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Weichensteller

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Thiele schaute ärgerlich auf, als Hedwig zur Tür hereinschaute. Wenn er über seinen Briefmar­ken saß, ließ er sich nicht gerne stören. Schon gar nicht von seiner Putzfrau.

„Ich habe Ihnen doch zigmal gesagt, Sie sollen Ihre Schuhe draußen ausziehen und nicht den ganzen Dreck auf den Teppich treten.“ ermahnte sie ihn leicht tadelnd.

Thiele verdrehte die Augen, doch sie zeterte weiter.

„Ja, ganz recht! Wenn Sie verheiratet wären, würde Ihnen Ihre Frau ganz schön was erzählen!“

„Was meinen Sie, warum ich nie geheiratet habe?“

„Weil Sie einen dreckigen Teppich haben wollen?“

„Nein weil ich niemanden brauche, der ständig an mir rumnörgelt.“

Hedwig kam näher und schaute ihn herausfordernd an.

„Dann müssen Sie sich eine andere Putzfrau suchen. Solange ich hier saubermache, bleibt der Dreck draußen!“

Kopfschüttelnd murmelte sie vor sich hin, als sie den Raum verließ.

„Diese alten Junggesellen sind die Schlimmsten!“

Thiele seufzte auf, als er sich wieder seinen Briefmarken widmete. Eigentlich meinte sie es ja gut mit ihm, aber schließlich war das sein Haus, in dem er tun und lassen konnte, was er wollte. Doch manchmal ging sie ihm auf die Nerven. Sie nörgelte ständig an ihm herum. Da hätte er ja gleich heiraten können. Nee, nee, dachte er, ich lass kein Weib an mich heran.

Plötzlich stand eine junge Frau im Zimmer. Thiele zuckte zusammen und starrte sie an. Wo war sie denn hergekommen? Sie war einfach so aus dem Nichts erschienen. Eben war der Platz neben seinem Schreibtisch noch leer, dann meinte er ein leichtes Flimmern zu sehen, wie heiße Luft, die sich im Sommer über dem Asphalt ausbreitet, und im nächsten Moment war sie plötz­lich da.

Sie schien ebenso erschrocken zu sein, aber längst nicht so überrascht wie er.

„Hallo!“ sagte sie.

Thiele war sprachlos. Das konnte nicht wahr sein. Wo kam sie denn her?

„Wie heißen Sie?“ fragte sie sehr direkt. Thiele wurde plötzlich munter.

„Nun mal sachte! Wo kommen Sie den plötzlich her? Wer hat Sie reingelassen? Wer sind sie überhaupt?“

Statt einer Antwort beugte sich die Frau zum Schreibtisch hinunter und blickte auf den dort lie­genden Terminkalender. Sie tippte darauf und fragte:

„Ist das heute?“

„Was soll denn das? Natürlich ist das heute!“

„Ich meine – stimmt das Datum hier?“

„Ja selbstverständlich, aber was wollen Sie überhaupt? Ich hab´ Sie ja gar nicht kommen hören!“

Die Frau atmete tief ein, schaute ihn an und antwortete:

„Das erkläre ich Ihnen gleich, wenn Sie mir einen Augenblick zuhören.

Es ist etwas kompliziert und – unglaubwürdig.“

Thiele schaute sie skeptisch an.

„Aber ich soll das glauben! Da bin ich aber gespannt.“

Die Frau griff zum Kalender.

„Erst muss ich wissen, ob dieses Datum stimmt. Haben wir heute den 12. Januar?“

„Ja natürlich! Sagen Sie bloß, das wissen Sie nicht.“

„Nein, ich muss es aber wissen! Und auch – welches Jahr denn?“

„Welches Jahr wir jetzt haben? Junge Frau wo leben Sie denn? Vor 12 Tagen haben wir das Neue Jahr gefeiert! Sie nicht?“

„Aber welches Jahr? Welches Jahr haben wir heute?“

Thiele schüttelte den Kopf. Das Gespräch fing an, verrückt zu werden.

„1983. Leiden Sie etwa an Gedächtnisschwund?“

Die Frau fing an, murmelnd an den Fingern zu zählen.

„Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, August, September, Oktober ...

Das muss stimmen!“

„Was muss stimmen?“

Die Frau atmete entschlossen ein.

„Wissen Sie, wann ich geboren bin?“

Thiele schaute sie prüfend an. Doch auf diesen Trick fiel er nicht rein.

