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Im Elternhaus

Carla war am nächsten Tag sehr früh auf den Beinen. Sie radelte schnell zum Wochenmarkt am Alaunpark rüber, wo sie zusätzlich zu den frischen Brötchen auch einige Schinken- und Salamisorten sowie Oliven mit Kräutern und eingelegte Artischocken kaufte. Als Andy an diesem Morgen in der Küche stand, sah er einen perfekt gedeckten Tisch. Carla wirkte wie verwandelt. Sie wollte Andy nicht mit schlechten Erinnerungen an sie und an ihre Beziehung auf die Reise schicken. Er war positiv überrascht, wunderte sich aber zugleich über die Wandlungsfähigkeit seiner Carla – je nach Wunsch zeigte sie ein trauriges, wütendes, nachdenkliches oder - wie heute - ein lebensbejahendes Gesicht.

Das Frühstück war beendet. Carla bot Andy an, ihn zum Hauptbahnhof zu fahren. Er lehnte das Angebot freundlich ab, denn er konnte Abschiedsszenen an Bahnhöfen und Flughäfen überhaupt nicht leiden, zumal der technische Fortschritt solche überflüssig machte: Andy fuhr mit dem eigenen Elektroauto zum Bahnhof, schaltete vor dem Aussteigen den Autopilot ein und gab dem Auto via Sprachsteuerung den Befehl, selbstständig nach Hause zurückzufahren.

Die Bahnfahrt nach Frankfurt am Main verlief insgesamt angenehm, auch wenn sich der Zug in Leipzig deutlich füllte. Um Andy herum herrschte geschäftiges Treiben - Reisende stiegen ein und aus, andere unterhielten sich oder telefonieren mit ihrem TelTab (Ein Handy, das beim Ausklappen gleichzeitig als Tablet-Computer funktioniert). Von all dem bekam Andy wenig mit, denn schon kurz nach der Abfahrt in Dresden holte er selbst sein TelTab raus und fing an, sich mit seinen Arbeitskollegen über die letzten Vorbereitungen für die Messe schriftlich und telefonisch auszutauschen. Als er das Gerät zur Seite legte, befand sich der Zug schon hinter Fulda, nur noch eine halbe Stunde vom Frankfurter Hauptbahnhof entfernt.

Obwohl Andy von der Fahrt und den Mitreisenden wenig Notiz nahm, hatte er das komische Gefühl, beobachtet zu werden. Dieses Unbehagen verstärkte sich beim Verlassen des Bahnhofs in Frankfurt. Zweimal hielt er an und drehte sich um. Seine Blicke suchten nach Anhaltspunkten, die seinen Verdacht bestätigten - vergeblich.

Fünfundzwanzig Minuten nach seiner Ankunft erreichte Andy Kronberg im Taunus. Oberhalb dieses verträumten Ortes wohnten seine Eltern. Die Nähe des Elternhauses zum Frankfurter Flughafen passte Andy ganz gut. So konnte er seine Reisen immer mit einem Besuch bei seiner Familie verbinden. Diesmal blieb er über Nacht. Am nächsten Tag musste er gegen acht Uhr morgens am Flughafen sein.

Nachdem Andy seine Eltern begrüßt hatte, setzte er sich auf die Terrasse. Es war ein herrlicher, sonniger Herbsttag, wahrscheinlich einer der letzten des Jahres, an denen man draußen sitzen konnte. Er genoss den Ausblick, denn von der Terrasse aus konnte man sogar die Skyline der Stadt Frankfurt sehen.

„Kaffee ist fertig!“, rief Muna aus dem Wohnzimmer.

Andy rührte sich kaum. Als er sich gerade aufraffte, um aufzustehen und sich in Richtung Wohnzimmertür zu bewegen, legte seine Mutter nach: „Komm endlich rein! Du wirst in Aleppo genug Sonne abbekommen.“

Andy konnte mit seiner Antwort nicht warten, bis er im Haus war. Er stand noch im Türrahmen zum Wohnzimmer und rief hinein: „Schön wär‘s! Leider werde ich die syrische Sonne kaum auf meinem Gesicht spüren, nicht mal auf dem Weg zur Messe, denn das Hotel und die Hallen liegen alle auf dem Flughafenareal.“

„Du Armer, das tut mir aber leid für dich“, sagte seine Mutter sarkastisch. Osama, der schon auf dem Sofa saß, mischte sich in das Gespräch ein: „Hättest du nicht Lust, einige Tage dranzuhängen, um Land und Leute kennenzulernen?“

„Das hört sich aber sehr nach einem Vorschlag an“, spottete Andy. Man sah ihm die Verwunderung über die Frage seines Vaters an.

„Ich meine, wenn du schon mal da bist …“

„Dass eine solche Empfehlung von dir kommt, finde ich höchst seltsam“, bemerkte Andy auf eine ungeschliffene Art. „In den achtundzwanzig Jahren meines Lebens haben du und Mutter euch stets verweigert, mit mir oder ohne mich nach Syrien zu reisen. Man könnte fast meinen, dass ihr die Existenz Syriens auf der Weltkarte leugnet. Und jetzt auf einmal gibt es dieses Land wieder und kann bereist und erkundet werden!“ Sarkasmus war eher kein Charakterzug von ihm. Er war daher von seiner verbalen Attacke selbst überrascht.

„Ach was, Andy!“, reagierte sein Vater beleidigt. „Wir haben dir die Reise weder empfohlen noch gewünscht, schließlich bist du dort doch beruflich unterwegs. Unabhängig davon weißt du ganz genau, warum wir Syrien all die Jahre gemieden haben.“

In der Tat kannte Andy einige der Gründe, derentwegen seine Eltern seit dreißig Jahren, also schon vor seiner Geburt, keinen Fuß auf syrischen Boden gesetzt hatten. Diese sprachen seine Eltern immer wieder an. Sobald er als Kind eine Frage zur Heimat stellte, wiederholten sie gebetsmühlenartig, dass die Gründe in ihrer Vergangenheit zu suchen seien. Diese klangen immer auf eine verblüffende Art überzeugend, sodass bei Andy nie der Wunsch aufkam, dieses Land kennenzulernen. Rückblickend betrachtet war es fast so, als ob er auf einer Insel leben würde und die Eltern ihn das Meer, das ihn umgab und den Weg in die Welt bedeutete, fürchten lehrten.

„Was ich dich immer mal fragen wollte, Papa: Hast du überhaupt Heimweh oder jemals Sehnsucht nach Syrien gehabt?“

Der Vater schlürfte aus seiner Mokkatasse und schwieg.

Der Golan-Marathon

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