Читать книгу Mein Name ist DRAKE. Francis Drake - Wulf Mämpel - Страница 6
VORBEMERKUNG. . . - 1
Оглавление. . . des Sir Francis Drake, Admiral Ihrer Majestät, als erste Eintragung und als Beginn seiner geplanten Lebenserinnerungen - zwölf Tage nach seinem 50. Geburtstag - am 3. Januar des Jahres 1591. Nach einer sehr unruhigen Nacht, in der ich keinen Schlaf fand. Ich bin in Sorge, habe den Blick verloren, den Überblick über unser Land. Zu viele unterschiedliche Informationen landen auf meinem Tisch. Der Kirchenstreit, eher ein Krieg zwischen Katholiken und Protestanten, droht zu eskalieren. Wird die Nation weiter gespalten? Zu viel Unheil haben die Kirchen in den vergangenen Jahrhunderten angerichtet. Soll sich diese Situation nun wiederholen, da die Menschen aufgeklärter sind, da sie Lesen können, sich selbst ein Bild machen und nicht mehr von der Laune eines Priesters abhängig sind? Auch das Kirchenvolk ist – wie das Volk – kritischer geworden. Die Menschen wollen mitreden, informiert werden, bevor sie für das Vaterland sterben sollen, in einem Krieg sterben sollen, der nicht ihr Krieg ist. Vielen Menschen ist es egal, ob sie katholisch oder protestantisch sind. Und ich, der Admiral, mitten in diesen Konflikten.
Meine Stimmung: Aufgeregt. Mürrisch. Verzweifelt.
Erste Erfahrung: Ich habe kein Schreibtalent!
Zweite Erfahrung: Lass doch diesen Unsinn sein!
Dritte Erfahrung: Reiß dich zusammen!
Drei Personen, denen ich sehr zugetan bin, die zudem behaupten, mich zu bewundern und sogar zu lieben, sagten in einem kurzen Zeitraum von vielleicht sechs Monaten hintereinander folgende Sätze zu mir. Und sie meinten es durchaus ehrlich:
Meine Frau Elisabeth: „Du solltest Deine ungewöhnlichen Lebenserinnerungen niederschreiben, lieber Francis! Welcher Mann hat so ein aufregendes, interessantes und gefährliches Leben geführt! Überlass die Wertschätzung Deiner großen Abenteuer, die Bilanz Deiner Leistungen für England nicht irgendwelchen Schreibern, die nie zur See gefahren sind und Dich nicht wirklich kennen!“
Meine Königin Elisabeth: „Dein Leben ist so vielseitig und ereignisreich, Du solltest es eines Tages aufschreiben, um es der Nachwelt zu hinterlassen! Damit alle wissen, wie unsere Zeit wirklich gewesen ist. Ich traue nämlich diesen Chronisten nicht über den Weg, sie schreiben nur das auf, was ihnen gefällt, und sie dichten hinzu: Scheinwahrheiten, Schmeicheleien und Unwahrheiten!“
Mein Freund William Shakespeare: „Was für ein reiches Leben! Was für ein Mann! Was wären das für Memoiren – geschrieben von dem größten und mutigsten Seeräuber der Neuzeit, von Admiral Sir Francis Drake! Francis, schreibe so, wie Du sprichst – und es gelingt Dir ein wichtiges Werk. Denke immer daran: Schreiben bringt neue Lebenskraft, es ist wie eine positive Therapie, wie eine Befreiung aus dem Dunkel ins Licht.“
Hätten sie diese schmeichelnden Worte doch nie gesagt!
Was fiel ihnen dabei nur ein?
Ich glaube, nein, ich bin fest davon überzeugt, mein innerer Frieden wäre gewahrt geblieben. Meine Gelassenheit. Mein Selbstbewusstsein. Sie haben etwas in mir entfacht, was ich nicht richtig erklären kann. Etwas Unbekanntes. Ist es die Eitelkeit? Stolz vielleicht? Nun aber plagen mich ständig Zweifel. Ich träume schlecht, ich kann oft nicht einschlafen. Ich bin nervös und ärgerlich. Ich bin ein anderer Mensch geworden, besser, mein Leben, mein Alltag verändert sich mit einem Mal. Denn ich bin kein schreibgeübter Dichter: Ich bin ein Pirat durch und durch, ein Krieger und kein feiner Mann. Das Schreiben kann sehr gefährlich sein, weil man nicht sicher sein kann, dass der Inhalt so gelesen wird, wie der Autor ihn gemeint hat. Und doch haben die Drei mir einen Floh ins Ohr gesetzt, der mich seit Monaten beschäftigt. Ich kann kaum noch andere Gedanken entwickeln. Und – mich hat ein merkwürdiger, wohltuender Ehrgeiz gepackt, es eines Tages tatsächlich zu tun. Denn ich habe begriffen, dass auch der Zufall eine gewisse Gesetzmäßigkeit hat! Es stimmt, was die Engländer gerne sagen: „Sobald du anfängst, dir Gedanken darüber zu machen, was andere über dich denken und reden, hörst du auf du selbst zu sein.“
Vielleicht will ich aber auch nur meine Fantasie ausleben! Oder meinen Träumen nur ein Stück weit Realität verschaffen? Dabei ist es etwas völlig Neues für mich, die eigenen Gedanken festzuhalten und zu formulieren. Ich gestehe, es gab auch Zeiten, da machte ich mir kleine Notizen über bedeutende Dinge oder Themen, die ich für wichtig hielt. Es war ein Hinweis von William Shakespeare, den ich gerne befolgte, weil er meine Arbeit erleichterte, besonders in dem Moment, als ich Abgeordneter im Parlament in London wurde und in der Zeit, als ich zum Bürgermeister von Plymouth ernannt worden war. Es waren keine Tagebuch-eintragungen, das nicht, eher Gedankenstützen, auf die ich zurückgriff, wenn ich viele Sachen gleichzeitig erledigen musste. Dieser Verwaltungskram war mir immer ein Gräuel. Ich stelle aber heute fest: Schreiben ist wie Leiden und Lachen zugleich! Wenn ich die Feder aus der Hand lege, spüre ich eine Ruhe in mir, es ist, als ob ich eine große Leistung vollbracht habe. Vielleicht ist es auch der Stolz, noch nicht aufgegeben zu haben. Vielleicht ist aber das Ende meiner Schriftstellerei auch schon bald erreicht. Komisch: Ich habe mir nie Sorgen um meine Zukunft gemacht. Seitdem ich meine Gedanken und meine Erinnerungen niederschreibe, habe ich Sorgen, dunkle Gedanken, Ahnungen. Ich habe plötzlich das Gefühl, in meinem Leben zu viel verpasst zu haben!