„Ich werde mich hüten, das Alter einer Frau zu schätzen.“

Die Frau zögerte einen Moment und antwortete selbst.

„Ich sag´s Ihnen: Am 6. Oktober 1983!“

Thiele verzog ironisch den Mund.

„Aha, Sie leben also noch gar nicht. Bitte sehr, wie Sie wollen! Jede Frau hat so ihren Tick mit dem Alter.“

Die Frau schaute sich suchend nach einem Stuhl um.

„Nein, das ist ganz anders. Darf ich mich setzen?“

„Bitte!“

Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

„Tun Sie mir einen Gefallen, und hören erstmal genau zu – und unterbrechen mich nicht. Dann kann ich vielleicht alles erklären.“

Sie zögerte etwas, straffte sich dann plötzlich, als hätte sie einen innerlichen Entschluss gefasst und fuhr energisch fort.

„Ich komme aus der Zukunft.“

Thiele schaute skeptisch, schwieg aber.

„Ich lebe im Jahr 2005 und bin 22 Jahre alt. Das bedeutet ...“

Er unterbrach sie stirnrunzelnd.

„... dass Sie in diesem Jahr geboren wurden?“

„Ganz recht! Ich wurde am 6. Oktober 1983 geboren. -- Also in neun Monaten.“

Thiele wollte unterbrechen, doch sie winkte ab und fuhr fort.

„Ich muss Ihnen dazu einiges über unsere Zeit erzählen.

Die ökologische Entwicklung der Erde zum Ende des 20. Jahrhunderts war furchtbar. Die Anfänge müssten Sie jetzt schon bemerken.

Die Bevölkerung wuchs mit einer enormen Geschwindigkeit und die Umweltprobleme noch schneller.

Ständig wurde etwas Neues erfunden, aber die Gefahren dieser Erfindung wurden erst viel spä­ter offenbar. Meist ließ sich dann nichts mehr rückgängig machen.

Zum Beispiel versuchte man Mitte des 20. Jahrhunderts die Getreideernten vor allerhand Schädlingen zu schützen und dadurch den Ertrag zu steigern. Es gelang auch gut. Es konnte ein Vielfaches an Getreide geerntet werden.

Allerdings stellte sich später heraus, dass das benutzte Insektizid sich in Mensch und Tier abla­gerte und Schäden verursachte, die sich erst Jahrzehnte später auswirkten.

Zum Glück entdeckten Wissenschaftler rechtzeitig die schädliche Langzeitwirkung, so dass das Gift ...“

„War das das berühmte DDT?“

„Richtig! Sie kennen das?

Ach ja, das muss ja in Ihrer Zeit passiert sein.

Das DDT wurde damals weltweit verboten, und die schlimmsten Folgen konnten verhindert werden. Ab 1970 etwa entwickelte sich dann so etwas wie ein Umweltbewusstsein, und Umweltschutz war die große Masche. Allerdings wurde das Kind oft mit dem Bade ausge­schüttet.

Nachdem zum Beispiel festgestellt wurde, dass das Blei im Benzin nach der Verbrennung über die Lungen eingeatmet wurde und sich auf Pflanzen ablagerte, die dann von Tieren gefressen wurden... Ja, jedenfalls stellte man fest, dass Mensch und Tier vergiftet werden könnten.

So richtig einig waren sich die Wissenschaftler damals nicht. Trotzdem wurde auf Druck der Umweltschützer zunächst in einigen Ländern, dann weltweit, das Blei in Kraftstoffen ver­boten. Allerdings musste die Industrie damals die Kraftstoffe auf andere Weise klopffest machen. Das Verfahren war schon seit den fünfziger Jahren bekannt, damals aber wegen der Gefährlichkeit verworfen worden.

Man mischte unter anderem Benzol in das Benzin und hatte das Problem gelöst.

In Wirklichkeit hatte man nur die gesetzlichen Vorschriften erfüllt, aber ein neues Problem am Hals, denn das Benzol war ein gefährliches Hautgift, das über die Haut oder durch Einatmen aufgenommen wurde. Man warnte an den Zapfsäulen zwar vor dem Einatmen der Dämpfe beim Tanken, doch die tatsächliche Gefahr war der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Ins­besondere Menschen, die häufigen Umgang mit Kraftstoffen hatten, nahmen das Gift in sich auf. Benzol verursachte schwere Nervenschäden, Krebs und Leukämie. Die Wirkung war um ein Vielfaches schlimmer als Blei, doch es war gesetzlich nicht verboten.

