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Der Heimatlose

Andy besaß viele gute Eigenschaften. Geduld war allerdings keine von seinen Stärken. Er drängte sich in der Wartehalle des Terminals „B47“ des Frankfurter Flughafens nach vorne und setzte sich auf den einzigen freien Sitz direkt neben dem Eingang. Er wollte als einer der Ersten in die Maschine einsteigen, denn er hasste Warteschlangen.

Von da aus konnte Andy die meisten der wartenden Passagiere beobachten. Die Halle war überfüllt. Daraus schloss er, dass die Maschine ebenfalls voll belegt sein müsse. Die meisten Passagiere sahen europäisch aus – ein gemischtes Publikum aus Jung und Alt, wobei die Älteren überwiegten. Andy war froh, dass so viele ältere Leute dabei waren. Diese brauchten länger, um sich mit einem Reiseziel vertraut zu machen, und wenn sie es taten, dann sprach das für einen hohen Sicherheits- und Komfortstandard im Zielland. Er erinnerte sich an das, was sein Vater ihm mal von früher erzählt hatte. Damals, zu Zeiten Assads, beförderte eine Maschine, die nach Syrien flog, fast ausschließlich Syrer, die entweder im Ausland lebten und zu Besuch in die Heimat kamen oder die im Ausland etwas Geschäftliches oder etwas Privates zu tun hatten und wieder zurückkehrten. Ausländische Touristen sowie ausländische Geschäftsleute waren Mangelware. Wenn sich mal ein Ausländer in einer Maschine nach Syrien befand, dann handelte es sich entweder um einen lebensmüden Rucksacktouristen, dem das Besteigen des Himalajas zu langweilig geworden war, oder um einen ausländischen Agenten, der sich als Journalist oder Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ausgab. Den heutigen Massentourismus kannte man dort noch nicht. Syrien wurde damals als Urlaubsort gemieden.

Diese Zeiten waren nun lange vorbei. Nach einem zermürbenden Bürgerkrieg, der mehrere Jahre andauerte und bei dem Hunderttausende von Menschen ums Leben kamen, hatte es das Land innerhalb kürzester Zeit geschafft, eine stabile Demokratie aufzubauen. Auf internationaler Ebene genoss das Land nun einen hohen Stellenwert und galt als politisches, ökonomisches und soziales Musterland. Immer wieder wurde Andy von vielen Menschen gefragt, ob er und seine Familie sich überlegten, nach Syrien zurückzukehren. Als ob dieses Land für ihn eine Heimat darstellte! Auf solche Fragen reagierte Andy sehr allergisch. Schließlich war er in Deutschland geboren. Dort war er auch zu Hause. Deutschland gab ihm seine nationale und Europa seine kulturelle Identität.

„Nationale Identität! Eine solche Bezeichnung klingt nicht mehr zeitgemäß. Die nationale Orientierung ist ein vom Aussterben bedrohtes Phänomen. Neben den religiösen Ideologien ist das nationale Denken die Ursache für die meisten Katastrophen dieser Welt gewesen. Schon vor mehr als zwanzig Jahren habe ich mich in meinen Schriften für die Abschaffung dieser Art des Denkens eingesetzt. Und ausgerechnet in Syrien wurden erstmalig Elemente meiner Vision umgesetzt!“

Als diese Worte fielen, befand sich die Maschine bereits in der Luft und die Anschnallsymbole waren ausgeschaltet. Perplex und irritiert schaute Andy aus dem Fenster. Er fühlte sich von seinem Sitznachbarn überrumpelt. Die Unterhaltung begann ursprünglich mit der Frage, ob der arabisch aussehende Andy auch Arabisch spreche. Jetzt nahm das Gespräch eine ganz andere und sehr ernsthafte Wendung. Andy bereute, gegenüber einer fremden Person so viel von sich preisgegeben zu haben, das betraf insbesondere die Aussage über seine gefühlte Identität. Sein Sitznachbar musste etwas bemerkt haben: Andys Gesichtsausdruck und seine Körpersprache waren abweisend. Langsam wechselte der Nachbar den Schwerpunkt seines Oberkörpers von Andys zur Gangseite, strich mit der linken Hand über sein Kinn und tat so, als würde er die Bewegungen im Gangbereich beobachten. Er machte keine Anstalten, die Unterhaltung fortzusetzen und studierte schweigend die vorderen Sitzreihen. Andy war beruhigt. Sein Nachbar hatte wohl doch nicht vor, ihn den ganzen Flug über auszufragen. Mit dem Gefühl, dass er das Gespräch zu jedem beliebigen Zeitpunkt beenden oder zumindest lenken könnte, begann er:

„Und was ist mit Ihnen? Welche Identität haben Sie?“

Der Mann zögerte: „Geographisch gesehen bin ich ein Heimatloser – ein Mann mit verlorener Identität.“ Ein sanftmütiger Blick von Andy bewog den Mann dazu, seine Aussage zu ergänzen: „Sie irren sich, wenn Sie mit Heimatlosigkeit etwas Negatives verbinden. Heimatlosigkeit ist das schöne Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein.“

Andy schmunzelte innerlich. Der Name „der Heimatlose“ passte gut zu seinem Nachbarn und er entschied sich, ihn für sich fortan so zu nennen. Auch wenn das Thema Heimat Andy interessierte, wollte er auf keinen Fall den Gesprächsfaden verlieren.

„Und was meinten Sie eigentlich mit der Aussage: ,ausgerechnet in Syrien‘?“, fragte Andy daher in einem verwunderten Ton.

„Naja“, antwortete der Heimatlose und machte eine Atempause. Er warf noch einen kurzen Blick den Gang hinunter, rückte sich auf seinem Sitz zurecht, um sich anschließend mit seinem Oberkörper wieder Andy zuzuwenden.

„Der syrische Bürgerkrieg war vermutlich der heftigste und schlimmste, den die Menschheit jemals erlebt hat. Aber er stellte letzten Endes eine Chance dar. Er bewog die Syrer zum Nachdenken und gab ihnen den Anstoß, die nationale Identität in die Mülltonne zu werfen.“

Andy blickte verwundert zu seinem Nachbarn hinüber.

„Aber der Aufstand in Syrien hatte doch einen nationalen Ursprung“, widersprach er energisch. „Die Syrer haben lediglich für die Freiheit innerhalb ihrer nationalen Grenzen gekämpft.“

„Ja, das stimmt. Aber so war es nur anfänglich, was nicht weiter verwunderlich ist. Das entsprach dem damals herrschenden Zeitgeist, zumal der Assad-Clan die Syrer über Jahrzehnte auf eine uneingeschränkte Heimatliebe, den Nationalismus und Patriotismus eingeschworen und sie tagtäglich mit antiimperialistischen, antikapitalistischen und antizionistischen Parolen geimpft hat! Es wurden die falschen Feindbilder erzeugt. Am Ende stellte sich heraus, dass der Prediger der Feind war. Er kam von innen. Aus jener so geliebten und gefeierten Heimat.“

„Mit dem inneren Feind meinen Sie al-Assad selbst, richtig?“

„Ja. Damit sind wir wieder am Ausgangpunkt. Der nationale Mantel galt für Jahrhunderte als Schutz vor Feinden. Die syrische Krise hat allerdings gezeigt, dass diese Vorstellung veraltet ist.“

Eine zarte Stimme unterbrach die Unterhaltung: „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Andy und der Heimatlose schauten auf. Eine orientalische Schönheit mit langem schwarzen Haar, großen hellbraunen Augen und hohen Wangenknochen schaute die beiden Männer an. Ihre Attraktivität brachte Andy aus der Fassung. Sie hatte bestimmt syrische oder libanesische Wurzeln.

Der Heimatlose gab zuerst seine Bestellung auf. Andy brauchte die Zeit, um sich wieder zu sammeln.

Die hübsche Flugbegleiterin servierte, lächelte Andy kurz an und ging weiter. Andy fiel auf, dass sie zu seinem Bier statt einer, zwei Tüten Nüsse hingelegt hatte. Er öffnete eine der Packungen, schob zwei Nüsse in den Mund und dachte über die Worte des Heimatlosen nach: „Die nationale Orientierung ist ein vom Aussterben bedrohtes Phänomen ... Elemente meiner Vision ... ich bin ein Mann mit verlorener Identität.“ Und was meinte er eigentlich mit „meinen Schriften“? War er ein Schriftsteller oder vielleicht ein Journalist?