Oft unternimmt der Mensch ja Dinge, die er später bereut. Doch in diesem Fall entstand aus anfänglicher großer Skepsis eine nie gedachte Leidenschaft für das Schreiben . . . Es ist lächerlich – der Pirat als Autor! Drake – ein Gutmensch? Die Leute werden mich auslachen! Denn meine Allgemeinbildung ist ein höchst eigenartiges Gemisch geworden. Ich habe keine richtige Schulbildung genossen, was ich weiß, weiß ich von meinen Eltern- einfache Leute - durch das intensive Lesen, durch Gespräche. Also denke ich: Größenwahn kommt immer vor dem Wahn, das werden sie sagen! Wahn, ja, nichts als Wahn, das werden sie mir nachrufen. Drake, der Irre, werden sie sagen! Drake, der Aufschneider! Drake, der rastlose Spinner!
Ich weiß nicht, wie das alles enden wird . . .
Unsere Welt wandelt sich rasant. Ich bin ein Teil dieser Geschwindigkeit, auch wenn vieles von dem, was geschieht, noch mittelalterliche Züge trägt. Wir sind in der Neuzeit angekommen. Die Zukunft ist bereits in Ansätzen Realität. Wissenschaft, Forschung, Medizin, die Entdeckung der Welt im Detail, Baukunst, Waffentechnik, Grubentechnik, Buchdruck – all das begeistert die Menschen in Europa. Ich bemerke ebenso eine zunehmende Bedeutung, die von der Jugend ausgeht, besonders aus den Reihen der Studenten.
Die Weltbevölkerung zu Ende unseres Jahrhunderts wird auf 560 Millionen Menschen geschätzt. Der globale Austausch von Gütern und Ideen erreicht eine nie zuvor gekannte Intensität und Qualität. Die iberischen Reiche etablierten ein weltumspannendes Handelsnetz, in das sie Amerika einbezogen. Amerikanische Güter gelangten sowohl nach Europa als auch nach Asien und Afrika und erweiterten das dortige Lebensmittelangebot. Umgekehrt gelangten zahlreiche Kulturpflanzen und vor allem Nutztiere von Europa nach Amerika. Einerseits ging die einheimische Bevölkerung durch die von Europäern mitgebrachten Epidemien stark zurück, anderseits gab es eine starke Einwanderung aus Afrika und Europa. Die lateinische Christenheit Europas spaltete
sich im Zuge der Evangelisierung und der reformatorischen Gedankenfluten. Der eng mit der Reformation verknüpfte starke Anstieg gedruckter Werke vergrößerte die Bildung breiter europäischer Bevölkerungsschichten. All dies hätte ich mir in jungen Jahren noch nicht vorstellen können. Bei den Drakes hatte die Stunde noch nicht geschlagen! Was für eine grandiose Entwicklung heute. Ich bin sicher, dass es ebenso rasant weitergehen wird.
Diese Geschwindigkeit macht aber auch vielen Menschen Angst, sorgt für Ablehnung und Gewalt. Wer da nicht mithält, der sucht die Schuld bei anderen, bei denen da oben anstatt zielstrebig an sich zu arbeiten, Ehrgeiz zu entwickeln und sich weiterzubilden. So entstehen aus mangelndem, persönlichem Mut neue Ideologien, vom Gefühl gesteuerte Reaktionen, die jeden Pragmatismus verteufeln. Als Zeitzeuge will ich mein Leben, meine Zeit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schildern, als die Menschen sich aufmachten, die kleiner gewordene Welt, die ich mit entdeckt habe, zu besiedeln und mit den fremden Welten Handelsbeziehungen aufzunehmen. Das Neue wird plötzlich interessant – und doch sorgt es gleichzeitig bei einem Teil der Menschen für Ängste. War das zu allen Zeiten so? Das Volk wird gebildeter, die Stände wohlhabender, das ist sicher so, aber werden sie auch klüger? Jahrhunderte lang wurde das Volk „regiert“, jetzt ist es aufgeklärter, kritischer, es neigt eher zum Widerspruch. Bin ich in der Lage, diese neue Entwicklung zu beschreiben und mein Leben mitten in diesem Wertewandel? Königin Elisabeth unterstützt diese neuen Errungenschaften mit Eifer. Auch mir wollte sie beweisen, dass sie es ist, die diesen Fortschritt vorantreibt und mit großen Summen unterstützt. Und doch ließ sie Gewalt und Tod zu. Ihren Untertanen geht es nachweislich besser als vor 30 Jahren, als ihr Vater und ihre Schwester Mary noch brutaler regierten. Doch heute bekommen Bauern, Handwerker, Kaufleute, Drucker, Reeder, Baumeister und sogar Künstler in ihren Standesvereinigungen mehr Rechte und damit mehr Macht. Ich sehe diese Gewaltenteilung nicht mit Sorge, sondern mit einem gewissen Stolz: Der Adel und die Kirche verlieren an Bedeutung. Nicht dass es sie nicht mehr gäbe, doch sie müssen sich im Kampf um die Zukunft mit allen bewähren. Mit neuen , unverbrauchten Kräften. Der Automatismus ist beendet! Die neue Zeit stabilisiert sich, auch wenn sie von Teilen der Gesellschaft beklagt wird.
Wie soll ich in diesen Wirrwarr das richtige Maß finden? Ist mein Blick auf unsere Zeit getrübt? Ich höre natürlich den Spott der ewig Gestrigen, die Häme und die Ablehnung der geschmeidigen Höflinge, die sich bewusst nach jedem Wind drehen und wöchentlich ihre Meinung verändern – sie halten sich für die Auserwählten des englischen Volkes. Wie soll ich, der Emporkömmling, diese Lage überblicken und sie niederschreiben? Die wahre Elite lässt niemanden in ihre Kreise eintauchen. Selbst das Vermögen zählt dann nicht mehr, nur der Erbfolger hat das Ansehen, den Titel und schließlich die Macht über die Generationen hinweg.
Ich finde das, was sich zurzeit in unserem Königreich tut, grandios. Wir bauen die modernsten Schiffe und verfügen mit den jungen Kapitänen über ein wehrhaftes Potential – patriotische Männer, die ihren Mut kaum zügeln können. Sie wollen mithelfen, die neue Zeit zu stabilisieren und weiter zu entwickeln. Ich versuche, dieses Gefühl, diesen Patriotismus zu beschreiben, ich bin mir aber bewusst, dass ich nur einen gewissen Teil wiedergeben kann. Es geschieht einfach zu viel.
Die Menschen sind nicht ehrlich genug: Sie ändern ihre Meinungen in einem Tempo wie sie auch ihre Ideale verraten. Ich stelle beim Schreiben fest, dass auch ich mich verändere, vieles sehe ich heute anders. Täuscht sich mein Blick? Macht mein Reichtum mich blind für die Sorgen anderer? Male ich die Königin in zu schönen Farben? Wie wird man mich nennen, einst, wenn das Urteil über ihre Regentschaft gefällt wird, wenn ihre und meine Leistungen überprüft werden? Vielleicht werden wir vom marmornen Sockel geholt. Von den gleichen Menschen, die uns heute bejubeln und uns in Büsten aus Bronze gießen ließen.
