er war ungewöhnlich leicht und bestand aus einer Vielzahl feinster Lamellen, die zu einer luftigen Konstruktion allerfestester Bauart gewachsen waren. Ähnliche Knochen hatten auch die heutigen Vögel und die flugfähigen Echsen der Vorzeit. Koster zweifelte plötzlich an der Sauriertheorie. Das Skelett musste erheblich jünger sein. Vielleicht war der Fund aus prähistorischer Sicht doch wertlos. Aber er deutete auf eine noch nicht entdeckte Tierart hin.

Lewin hatte sich inzwischen in der Umgebung umgesehen und kam mit der Nach­richt zurück, dass er in einer anderen Höhle ein weiteres Skelett entdeckt habe. Die Höhle war nur durch eine waghalsige Klettertour zu erreichen, da sie einige Meter oberhalb des Geröllberges lag. Trotzdem stieg Koster hinauf. Wie Lewin bereits berich­tet hatte, lag auch in dieser Höhle ein Skelett gleicher Art und etwa gleicher Größe. Doch Koster fiel sofort eine Besonderheit auf. Auf dem flachen Brustbein war eine deutliche Kratzspur zu sehen, die unmöglich erst nach dem Tod des Tieres entstanden sein konnte. Koster befühlte den scharfkantigen Riss, der die zarte Lamellenstruktur an der Oberfläche zerstört hatte. Nach den Erfahrungen ähnlicher Funde handelte es sich eindeutig um die Einwirkung mit einem scharfen Gegenstand – wahrscheinlich einer Waffe.

Die Entdeckung wurde immer rätselhafter. Nachdenklich schaute Koster die Fels­wand empor, nachdem er wieder abgestiegen war. Viele dunkle Löcher deuteten auf weitere Höhleneingänge hin. Sollten sich in den Löchern noch andere Skelette befinden? Hatten sie hier eine ganze Kolonie unbekannter Spezies entdeckt, die in ihren Höh­len gesessen hatten, wie Bienenlarven in ihren Waben?

Das Projekt schien plötzlich zu groß für nur zwei Personen zu werden. Das Institut in München musste ihnen weitere Unterstützung schicken. Über Handy nahm Koster Verbindung auf und schilderte die vorgefundene Situation. Ihm wurden zwei Geologen bewilligt, die sich mit weiterer Ausrüstung auf den Weg machen sollten. Inzwischen arbeitete er mit Lewin weiter.

Zunächst war es wichtig, das Alter der Knochen zu bestimmen. Allerdings war das mit den vorhandenen Instrumenten nicht möglich. Eine genaue Datierung ließ sich nur mit der Radiocarbon-Methode erreichen. Die erforderlichen Geräte befanden sich aber in München. Koster schickte Lewin mit einem ausreichend großen Schwanzknochen nach Sevilla, um dort die kostbare Sendung als Luftfracht aufzugeben. Der örtlichen Post wollte er nichts anvertrauen.

Für Hin- und Rückfahrt benötigte Lewin zwei Tage. In der Zwischenzeit arbeitete Kos­ter weiter. Kurz nachdem Lewin abgefahren war, erschien ein Einheimischer, der sich als Ortega, der Schafhirt vorstellte. Er trieb eine Schafherde durch die Schlucht und kam dabei an den Zelten vorbei. Koster nutzte die Gelegenheit, ihn über die geogra­phische Situation vor dem Erdrutsch zu befragen. Er erfuhr, dass die Schlucht vorher zu beiden Seiten von steilen Felswänden begrenzt gewesen war. Die Höhleneingänge waren erst durch den Erdrutsch zum Vorschein gekommen. Koster musterte die geolo­gische Schichtung der Felswände zu beiden Seiten und stellte deutliche Übereinstim­mungen fest. Das deutete darauf hin, dass die beiden Felswände früher einmal verbunden gewesen waren und irgendwann in grauer Vorzeit durch Verschiebung getrennt wurden. Eine Auswaschung durch Erosion schied aus. Dafür gab es keine ein­deutigen Hinweise. Wenn das aber stimmte, folgerte Koster, müssen die Hohlräume früher in dem intakten Felsen gewesen sein. Die Anwesenheit der Skelette wurde dadurch noch unerklärlicher.

Als Ortega seine Schafe weitertreiben wollte, forderte er Koster auf, mitzukom­men. Beide stiegen schweigend die Schlucht hinauf. Koster ließ seinen Gedanken freien Lauf, was ihm während solcher Wanderungen immer am besten gelang. So merkte er kaum, dass sie oben angelangt waren.

Sie standen plötzlich auf einem Hochplateau mit weitem Blick über eine bis zum Horizont reichende Ebene. Die fantastische Aussicht nahm Koster gefangen. Obwohl sie nun schon einige Tage in der Nähe kampierten, waren weder Lewin noch er selbst auf die Idee gekom­men, die Schlucht bis nach oben zu gehen.

Die Schafe verteilten sich und knabberten an dem kärglichen Gras, und Koster ging bis an den Rand des steilen Felsens, der hier oben schon kräftig abbröckelte. Er setzte sich auf einen Stein und entspannte seinen Geist, der in den letzten Tagen auf Hoch­touren gearbeitet hatte. Eine Stunde hier oben, schien wie ein ganzer Tag Urlaub zu sein. Er verstand plötzlich den Schafhirten viel besser, der mit seinem Leben völlig zufrieden war.

Ortega setzte sich zu ihm und bot ein Stück Brot an, das er von einem runden Laib abbrach und wickelte einen Schafskäse aus einem schmuddeligen Tuch. Doch das störte Koster nicht. Es war schon Mittag, und selten hatte es ihm so geschmeckt.

Nachmittags machte sich Koster wieder an den Abstieg. Ortega blieb oben. Eine alte Decke, in die er sich nachts einrollen konnte, reichte ihm völlig aus. Am Abend des nächsten Tages traf auch Lewin wieder ein. Er hatte nicht nur die wertvolle Fracht aufgegeben, sondern auch gleich die beiden Geologen Menzel und Lukas mitgebracht. Beide gehörten schon seit Jahren zum Team, und Koster vertraute ihrem Sachverstand bedingungslos.

In ihrer Ausrüstung brachten sie auch einige Aluminiumstangen mit, aus denen man ein leichtes Gerüst aufbauen konnte, um die übrigen Höhlen zu erforschen.

Die nächsten Tage waren nicht nur mit wissenschaftlicher sondern auch mit harter körperlicher Arbeit angefüllt, denn die Gerüste mussten immer wieder auf- und abge­baut werden, um die einzelnen Eingänge zu erreichen. Es erwies sich als zweckmäßig, bis an den oberen Rand der Felswand zu klettern, um dort Seile zu befestigen, an denen Steckleitern aufgehängt und Gerüstteile gesichert werden konnten.

Der Einsatz lohnte sich. In fast jeder der Höhlen wurde ein Skelett gefunden.

Drachenkinder

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