Als das so richtig bewusst wurde, war es für viele Menschen schon zu spät.

Und so gibt es tausend Beispiele von Maßnahmen, die sich erst in unserer Generation auswirk­ten. Meist durch Fehleinschätzung.

Das Problem unserer Wissenschaftler und Politiker war, dass es keine Möglichkeit gab, eine Fehlentwicklung bereits an der Wurzel – also bei der Entstehung – zu verhindern, da ja erst nach Jahrzehnten die jeweilige Auswirkung bekannt wurde.

Die Lösung war erst möglich, nachdem Professor Larker 1998 seine Zeitmaschine erfand.“

Thiele richtete sich skeptisch auf.

„Jetzt wird´s aber phantastisch! Eine Zeitmaschine! Das kann es gar nicht geben!“

Die Frau öffnete die Arme und hob herausfordernd die Schultern.

„Ich bin der lebende Beweis dafür, dass es sie gibt. Und außerdem ...

Wie können Sie denn behaupten, so etwas kann es nicht geben?

Denken Sie doch mal zurück, als Sie 20 Jahre alt waren. Wann war das etwa?“

„So um 1950.“

„Haben Sie damals schon an Transistoren und Flüssigkristalle gedacht – oder an Mikroprozes­soren oder Melonaren?“

„Was sind Melonaren?“

Die Frau stutzte kurz und antwortete dann:

„Ach, dann gibt es die noch gar nicht. Aber überlegen Sie doch nur, wie schnell sich die Tech­nik in den letzten Jahren entwickelt hat. Jetzt werden Sie mir vielleicht auch glauben, dass es ab 2000 bereits die ersten Zeitmaschinen gab.“

Thiele schüttelte erstaunt den Kopf, widersprach aber nicht.

„Und seit vier Jahren gibt es den Beruf des Weichenstellers.“

Seit 1979?“

„Nein, seit 2001!“

„Den Beruf gibt es schon seit Erfindung der Eisenbahn.“

„Ja, aber heute – also im Jahre 2005 – meint man damit jemanden, der in die Vergangenheit reist und an bestimmten Stellen die Entwicklung in eine andere Richtung lenkt. So ist es mög­lich, dass wir Erfahrungen unserer Zeit bereits Jahrzehnte vorher anwenden und die Selbstver­nichtung der Erde verhindern können.“

Thiele schien zu begreifen, doch das Glauben fiel ihm immer noch schwer.

„Wann haben sie denn damit angefangen, Weichen zu stellen?“

„Wie ich schon sagte: 2001.“

„Nein, ich meine, in welches Jahr griff so ein Weichensteller das erste Mal ein?“

„Das war im Jahr 1928, als Alexander Fleming in London das Penicillin entdeckte.“

„Entdeckte er es etwa nicht?“

„Er entdeckte es wohl, aber ein Weichensteller hatte seine Petrischalen geimpft. Sonst wäre er niemals darauf gekommen.“

„Und warum wurde ihm das Penicillin gezeigt?“

„Weil sich sonst 1953 ein Nesselfieber, das bei einem bakteriologischen Versuch in den USA frei wurde, ausgebreitet und fast die gesamte Menschheit ausgerottet hätte. So haben die Wis­senschaftler die Gefährlichkeit gar nicht bemerkt.“

„Und woher wussten Ihre Gelehrten davon?“

„Mit der Zeitmaschine ist es auch möglich, simulierte Reisen durchzuführen und damit Pro­gnosen für die einzelnen Weichenstellungen zu erhalten.“

Thiele schaute die Frau nachdenklich an und kratzte sich den Hinterkopf. Das tat er immer, wenn er unsicher war.

„Das soll ich glauben? Aber irgendwie – habe ich das Gefühl, ich könnte Ihnen trauen.“

Er schaute sie fragend an. Plötzlich durchzuckte ihn ein Einfall.

„Sagen Sie mal... Was wollen Sie eigentlich hier bei mir? Sind Sie auch ein Weichensteller?“

Die Frau zögerte.

„Ich komme in eigener Sache. Ich möchte sicherstellen, dass ich überhaupt existiere.“

„Sie existieren doch!“

„So einfach ist das nicht. Ich habe meine Prognosen eingeholt. Dabei wurde festgestellt, dass ich nur deshalb existiere, weil hier und heute für meine Geburt eine wichtige Weiche gestellt wurde. Sie verstehen schon!“

„Hier und heute?“

„Ja, ganz recht! Der Larker-Generator hat mich...“

„Larker-Generator?“

„Na die Zeitmaschine! Die hat mich genau eine Stunde vor meiner Zeugung hier in diesem Raum abgesetzt, wo es ... gemacht wird.“

Sie fügte kleinlaut hinzu:

„Aber nur, wenn es mir gelingt, dies in die Wege zu leiten.“

Thiele richtete sich interessiert auf.