Also: Ich bin nicht sicher, dass das, was ich hier niederschreibe überhaupt gelesen wird!
MEIN LEBEN!
Ich schreibe, also bin ich!
Aller Anfang ist schwer. Was für ein blöder Satz, abgedroschen, unwahr, unecht und doch richtig: Wie oder mit was oder mit wem soll ich beginnen? Ich habe es mir so schwer nicht vorgestellt. Jawohl! Mein Respekt vor den Autoren und Romanciers steigt mit jedem fertigen Satz, der mir gelingt.
In letzter Zeit ertappe ich mich, dass ich meiner jungen Frau hinterher sehe - ich lasse dann die Feder ruhen. Nicht etwa lüstern, nein, eher bewundernd, andächtig. Wie, wenn ich ein Bild betrachte. Mit Stolz vielleicht und voller Anerkennung. Ich habe neulich gelesen, dass alle Männer mit der Zeit diesen Blick entwickeln, besonders dann, wenn ihre Frauen jünger sind als sie selbst. Im großen Rittersaal ist sie Hausherrin. In der Küche beratende Hilfe für die Köchin. Im Büro ist sie die leitende Buchhalterin, sie verwaltet unseren Besitz und unser Vermögen mit einer erstaunlichen Genauigkeit. Sie kontrolliert die gefüllten Truhen regelmäßig in unserer Schatzkammer, für die es nur zwei Schlüssel gibt: ihren und meinen. Im Weinkeller ist sie eine fröhliche Genießerin. Auf der großen Terrasse, im Garten und in den Pferdeställen ist sie die Gutsherrin. In unserem Schlafzimmer das zärtliche Weib. Ich frage mich oft, warum ich so glücklich bin. Elisabeth besitzt ein frisches, jugendliches Lachen, eine angeborene Fröhlichkeit. Ich denke oft: Kann ein Mensch immer so gut gelaunt sein? Nichts scheint ihr zu viel zu sein. Sie strahlt eine Freundlichkeit aus, eine Sicherheit, Sorgfalt und eine Hoffnung, ohne ein Wort sagen zu müssen. Das nennt mal wohl Autorität. Unser Personal verehrt sie, weil die Herrin fordert und fördert. Sie kümmert sich um die Kranken, die Kinder der Angestellten, sorgt für deren schulische Ausbildung, testet die unterschiedlichen Fähigkeiten jedes einzelnen, um dann zu entscheiden, was der richtige Weg für sie oder ihn ist und ob eine Förderung sinnvoll erscheint. Sie kommt mir vor wie ein Engel, wie der gute Mensch von Buckland Abbey. Mit ihrem Lächeln setzt sie die schwierigsten Dinge durch, auch bei Alkoholproblemen, Streit und Missgunst unter den Bediensteten. Sie bezahlt die Menschen, die in unseren Diensten stehen, gut und gerecht. Nichts ist ihr zu viel, auch wenn sie sich um die Sorgen der jungen Mütter kümmert. Wir sind so etwas wie eine große Familie geworden. Nur zweimal hat sie eine Magd und einen Butler entlassen müssen, die gemeinsam als Diebespaar erwischt wurden. Ihr gelingt vieles von dem, was ich gar nicht leisten könnte. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, da sie mir den Rücken frei hält für meine vielen Aktivitäten. Ohne sie wäre ich nur halb so erfolgreich! Die meisten Menschen fühlen tief in ihrem Herzen, dass es ihnen endlich besser geht. Sie träumen davon, dass sie erfolgreicher sind. Ich habe diese Träume schon lange nicht mehr! Denn ich schreibe nun. Meine Frau ärgerte mich vor ein paar Tagen mit der Bemerkung: „Es gibt Bücher, lieber Francis, die werden sehr gelobt . . . ohne dass man sie jemals gelesen hat!“
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Den folgenden Text, den ich erst vor ein paar Tagen aus einer Laune heraus schrieb, stelle ich nun bewusst an den Anfang meiner Lebenserinnerungen, weil er deutlich macht, in welch merkwürdiger Lage ich mich damals befand: Francis Drake, ein gutaussehendes Nichts, einen Meter und achtzig Zentimeter groß, von kräftiger, sportlicher Gestalt, mit einem kühnen Gesicht, gut gekleidet, aber fast pleite, ein Sklavenhändler, Sohn eines armen Bauern und Predigers der Anglikanischen Kirche, ein Pirat mit ersten kleinen Erfolgen, weil ich auf dem Schiff meines Vetters John Hawkins dieses Handwerk schnell erlernte und danach mein eigenes Kaperschiff, den schnellen Segler, die „Golden Hinde“, kommandierte: Es ist der Beginn einer außergewöhnlichen Verbindung zu meiner Königin Elisabeth. Viele werden bezweifeln, dass ich solch einen engen Kontakt zu ihr habe, doch mein Verhältnis zu ihr ist ungewöhnlich. Elisabeth gilt als unnahbar, arrogant und zickig. Doch so erlebe ich sie nur selten, nie aber, wenn wir alleine sind.
Ich führte in den vergangenen Jahren viele Gespräche dieser Art mit ihr, in denen unser beider Verhältnis enger und vertrauter wurde. Es ging immer um die alte Frage: Wie viel Europa ist in England wirklich? Wäre England nicht besser daran, es würde die Bande zu Europa kappen und einen eigenen, einen zwar weiten Weg, aber eine freien, globalen Weg gehen. Ein Weg, der als streng katholisches Königreich an der Seite Spaniens reüssieren werde. So die Meinung hinter der vorgehaltenen Hand. Es sei ein großer Fehler, sich von Rom losgesagt zu haben. Rom sei mehr als eine große Stadt, Rom sei eine Weltanschauung, ein Machtpotential. Die Königin dachte anders: Ich konnte ihr gegenüber klare Worte wagen, sie wiederum hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Es entstand ein enges Verhältnis, das es in dieser Form nur selten gibt, da Elisabeth mir gegenüber sehr offen und ehrlich ihre innersten Dinge, ihre Gefühle, wagemutigen Pläne, aber auch ihre Sorgen mitteilte. Das schmiedet zusammen. Vielleicht werde ich einige Gespräche im Rahmen meiner Lebenserinnerungen wiedergeben, denn ihr Inhalt lässt die ungewöhnliche Gedankenflut dieser großen Monarchin erkennen. Ich wusste um ihre kleinen Schwächen, die versteckten Hinweise, wenn sie etwas wollte, was niemand erfahren sollte, ihre kleinen Wünsche, die einer Königin unwürdig waren, wie zum Beispiel süße Törtchen, die sie sehr liebte, oder frische Hühnerleber – „Ich kann davon so viel essen, wie ich will, ich nehme nicht zu.“
Mit der Zeit entdeckte ich ihre wahre Persönlichkeit, ihre ungeheuren Stärken, erkannte, warum sie sich mal so, mal völlig anders benahm. Die Königin ist bis heute eine begnadete Schauspielerin! Sie hatte eine panische Angst davor, ihre Macht, ihren Thron, ihre Herrschaft über ihr geliebtes England zu verlieren. Es war die ständige Angst der Tudors, die schon ihren Vater zu einem Tyrannen werden ließ und ihre erzkatholische Schwester Mary zu einer die Menschen verachtenden Despotin. Elisabeths Erinnerung an die Zeit im Bell Tower, dann die Festsetzung im goldenen Käfig eines kleinen Jagdschlosses in Woodstock, das alles beeinflusste ihr tägliches Handeln. Für viele waren ihre Herrschaft und ihre öffentlichen Auftritte unverständlich, wirkten arrogant und machtbesessen. Dann wiederum zeigte sie sich als Patriotin, als rhetorisch höchst begabte Streiterin für ein starkes England. Dabei war sie im Grunde sehr sensibel: Die Mauer des Schreckens, die sie um sich aufgebaut hatte, verdeckte den wahren inneren Kern der Monarchin – einen durchaus weichen Kern.
