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Dresden, Herbst 2033

Er atmete schnell und gleichmäßig. Sein Blick war nach vorne gerichtet, dennoch nahm er die Randbereiche des Weges wahr, als hätte er Fischaugen. Seine Ohren waren gespitzt wie die eines Wachhundes. Seine Nase nahm alle Gerüche des Waldes auf und er atmete sie genüsslich ein. Andy rannte. Er rannte im Wald – auf der Dresdner Heide. Das tat er täglich, bei jedem Wetter, jeweils für eine Stunde. Dabei ging es ihm um viel mehr als um das Laufen an sich. Er war von dem Wald mit all seinen Düften, Geräuschen und Eindrücken besessen, zumal er sich jeden Tag anders anfühlte, aussah und roch.

Andy joggte immer am späten Nachmittag in der Dämmerung und manchmal rannte er sogar im Dunkeln. Aus beruflichen Gründen konnte er nicht früher laufen gehen. Damit verpasste er zwar das imposante Lichtspiel der durch die Baumkronen fallenden Sonnenstrahlen. Dafür aber konnte er jene Unheimlichkeit des Waldes bei Einbruch der Dunkelheit genießen.

Berauscht von den Eindrücken des Waldes bog Andy in die Jägerstraße ein. Als er seine geräumige Wohnung in der Marinenallee im Preußischen Viertel erreichte, war es bereits spät am Abend.

Er trat ein. Ohne durch die Küche zu gehen, wo Carla das Abendessen vorbereitete, lief er ins Schlafzimmer, zog seine durchgeschwitzte Sportkleidung aus und sprang nebenan in die Dusche. Unter dem laufenden Wasser ließ er seinen Rausch abklingen. Während das Wasser über seinen Körper floss, dachte er über seine anstehende erstmalige Reise nach Syrien nach.

Mit halb getrockneten Haaren betrat er die Küche. Carla saß schon am gedeckten Tisch. Außer Brot, Salat und dem Üblichen aus dem Kühlschrank gab es nichts Besonderes. Mehr als ein knappes „Hallo“ sagten sie einander nicht. Schweigend begannen beide, ihre Brote zu schmieren.

Der Kühlschrank brummte leise vor sich hin und die Wanduhr tickte vorsichtig, als schämte sie sich für den verursachten Lärm. In einer solchen Atmosphäre kamen einem sogar die unterdrückten Kaugeräusche wie eine Ruhestörung vor. Schweigend eine Brotscheibe aufzuessen, schien eine Ewigkeit zu dauern. Andy machte das alles nichts aus – nach einem meditativen Lauf, gefolgt von meditativem Duschen, konnte ein stilles, meditatives Abendbrot nicht schaden. Carla konnte die gefühlte Kälte nicht mehr aushalten und versuchte, mit einem Kommentar das Eis zwischen ihnen zum Schmelzen zu bringen:

„Und, sind die Koffer schon gepackt?“, sagte Carla und zweifelte gleich am Sinn ihrer Frage, denn die Antwort darauf war ihr schon bekannt.

„Eigentlich schon. Es ist ja schließlich nur ein Minikoffer. Ich muss lediglich noch die Kulturtasche reinpacken und fertig, los“, antwortete Andy.

„Schön“, murmelte Carla in einem theatralischen Ton. Damit wollte sie Andy erneut signalisieren, dass sie über seine Weigerung, sie mit nach Syrien zu nehmen, nicht glücklich war.

„Hör zu!“, sagte Andy und legte dabei seine Hand auf ihre, „Ich verspreche dir, dass wir Syrien auf unsere Reisewunschliste mit aufnehmen.“

„Das ist aber toll, dann werden wir in fünf Jahren vielleicht endlich mal dorthin fliegen“, entgegnete Carla in einem ironischen Ton.

„Das kann stimmen, denn vergiss bitte nicht, dass Vietnam, Argentinien und Kanada schon länger auf der Liste stehen und entsprechend Vorrang haben.“

Carla antwortete nicht mehr. Sie schaute schweigend, aber mit einem genervten Blick zur Decke hin. Warum sie sich überhaupt noch mal mit Andy anlegte, wusste sie nicht. Immer wieder biss sie bei ihm auf Granit. Sie hatte auch keine Hoffnung, dass er jetzt seine Meinung ändern und sie plötzlich mitnehmen würde. Dafür war es sowieso zu spät: Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr würde Andy zum Bahnhof fahren. Wollte sie damit eine Entschuldigung erzwingen? Carla wusste, wie schwer es war, von Andy eine Entschuldigung für irgendetwas zu bekommen. Und sie legte auch keinen Wert auf leere Worte. Sie war enttäuscht und auch verbittert wegen der verpassten Chance einer gemeinsamen Fahrt nach Syrien, vor allem aber, weil Andy sie so vehement ausschloss. Natürlich sah sie als Studentin der Volkswirtschaft und Internationalen Politik in dieser Reise eine wertvolle Exkursion und eine gute Gelegenheit, das „Musterland“, von dem die ganze Welt sprach, zu entdecken, zumal sie Semesterferien und Andy viele Resturlaubstage hatte.

Seinerseits verstand Andy ganz genau, was Carla von ihm wollte, aber er fühlte sich nicht in der Lage, ihr entgegenzukommen. Bei seiner geplanten Reise nach Syrien ging es ihm lediglich um die vier Messetage in Aleppo. Er wollte sie durchziehen und anschließend mit der nächsten Maschine nach Deutschland zurückfliegen. Einen Urlaub oder eine Entdeckungstour durch Syrien an die Dienstreise dranzuhängen, wie es sich Carla wünschte, kam für ihn gar nicht in Frage.

Für einige Minuten herrschte wieder Stille. Dann sagte Carla versöhnlich:

„Iss noch eine Scheibe mit Brombeermarmelade. Eine solche bekommst du in ganz Syrien nicht.“

Die Versöhnungsgeste kam bei Andy an. Er lächelte und beugte sich über den Tisch, um Carla einen Kuss zu geben.

Der Golan-Marathon

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