Sein Sitznachbar war noch damit beschäftigt, Salz, Pfeffer und Tabasco in seinen Tomatensaft zu schütten. Andy nutze die Gelegenheit, um das unterbrochene Gespräch fortzuführen:

„Aber eine solche Erfahrung ist nicht neu. Im Nationalsozialismus kam der Feind auch von innen. Deutschland und Europa haben daraus gelernt, die Vision eines vereinigten Europas entwickelt und umgesetzt“, sagte Andy und fühlte sich dabei sehr schlau. Er hatte das Gefühl, seinem Gesprächspartner gegenüber gepunktet zu haben.

Der Heimatlose schien erst mal mit dem Verrühren der Zutaten in seinem Tomatencocktail beschäftigt zu sein. Gelassen nahm er einen Schluck aus dem Plastikbecher. Dabei verzog er das Gesicht – die Grimasse verriet die Schärfe des Saftes.

„In der Tat, Sie haben recht. Doch dann kamen die Schmarotzer dazu und haben sich drangehängt, ohne die wirkliche Idee der europäischen Einigung verinnerlicht oder auch nur im Ansatz verstanden zu haben. Dadurch verkümmerte die Europäische Union zu einem Pool aus Ländern mit unterschiedlichen nationalen und wirtschaftlichen Interessen. Jeder Staat hatte über Jahrzehnte dafür gekämpft, aus der Union so viel wie möglich rauszunehmen und ihr so wenig wie möglich zurückzugeben. Die Europäer verloren sich in Bürokratie und in dem Aufstellen von Regeln für die Verteilung der Ressourcen. Die europäische Vision blieb größtenteils auf der Strecke.“

„Und was haben die Syrer anders gemacht?“

„Die Syrer und ihre Nachbarn setzten die Kernidee der europäischen Einigung um: das vollständige Ersetzen der nationalen Identität durch eine rein kulturelle Identität.“

Der Heimatlose drückte auf einen Knopf an seiner Armlehne und fuhr fort: „Und das in einer Ecke der Welt, in der die Loyalität zur Nation, die Religion und die ethnische Zugehörigkeit zum Volks- und Familienstamm mehr wiegen als Kultur, Demokratie und übergeordnete gesellschaftliche Interessen.“

Die hübsche Flugbegleiterin erschien erneut. Der Heimatlose bestellte bei ihr ein Mineralwasser, wahrscheinlich um den scharfen Geschmack seines Tomatensaftes hinunterzuspülen.

Andy verfolgte sie mit seinem Blick. Innerlich zog er die Behauptung zurück, gegenüber dem Heimatlosen gepunktet zu haben. Anscheinend steckte dieser sehr tief in der Materie drin. Im Grunde genommen hatte er recht. Die Syrer baten die Europäische Union und die UNO um Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen. Carla, die sich mit Syrien viel besser auskannte als er, erzählte von vielen Diskussionen, die damals stattfanden. Sie führten zu der Entstehung einer neuen Vision von Heimat, bei der die kulturellen Werte im Mittelpunkt standen. Territoriale nationale oder religiöse Aspekte und Ansprüche spielten dabei nur noch eine geringfügige Rolle. Das Erzielen eines Friedensabkommens mit Israel wurde dadurch enorm vereinfacht. Nach einigen Jahren des beiderseitigen Vertrauensaufbaus entstand zwischen den Ländern eine Union. Sie wurde nach der Stadt Ugarit benannt, die etwa zweitausend Jahre vor Christus als das Kulturzentrum der Region des östlichen Mittelmeers galt – längst bevor die drei großen Religionen entstanden. In Ugarit kam es damals zur Verschmelzung mehrerer regionaler Schriftarten, die zu einer revolutionären Entwicklung führte: das ugaritische Keilschriftalphabet.

Zur Ugarit Union gehörten nach wenigen Jahren neben Syrien und Israel auch die Länder Libanon, Jordanien und Palästina dazu. Potential für eine weitere geografische Ausdehnung bestand bei dieser Union nicht. Andy wusste nicht viel mehr über den Zusammenschluss, aber irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die Mitgliedsstaaten seit 2032 eine Währungsunion unterhielten und darüber hinaus beschlossen hatten, die nationale Souveränität der einzelnen Länder ab 2035 vollständig an die Ugarit Union abzutreten. Hauptstadt der Union sollte dann Amman werden.