Ich werde versuchen, auch diese Seite aufzuzeigen. Wer könnte es sonst tun, die Gedanken, Gefühle und Träume der Königin zu konservieren, um ein wahres Bild von ihr zu malen? Das kann nur jemand, der ihr sehr nahe ist. Dieser erste Gedankenaustausch knüpfte ein enges Band zwischen uns. Kein Wunder, dass in den folgenden Jahren die privaten Gespräche zu einem spekulativen Klatsch am englischen Hof führten. Man rümpfte die gepuderte Nase über den „Mister Sklavenhändler“ („wo kam er noch mal her?“) und deutete die lukrativen Erfolge als zufällige Ereignisse eines Glückspilzes. Man mochte mich nicht an diesem Hof! Ich war und wurde keiner von ihnen, keiner von diesen Feinmenschen!
Lass sie doch quatschen, dachte ich oft. Solch ein Leben an einem königlichen Hof wurde von übler Nachrede ebenso geprägt wie von stolzen Auftritten, offenen und versteckten Feindschaften und einer Portion Missachtung gegenüber jeder und jedem. Auch die anwesenden Frauen trugen oft bewusst zum eitlen Spiel der konkurrierenden Hengste bei: Eifersucht, Geilheit, Verführung, Empörung, Neid, Boshaftigkeit – all diese allzu menschlichen Neigungen machen das aus, was man höfisches Leben nennt. Für mich war es ein absolutes Neuland, wie, wenn ich eine unbekannte Küste ansteuerte oder eine fremde Insel, auf der Riten und Protokolle das Maß aller Dinge zu sein schienen. Nichts für mich, dachte ich anfangs, wenn ich am großen Ruder meines Seglers stand und nicht – festlich wie alle gewandet – um auf das Erscheinen der Regentin im Palast zu warten.
Elisabeth kam nie pünktlich!
Sie tat das mit Absicht: „Wer auf mich wartet, muss sich in Geduld üben und seinen Zorn zügeln. Geduld ist ein sehr gutes Mittel gegen das Aufbrausen, die Unbotmäßigkeit, Maßlosigkeit und zu viel Stolz. Geduldgedanken glätten die Wogen der Begehrlichkeiten, ohne dass nur ein Wort gesprochen ist. Auch auf diese Weise kann man Komplotte überstehen. Ich nenne es Taktik: Entscheidungen aufschieben oder widerrufen, mehrere Projekte gleichzeitig diskutieren, das schafft Verwirrung, die Gegner im Unklaren lassen und vieles mehr. Täuschung und Bluff sind gute Begleiter in schwierigen Fällen der europäischen Diplomatie. Ich bin vorsichtig geworden im Laufe der Jahre, Mister Drake, als ich im Tower saß, von der eigenen Schwester hintergangen.“ So offen redeten wir immer. Eines Tages geschah es dann – ich wurde für sieben Monate ihr Liebhaber. Vom Kleinen zum Großen: Irgendwann war ich dann ein Teil des Ganzen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an das erste vertrauliche Gespräch in den privaten Räumen der Königin – im diesem riesigen, turmreichen und noblen Londoner Richmond Palast, den man heute den Tudor-Palast nennt, einen Steinwurf von der Themse entfernt. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann muss ich sagen: Ich habe viel Glück gehabt, verdammt viel Glück. Vielleicht war es aber auch nur das Glück des Tüchtigen. . .
Es war an einem Sonntag im Monat August des Jahres 1567, mittags gegen zwölf Uhr, als die Königin aus der Westminster Abbey kommend, in Begleitung mehrerer Hofleute, unter ihnen der mächtige William Lord Cecil, 1. Baron Burghley, Schatzmeister, Lordsiegelbewahrer und engster Berater der Regentin, in den Vorraum zur großen Empfangshalle trat, wo die Besucher immer vor einer Audienz warteten. Wo ich bereits in meinem elegantesten Rock aus dunkelgrünem Samt, in neuen, kniehohen, hellen Lederstiefeln und mit meinem prächtigen Schwertgehänge, das ich noch morgens mit großem Eifer geputzt hatte, wartete: Nervös, blass, vor Aufregung schwitzend. Die Königin: Schlank, mittelgroß, ihre Haut weiß wie Milch, rotblonde Locken, von denen sie eine ständig mit einer kessen Handbewegung aus ihrer Stirn beiseiteschob. Ich bemerkte ihr süßes Parfum, eine Mischung aus Veilchen und Schneeglöckchen, wie sie mir bei einem späteren Besuch verriet.
Die Situation war mir sehr unangenehm. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Es gab einen Moment, da wollte ich einfach verschwinden und den Termin platzen lassen. Meine bisherigen Begegnungen mit der Monarchin waren entspannter verlaufen, da ich meist mit anderen gemeinsam eine Audienz erhielt. Mit John Hawkins oder mit Walter Raleigh oder weiteren befreundeten Kapitänen. Was wollte die Königin nun von mir, von einem unbekannten, 27jährigen Sklavenhändler, der – das gestehe ich ein - neue Aufgaben, also eine neue Zukunft suchte? Ich hasste solche Situationen, in denen ich nicht das Sagen hatte, weil sie mich in die Defensive drängten. Ich war schon damals gerne der Handelnde!