„Hier? In einer Stunde?“

„Jetzt keine Stunde mehr. Wir reden ja schon eine Weile miteinander. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Er versuchte sich die Möglichkeiten vorzustellen. Die Geschichte wurde immer unglaubwürdi­ger. Mit welchem Trick wollte ihn die Frau hereinlegen? Doch interessiert spann er den Faden weiter.

„Wieso denn ausgerechnet bei mir? Wer soll das überhaupt sein? Wer sind denn Ihre Eltern?“ Noch viel mehr Fragen stürmten auf ihn ein. Doch die Frau antwortete bereitwillig.

„Ich bin unehelich. Über meinen Vater weiß ich gar nichts, denn meine Mutter sprach nicht darüber. Sie sagte immer, sie wolle niemanden kompromittieren. Die Umstände wären ihr peinlich, sagte sie.

Auf jeden Fall habe ich nie erfahren, wer mein Vater ist.“

Sie schaute ihn flehentlich an.

„Können Sie denn nicht ...?“

Thiele wehrte lachend ab.

„Junge Frau, ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber wenn Sie mein Verhältnis zu Frauen ken­nen würden ...“

Er schüttelte den Kopf und fügte entschlossen hinzu:

„Mit mir jedenfalls nicht!“

Die Frau schaute enttäuscht auf die Uhr.

„Dann kann ich wohl aufgeben. Ich habe auch keine Zeit mehr. Der Generator ist so konstru­iert, dass niemand auf einer Zeitreise sich selbst begegnen kann, da sonst durch die Phasenver­doppelung eine Neutralisierung eintreten würde.

Und meine Zeit läuft jetzt gleich ab. Aber können Sie mir denn nicht helfen?

Wenn ich jetzt die Weiche nicht stelle, werde ich nie existieren!“

Thiele schaute sie nachdenklich an. Er hatte eine vage Idee.

„Wie soll ich denn ...? Mit Ihnen ...?“

Er musste plötzlich lachen.

„Ich bin ja verrückt! Lass mir hier von Ihnen einen Bären aufbinden und glaub Ihnen sogar eine Zeitlang.

Was wollen Sie überhaupt von mir? Ist das eine neue Masche?“

Fast panisch sah sie ihn an.

„Bitte glauben Sie mir! Sonst ist alles zu spät.“

Sie schaute sich um und ging langsam auf seine Ruheliege zu. Mit einer zaghaften Handbewe­gung zeigte sie darauf.

„Hier vielleicht?“

Thiele weigerte sich einfach, das zu begreifen, was sie andeutete.

„Ach ich? Und mit Ihnen?

Wollen Sie Ihre eigene Tochter werden? Oder Ihre Mutter?

Wie stellen Sie sich dann die Geburt vor?“

Er fasste sich an den Kopf. Das war nun wahrlich zu viel. Doch die Verzweiflung der Frau schien echt zu sein.

„Das weiß ich doch auch nicht!

Aber hier muss es geschehen – und jetzt. Sonst werde ich im Oktober nicht geboren.“

„Ich kann Ihnen nicht helfen. Da muss ein Irrtum in den Berechnungen vorliegen. Das ist doch unmöglich hier!“

Ein Piepton unterbrach seine Worte. Er schien nirgendwo her zu kommen, war aber deutlich zu hören. Die Frau erschrak und schaute auf ihre Uhr.

„Jetzt ist alles zu spät. Der Generator holt mich zurück.“

Sie stellte sich in die Mitte des Raumes und schaute ihn kläglich an.

„Ich werde nie existieren, denn niemand wird für mich die Weiche stellen.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Hedwig schaute herein. Die junge Frau hob erschrocken die Hände.

„Mutter!“

Sie verschwand ebenso wie sie gekommen war, in einem leichten Flimmern.

Thiele sah die verwirrt in der Tür stehende Putzfrau plötzlich mit ganz anderen Augen.

„Eigentlich ganz passabel.“ dachte er.

„Kommen Sie, Hedwig, wir haben noch viel zu tun!“

Langsam stand er auf und ging auf sie zu.

Unendliche Zukunft

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