„Wissen Sie eigentlich, warum gerade Amman die Hauptstadt der Ugarit Union sein soll und nicht zum Beispiel Aleppo, Damaskus oder Jerusalem?“ Mit dieser Frage musste Andy den Wissensvorsprung des Heimatlosen anerkennen.

„Aleppo und Damaskus sind geschichtlich und kulturell einfach zu dominant. Jerusalem verfügt über einen zu großen religiösen Hintergrund. Um das Gleichgewicht zwischen Syrien und Israel zu wahren, einigten sich die Ratsmitglieder der Union auf die bescheidenste Metropole der Region – Amman.“

Die Antwort des Heimatlosen kam so emotionslos herüber, als ob es bei der Unterhaltung um etwas vollkommen Belangloses ginge.

„Das ist ähnlich wie bei der EU und Brüssel“, erwiderte Andy lächelnd.

Der Heimatlose verzog keine Miene. Er war zu sehr mit der Entsorgung der Tomatensaft-Utensilien beschäftigt. Mit Mühe schaffte er es, den leeren Becher zu zerdrücken und in die Tasche des Vordersitzes zu quetschen.

Andy warf einen Blick auf ihn. Er musste um die Mitte Sechzig sein, war schlank, elegant gekleidet und hatte einen kahlen Kopf. Er sprach Deutsch mit einem leicht arabischen Akzent. Gelegentlich machte er einen grammatischen Fehler. Andy dachte, dass der Mann eine ähnliche Geschichte wie sein Vater haben und er auch ein syrischer Auswanderer der ersten Generation sein müsse.

„Wissen Sie, welcher Spitzname unter den Menschen meiner Generation für die Ugarit Union verwendet wird?“, fragte der Heimatlose plötzlich.

„Nein?“

„U2.“ Der Heimatlose schmunzelte.

„Sie meinen nach der irischen Rockband?“

„Ja.“

„Mein Vater mochte sie. Ich weiß nur wenig über diese Gruppe. Und was mögen Sie für Musik?“, fragte Andy.

Die hübsche Flugbegleiterin brachte in diesem Moment das Essen. Sie lächelte Andy an. Er hätte gerne gewusst, ob sie ihn wegen der Service- und Kundenorientierung anlächelte oder weil sie ihn persönlich mochte. Als Andy mit dem Essen fertig war, hatte der Heimatlose schon die Kopfhörer auf. Auf dem Bildschirm, der am Vordersitz angebracht war, konnte Andy erkennen, dass er Johann Sebastian Bach hörte. Damit war seine Frage beantwortet.

Andy schaute sich noch einen Film aus dem Jahre 2032 an, in dem Ethan Hawke einen älteren Ingenieur und Aussteiger spielte, der beschlossen hatte, der Zivilisation den Rücken zuzukehren. Mit einem selbstgebauten, autarken Hightech-Schiff segelte er auf „Nimmerwiederanlegen“ los. Enttäuscht musste er am Ende des Films feststellen, dass die Ozeane der Welt voll waren mit Menschen wie ihm. Die Maschine setzte zur Landung an. Der Heimatlose war immer noch mit dem Lesen eines Buches beschäftigt. Das kam Andy richtig antiquiert vor. Das letzte Mal, dass Andy jemanden ein Buch aus richtigem Papier lesen sah, musste vor zwei oder drei Jahren gewesen sein. Sein Buch klappte der Heimatlose erst zu, als die Maschine stoppte und alle Passagiere aufstanden. Andy war gerade dabei, seine Tasche aus dem Gepäckfach zu holen, als er ein leises „Tschüß!“ hörte. Andy nahm die Tasche herunter und wollte gerade antworten, da war sein Sitznachbar schon zwischen den vielen Passagieren verschwunden. „Verzeihung! Könnten Sie mir zumindest Ihren Namen verraten?!“, rief Andy laut. Einige Menschen drehten sich zu Andy um. Der Heimatlose war jedoch nicht darunter.

Der Golan-Marathon

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