Es war einer dieser lauen Sommertage, an denen der Dauerregen wie ein müder Wasserfall das Land aufweichte, was die Pflanzen mit einem satten Grün dankten und die Themse anschwellen ließ. Ich spürte meinen Herzschlag und bemerkte die neugierigen, anmaßenden Blicke der Wartenden. Als die Königin, die schnellen Schritts vor der ihr folgenden Gruppe auf mich zukam und mich sofort entdeckte, winkte sie mir zu, verabschiedete sich knapp von ihrer Entourage, besonders eindringlich von Lord Cecil, der mich mit einer gewissen Verachtung begutachtete und immer wieder seinen weißbärtigen Kopf schüttelte. Wenige Minuten später führte die Königin mich schweigend in ihre Privaträume. Sie lächelte freundlich und gab einem Pagen leise einen Auftrag, der daraufhin mit einer leichten Verbeugung sofort verschwand. Wenige Augenblicke danach betraten wir, wie sie mir freundlich erklärte, den Blauen Salon. Ich bestaunte die blauen Wandbespannungen aus Seide, das blassblaue Ess-Service, ein Dutzend blaue Kristallrömer und das blaue, mit Edelsteinen besetzte Kleid, dass Ihre Majestät trug. In der Mitte des eher kleinen Zimmers stand ein runder Tisch mit vier Stühlen. Ich sah sofort, dass für zwei Personen eingedeckt worden war – mit einem silbernen Teller als Set und silbernem Besteck, das sehr gut zur blauen Farbe der Tischdecke und dem anderen Blau des Raumes passte. Ich war immer noch verirrt. Sollte ich den Dialog beginnen? Womit? Ich glaubte zu ahnen, dass die Königin merkte, wie verlegen und unerfahren ich in solchen Situationen immer noch war. Wenn ich an das doch sehr bescheidene Leben im Hause meiner Eltern dachte: Es herrschte damals Stillstand in meiner Familie, eine Tatsache, der ich entfliehen wollte, entfliehen musste. Mich lockte immer das Meer, die See, die Ozeane. Ich suchte die Veränderung, denn ich wollte mein Weltbild erweitern. Glück hieß für mich damals Herausforderung. Ich ahnte nicht, was das in Wirklichkeit bedeutete. Es war etwas Unbekanntes in mir entfacht worden, der Wunsch, ein anderes Leben zu führen . . . ruhmreich, wohlhabend, geachtet. Kurz: Ich wollte hoch hinaus. Um jeden Preis!
Die Königin lächelte freundlich zu Beginn, doch sie stellte gleich einiges klar: „Nun, Kapitän Drake, ich heiße Euch willkommen. Um es gleich zu sagen, unser beider Gespräch unterliegt der höchsten Geheimhaltung. Damit wir uns richtig verstehen! Ein Wort zu einer anderen Person und Ihr seid draußen. Dann ist das Band zerrissen.“
Ich verbeugte mich leicht, unerfahren in den Riten des Hofes, und setzte mich erst, als die Königin Platz genommen hatte. Ihr Gesicht wirkte nicht mehr so entspannt und fröhlich wie bei ihrem Auftritt eben nach dem Kirchgang. Ich entdeckte eine tiefe Sorgenfalte auf ihrer blassen Stirn und ahnte sofort, was das weitere Gespräch betraf, wenig Gutes. Ihr glattes Gesicht, das immer mit einer leichten weißen Puderschicht bedeckt war, wirkte blass, nicht etwa krank, einfach nur blass, vielleicht sogar etwas ängstlich. Und so ganz anders als auf den vielen Ölbildern, man schätzte achtzig bis einhundert Stück, die bereits existierten und sie in verschiedenen üppigen Kleidern zeigten.
Was wollte die Königin von mir?
„Ihr könnt die Höflichkeitsfloskeln, mit denen Ihr sicher Schwierigkeiten bekommen könntet, einfach weglassen, Mister Drake, redet so, wie Ihr meint und was Ihr denkt. Ich kann eine Menge vertragen. Nennt mich einfach Königin. Ich bitte Euch nur, mir immer die Wahrheit zu sagen, speist mich nicht mit dieser modernen, gefühlten Wahrheit ab. Sie ist der Beginn einer Lüge und belügen sollten gerade wir beide uns nicht. Ich brauche keine perfekten Menschen um mich, denn sie gibt es nicht, ehrliche Menschen reichen mir, Mister Drake. Ich mag Euch sehr, Eure Dickköpfigkeit, Eure Alleingänge und Eure kühnen Pläne, eines Tages die Welt als erster Engländer umsegeln zu wollen und – nebenbei - spanische Goldschiffe zu kapern. Euer Vetter John Hawkins, den ich sehr schätze, sprach davon. Was für eine verrückte, eine gefährliche Idee. Damit Ihr es wisst: Ich werde die Freibeuterei öffentlich nicht gutheißen, ich würde die spanische Diplomatie brüskieren. Aber ich vertraue Euch, dem stolzen Vetter dieses Haudegens John Hawkins. Ich kenne Euer beider Ruf und gestehe, dass ich beeindruckt bin, Mister Drake. Beeindruckt, aber noch habe ich kein konkretes Wissen über Eure Pläne. Hawkins ist bereits Feuer und Flamme, als er mir Andeutungen machte, was Ihr vorhabt. Und auch Walter Raleigh hängt mir kräftig in den Ohren. Irgendetwas hat Euer „Trio Infernale“ ausgeheckt. Ich möchte es jetzt und hier und heute wissen. Bei einem gemütlichen Lunch zu zweit ist es leicht . . . zu plaudern. Denn ich esse vor dem sonntäglichen Kirchgang nie etwas. Wir haben Zeit . . . und keine Zeugen. Übrigens, wart Ihr heute im Gottesdient? Als Sohn eines Predigers wäre das ja sicher nichts Ungewöhnliches? Und . . . Ihr seid noch Junggeselle, wie ich erfuhr. “
„Nein, Majestät . . . ja . . . ich . . .“
Sie nickte und klatschte fröhlich in ihre Hände, worauf ein Page mit einem Tablett und weißen Tellern erschien, auf dem außerdem zwei mit Wein gefüllte Gläser standen.
„Hat es Euch die Sprache verschlagen, Mister Drake?“
„Ja . . . nein . . . nicht in der Kirche und nicht verheiratet.“
Elisabeth blickte mich mit ihren blau-grünen Augen belustigt an. Dann sagte sie freundlich: „Lasst uns auf unsere gemeinsame Zukunft trinken, Kapitän Drake. Ihr seid noch sehr jung, wann seid Ihr geboren?“
„Man sagt, so um das Jahr 1540 oder auch früher. Ich habe mich immer gewundert, warum es kein festes Datum gibt. Ich fühle mich älter als 27 Jahre, Majestät. Viel älter.“
„Ihr wirkt tatsächlich erfahrener, Mister Drake, nicht älter. Dann bin ich selbst nur rund sieben Jahre älter als Ihr, habt Ihr damit ein Problem? Egal . . . Ich habe Pläne mit Euch, große Pläne, die uns beiden dienen können. Ich glaube, Ihr habt den Mut dazu und den klugen Kopf und ein mutiges Herz, das zu vollbringen, was mir insgeheim vorschwebt. Es wird ein langer, gefährlicher und abenteuerlicher Weg – für uns beide. Doch was wäre unser Leben, wenn wir nicht den Mut hätten, etwas ganz großes zu riskieren? Das katholische Europa hält unsere Insel für einen Hort von Ketzern, uns selbst für ein ungebildetes Volk von Schafzüchtern. Andere nennen uns voller Abscheu „Ungläubige“, als wären wir Mohammedaner. Das will ich, das werden wir ihnen heimzahlen. Wir werden Schrecken verbreiten in Spanisch-Amerika, wie sie den neuen Erdteil jetzt schon arrogant bezeichnen. Nach einer kurzen Pause fährt sie mit etwas lauterer Stimme fort: „Der Norden Amerikas muss Britisch-Amerika werden!“
Ich hob vorsichtig mein Glas, einen wunderschönen blauen Kristall-Römer, und trank der Königin vorsichtig zu: „Mir ist durchaus bewusst, dass niemand neue Erdteile entdecken wird, wenn er nicht bereit ist, alte Küsten zu verlassen. Ich würde mich freuen und glücklich schätzen, wenn ich Euch helfen . . . dienen kann. Aber wie?“
Die Königin lachte mich an und klatschte erneut in die Hände. Ein anderer Page erschien mit einem großen silbernen Tablett, auf dem Krustentiere zu einem bunt gemischten Hügel aufgetürmt waren. Drei kleine Töpfe mit verschiedenen Saucen entdeckte ich auf einem anderen Teller.
„Greift nur zu, Kapitän Drake, ich habe großen Hunger.“
Ich traute mich, zwei Austern und eine bereits vorgeknackte Hummerschere auf meinen Teller zu legen. Später tauchte ich die Hummerschere in eine lauwarme Knoblauchbutter und fragte die Königin mit vollem Mund: „Ich frage mich, was das für Pläne sein können?“
Die Königin wischte sich ihre blassen Lippen mit einer Stoffserviette ab, trank einen weiteren Schluck Weißwein und nickte mir zu: „Ja, mein Lieber, wir wollen ja nicht nur Schmausen. Jetzt ist die Zeit, Neues zu wagen und den Zauber eines Neuanfangs zu spüren . . . Mut ist die Kraft, Mister Drake, Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Nun, ich habe von Hawkins erfahren, dass Ihr das Talent besitzt, ein großes Schiff bestens zu kommandieren. Außerdem genießt Ihr den Ruf eines exzellenten Strategen, Fechters und Kämpfers. Ich habe einen Plan, den ich mit Hawkins bereits vorbesprochen habe, doch mich interessiert Eure Meinung dazu: Hört mich an, ich habe vor, insgeheim eine kleine Flotte von Freibeutern zu gründen, die rund um Südamerika die spanischen und portugiesischen Gold- und Silberschiffe ausrauben. Mit dem Anteil der mir dann zustehenden Beute werde ich eine kampfstarke englische Flotte finanzieren, um mein Königreich vor dem maßlosen spanischen König Philipp zu schützen. Ich traue diesem katholischen Spießer nicht, der einmal mein Schwager gewesen ist! Ich kenne ihn also, ich weiß, wie er denkt und handelt. Ich glaube, nein, ich bin mir inzwischen sicher, dass wir eines Tages sogar einen Krieg gegen Spanien führen müssen!“
„Ihr werdet Piraten tolerieren, die in Eurem Auftrag spanische Schiffe kapern?“
„Ja, Mister Drake, Ihr habt richtig gehört. Wenn Ihr es so wollt: Piraten Ihrer königlichen englischen Majestät!“
„Wie werden die Spanier reagieren? Das muss doch zu erheblichen Spannungen führen . . .“
„Sie werden es nicht vermuten, nicht wissen und höchstens behaupten. Denn das ganze Kommando ist geheim. Höchst geheim. Ihr solltet wissen: Ich werde jeden möglichen Verdacht der Spanier von mir weisen. Und – wenn nötig - Euch und die anderen Kapitäne öffentlich maßregeln und bestrafen. Auch wenn Ihr die Strafe nicht antreten werdet. Auf diese Weise werden die Spanier für eine lange Zeit keinen Verdacht schöpfen.“
Ich wagte einen Einwand: „Aber John . . . und ich . . . wir sind nur zwei Korsaren, ist das nicht zu wenig für diese . . . großen Pläne?“
„Es sind zwei mutige, treu ergebene und listenreiche Kapitäne, die die Gewässer kennen. Außerdem werdet Ihr hiermit den inoffiziellen Auftrag erhalten, eine Mannschaft von fünfzehn bis zwanzig Kapitänen zu rekrutieren, vorzubereiten und zur absoluten Verschwiegenheit zu verpflichten. Wer plaudert, wird als Verräter bestraft.“
Die Königin klatschte wieder in die Hände, zwei Pagen räumten die fast leergegessene Platte ab und füllten erneut unsere beiden Gläser. Elisabeth lächelte mich gutgelaunt an. Dann prostete sie mir zu: „Cheers, Mister Drake, was haltet Ihr von dieser Idee? Wir alle werden davon profitieren! Piraterie im großen Stil – das gab es wohl in dieser Form noch nie!“
Ich zögerte keinen Augenblick, sprang dann unbotmäßig, aber begeistert auf und rief: „Ich bin dabei, Majestät. Mit meinem starken Arm, mit meinem kühnen Herz und mit meinem stolzen Schiff.“
Voller Begeisterung war die Königin ebenfalls aufgestanden, ging dann auf und ab. Ihr Gesicht strahlte wieder, als sie antwortete: „Ich wusste es, Mister Drake. Meine engsten Berater werden zunächst nichts von dieser Abmachung erfahren. Auch Sir Cecil und Sir Walsingham nicht. Es reicht, wenn sie nach den ersten Erfolgen eingeweiht werden.“
Ich antwortete: „Wir werden natürlich unter spanischen und portugiesischen Flaggen segeln und bei den Attacken die Piratenflagge, den Black Jack, hissen. Die wahren Namen unserer Schiffe werden wir abdecken und selbst keine Uniformen tragen, sondern zivil. Die Mannschaften werden mir, bei Androhung höchster Strafen, zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Jeder Kapitän haftet persönlich für die Vertraulichkeit.“
Ich sprudelte die Worte viel zu schnell hinaus. Elisabeth ließ ihr helles Lachen erklingen. Amüsiert antwortete die Königin: „Junger Freund, Ihr seid ja schon mit großem Eifer bei der Sache, das gefällt mir. Aber wir werden noch viele weitere Pläne realisieren müssen. Unser Inselreich soll eine Vorreiterrolle für Europa und für die Neue Welt übernehmen. Das ist meine Vision, meine Lebens-aufgabe, wenn Ihr so wollt. Und wir sind bereits mittendrin: Mit dem römischen Papsttum haben wir schon gebrochen und eine eigene Kirche gegründet. Wir haben bürgerliche Bürgermeister in den Städten eingesetzt, wir stimmen in Parlamenten ab und fragen ein beratendes Gremium, das die Königin bei den täglichen Geschäften unterstützt. Wir sind also in vielen staatlichen Dingen den anderen europäischen Reichen weit voraus. Das soll auch so bleiben. Was uns tatsächlich fehlt, ist ein globaler Handel in großem Stil, wie etwa die Hanse. Weiterhin fehlt uns eine große, kampfstarke Flotte und ebenso Kolonien, die der Krone unterstehen. Kolonien mit mutigen Siedlern, Abenteurern, Armutsflüchtlingen, Ganoven, Glückrittern und gottgefälligen Spießern. Lasst sie nur glauben, Amerika könne ein besseres England werden: Genau das sind meine Ziele. Dafür lebe ich, dafür werde ich mit allen meinen Fähigkeiten kämpfen. Nur müssen wir – und das sehe ich als das größte Problem an – aufpassen, dass wir eines fernen Tages nicht Opfer unserer eigenen Freiheitsprinzipien werden. An meiner Seite werden Männer wie Ihr stehen. Wie Hawkins und Raleigh und Howard . . . Wir müssen heute schon die Basis für ein großes Empire schaffen. Eine Basis, auf der unsere Nachfolger aufbauen können. Es wird ein harter, ein langer und sicher auch ein gefährlicher Weg. Wir werden Feinde in den eigenen Reihen ebenso bekämpfen müssen wie die Neider um uns herum. Es wird Opfer geben, gewiss, doch es werden Opfer für eine große Sache sein. Ich selbst bin zu vielen persönlichen Opfern bereit. Für kleine Geister sind solche Pläne nicht gemacht, Mister Drake, denn der gefährlichste Gegner unserer eigenen Stärke ist die Schwäche!“
Elisabeth ging nun hin und her und dozierte. Ich verstand zunächst nichts von dem, was sie mit erzählte. Doch mit der Zeit sah ich ihr Bild von einem neuen britischen Empire: „Mister Drake, ich sehe das neue England deutlich vor mir. Nach den Entdeckern und den Kaufleuten werden die Auswanderer aus Europa den nördlichen Teil Amerikas besiedeln. Kolonialpolitik bedeutet auch Weltpolitik. Natürlich nicht nur Engländer, sondern Bürger aus deutschen Landen, Franzosen, Italiener, Skandinavier, Iren. Wir können die Kolonien nicht allein mit Sklaven gründen. Es wird sich um landlose Bauern, Handwerker, Kaufleute, Pelztierjäger, religiös und politische Verfolgte aus allen sozialen Schichten handeln. Sie wollen, das wissen wir, all die Strapazen auf sich nehmen, um in Amerika ihre Religion ausüben zu können. Wir werden sie ziehen lassen, denn sie sind ja weiterhin in den künftigen Kolonien Bürger unseres Königreiches. Es werden unter ihnen Fanatiker sein, aber auch fromme, ehrliche Geister aus den Kreisen der Puritaner, Calvinisten, Lutheraner, Mennoniten, Quäker, Katholiken und Anglikaner. Ein großer Teil der Pioniere wird aus sozialer Not auswandern wollen, um in unseren Kolonien sein Glück zu suchen – wir nennen sie Armutssiedler. Hinzu kommen auch Menschen, die wir abschieben. Was mir große Sorgen bereitet: Es gibt keine Gesetze, Bestimmungen, keine Polizei, Gerichte, keine Verwaltung. Das alles wird sich erst langsam aufbauen. Denn wir können ja nicht die Hälfte unsere Behörden mit in die Kolonien entlassen. Was aber von Bedeutung sein wird: Wir werden unsere Kolonisierung nicht als Zivilisationsmission bezeichnen, wie es die Spanier taten, die sich als katholische Übermenschen fühlten und dabei ganze Völker vernichteten. Eine verbrannte Erde bedeutet wenig Gewinn! Das ist nicht unser Ziel!“
Ich staunte über die Offenheit, mit der Königin Elisabeth mich in ihre geheimen Pläne einweihte. Als ich mich für das Vertrauen bedanken wollte, fuhr sie fort: „Leider werden wir beide nicht alt genug, um die Früchte unseres heutigen Handelns ernten zu können. Ich würde gerne 200 Jahre alt . . . Kapitän Drake!“ Ich wunderte mich über den lockeren Plauderton, in dem sie mich in ihre geheimsten privaten Gedanken einweihte. Dann schlürfte sie eine weitere Auster mit großem Vergnügen und leerte in einem Zug ihr halbvolles Glas.
„Majestät, den Entdeckern folgen Kaufleute, Missionare, Forscher und Sektierer, Abenteurer und Ganoven. Mutig, entschlossen, von sich selbst überzeugt. Und gierig nach Gold und Gewürzen und Menschen. Das alles zeichnet die bisherige Kolonialpolitik der Europäer aus. Wir müssen es anders machen . . .“
„Mister Drake, so soll es sein, so wird es geschehen. Nur wer sich beizeiten aufmacht, wird ein neues Land entdecken. Wir haben lange genug gezögert, ohne Mut und Wille und Rücksicht genommen. Auf was? Warum? Diese tristen Zeiten sind nun vorbei. “
Auf was lasse ich mich da ein, dachte ich plötzlich. Francis Drake, der Pirat, der Korsar der Krone? Die Spanier werden mich jagen, sie werden hohe Belohnungen für meine Ergreifung aussetzen. Es wird also ein gefährliches Leben! Mich werden diese Fragen noch mehrfach in meiner Lebensbeichte beschäftigen!
„Ihr schweigt plötzlich“, fuhr die Königin fort. „Habt Ihr schon Bedenken kurz nach Eurer spontanen Zusage?“
„Niemals, Majestät. Ich betone noch einmal“, inzwischen etwas mutiger geworden, wahrscheinlich lag es am Wein: „Ich bin mit von der Partie, auch weil ich ein begeisterter englischer Patriot bin. Warum, das kann ich Euch nicht wirklich erklären. Vielleicht ist mir der Stolz auf unsere Heimat mit in die Wiege gelegt worden, vielleicht ist es auch mein Hass auf die Spanier. Daher auch mein Plan, als erster Engländer die Welt zu umsegeln. Das hat mehrere Gründe: Einmal, um für unser Königreich Gebiete zu erkunden, die sich als Kolonien eignen. Zum anderen, um den Spaniern ihr gestohlenes Gold abzujagen und – da bin ich ganz ehrlich – um Ruhm zu erlangen. Ruhm für mich, für Euch und für England! Dennoch müssen wir uns die Frage stellen, wie sich aus Recht und Religion die Zerstörung von Staaten und die Ausbeutung der Völker Amerikas rechtfertigen lassen. Gestattet die Bibel wirklich eine Zwangsbekehrung von Heiden? In Spanien kam es nicht zu dieser Diskussion, wie wir wissen, das Ergebnis ist die Vernichtung von Tausenden von Indios. Das dürfen wir nicht zulassen, wollen wir Erfolg haben und Gewinne machen.“
„Gut, Mister Drake. Der Bund zwischen uns gilt. Kein Vertrag, das Wort zwischen uns bedeutet mehr als schlaue Worte auf Pergament.“
„So soll es sein. Ich habe bereits einen Namen für die Kapitäne der Freibeuter-Flotte. Ich werde sie „Seefalken“ nennen, wenn Ihr erlaubt.“
Elisabeth nickte begeistert: „Ja, so werden wir sie nennen, Seefalken. John Hawkins und . . . Ihr, Mister Drake, werdet die Flotte der Korsaren zu gleichen Teilen kommandieren. So wird es geschehen. Über die Pläne Eurer geplanten Weltreise werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer unterhalten. Wieder hier, wieder unter vier Augen.“
Abrupt beendete die Königin unser Gespräch, nachdem sie auf meine Frage, woher wir denn wohl die Schiffe nehmen sollten, antwortete: „Wer sein eigenes Schiff zur Verfügung stellt, erhält den kompletten Wert nach der ersten Kaperfahrt ausbezahlt, wird ein Schiff zerstört, wird es von der Krone ersetzt . . . Wir werden uns jetzt häufiger sehen, Mister Drake. Zu zweit oder in größeren Rahmen. Unser Plan wird . . . er muss gelingen!“
Nach einer kurzen Pause, fragte sie mich und ihr Gesicht wirkt in diesem Moment sehr spitzbübisch: „Mister Drake, ich habe eine ungewöhnliche Frage an Euch, deren Antwort sehr viel für unser künftiges Verhältnis bedeutet. Was wäre, wenn . . . wenn es den Trojanischen Krieg nicht gegeben hätte?“
Völlig verdattert blickte ich die Königin an. Was sollte denn diese Frage? Elisabeth meinte lachend: „Nun, ich stelle diese Frage oft diesem oder jenem. Die Antwort zeigt den klugen Kopf!“
Ich überlegte wahrscheinlich sehr lange, dann aber antwortete ich: „Nun, Majestät . . . Homer wäre nicht der berühmte Homer geworden, er hätte keine Geschichte für sein Epos gehabt. Und . . . es hätte all die großen unsterblichen Helden nicht gegeben: Achilles, Odysseus, Hektor, Paris, Agamemnon, Ajax, Patroklos, Menelaos, Äneas, Priamos . . .“
„Das ist eine Antwort nach meinem Geschmack. Ihr habt die Prüfung bestanden, Mister Drake. Ich bin sicher, auch Ihr werdet in die Geschichte eingehen als ein Nationalheld des Vereinigten Königsreiches! Denn ich erkenne in Euch drei Dinge: Mut. Selbstvertrauen. Entschlossenheit!“
Zum Abschied gab mir die Königin ihre Hand, was sie sonst nie machte. Ihre Hand war kalt, der Druck energisch. „Ich erwarte sehr bald erste Ergebnisse, konkrete Vorgehensweisen, Pläne und Absprachen, Kapitän Drake. Sehr bald.“
Etwas benommen blieb ich in dem eleganten Raum zurück. Die Worte der Königin wirkten auf mich wie eine Droge, mir war etwas schwindlig, ich schwitzte, stand wie angewurzelt mitten im Blauen Salon. Als einer der Pagen ins Zimmer trat und mich fragte, ob ich noch einen Wunsch hätte, verabschiedete ich mich schnell. Das Parfum der Königin roch ich noch, bis ich die große Empfangshalle betrat, in der die Regentin, wie ich feststellte, bereits mit einer ausländischen Gruppe von Diplomaten lebhaft diskutierte.
Das Gespräch mit der Königin beschäftigte mich noch sehr lange. Ich ging unseren Dialog noch einmal durch, versuchte ihre Worte zu deuten, bemühte mich, eine Falle zu entdecken und eventuell mich anders zu entscheiden. Ich stellte mir immer dieselben Fragen: Was geschieht da mit mir? Ich soll einer der Commander der Piraten-Flotte sein? Hatte ich das alles nur geträumt? Francis Drake, ein kleiner, unbekannter Sklavenhändler, ein Provinzler ohne Protektion, ohne Vermögen und Titel, keiner dieser noblen Familien abstammend, plötzlich im Glanz der funkelnden Krone? Was geschah hier mit mir? War das alles nur ein königliches Spiel? Ich dabei nur eine der vielen höfischen Marionetten? Doch irgendwie machte mich das Gespräch auch sehr stolz. Sollte das wirklich der Beginn einer Karriere werden? Mich verwirrte dieses vertraute Treffen total. War es eine ihrer berüchtigten Prüfungen, von denen ich gehört hatte? Oder wirklich der Auftakt einer kuriosen Verbindung?
Auf dem Weg zu meinem Schiff trank ich erst einmal mehrere Biere in einer der Kneipen in der Fleet Street. Ihr Name lautete: „Black Beauty“. Meine vielen Fragen wurden an diesem Abend nicht beantwortet. Ist es verwunderlich, dass ich aufgewühlt war? Wenn ich nur mit jemandem hätte sprechen können. Aber mich trieb ein merkwürdiger Ehrgeiz an, der Königin zu dienen. Wie? Das wusste ich noch nicht.
Als ich später mein Schiff betrat, empfing mich der wachsame Erste Maat John McFinn neugierig: „Wie war es, Kapitän? Diese Untätigkeit macht mich ganz krank.“
„John“, sagte ich überschwänglich, „heute beginnt für uns alle ein neues, ein abenteuerliches, ein wunderbares Leben . . . bring uns ein großes Glas Rotwein, ich sehe eine Zukunft vor uns, denn wir sind in den Diensten der Königin und doch auch freie Piraten. Wir stehen vor einer Zeitenwende. Am Anfang einer neuen Zeit für starke, mutige und neugierige Männer - für Männer wie uns.“
„Bei Sankt Andrew“, sagte der Schotte lachend und seine grünen Augen funkelten. „Ich freue mich darauf, Kapitän.“ Ich nickte ihm ebenso fröhlich zu: „Bei Sankt George, Mister McFinn, ich auch!“