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Das Himmelsfenster von Aleppo

Auf der Suche nach dem Heimatlosen verrenkte sich Andy beim Verlassen der Maschine und auch am Flughafen von Aleppo fast den Hals. Zugegebenermaßen lagen die Chancen, diesen merkwürdigen älteren Herrn zu finden, nicht sonderlich hoch, denn der moderne Flughafen der florierenden Metropole war riesengroß.

Mithilfe seines elektronischen Reisepasses, der in seiner Armbanduhr gespeichert war, konnte er innerhalb von wenigen Minuten den Sicherheitsbereich des Flughafens von Aleppo verlassen. Zeitsparend wirkte auch die Tatsache, dass er seinen Koffer schon am Dresdner Bahnhof aufgegeben und den Auftrag erteilt hatte, ihn direkt ins Hotel nach Aleppo zu liefern. Das Hotel lag auf der anderen Seite des Flughafengeländes und war durch einen Tunnel mit dem Flughafengebäude verbunden. Innerhalb von acht Minuten erreichte er das Hotel. Nach dem Einchecken nahm er eine heiße Dusche, zog sich frische Kleidung an und ging hinunter in die Hotellobby. Dort war er mit seinen Arbeitskollegen aus der Vertriebsabteilung, Hannah, Finn und Eric, verabredet.

„Wann seid ihr eingetroffen?“, fragte Andy nach der Begrüßung.

„Hannah und ich erst gestern. Finn ist aber schon seit vorgestern vor Ort“, antwortete Eric.

„Und ist der Stand schon fertig?“

„Ja, alles ist perfekt eingerichtet. Die Messebaufirma hat eine tolle Arbeit geleistet“, sagte Finn zufrieden.

„Du wirst überrascht sein, ja, vielleicht sogar verblüfft“, bemerkte Hannah lächelnd.

Andy ging auf Hannahs Kommentar nicht ein. Bald vertieften sich die Vier in ein langes, geschäftliches Gespräch. Es erstreckte sich noch weit in den Abend hinein und endete mit einem Essen im Hotel und anschließendem Drink an der Bar. Danach ging jeder in sein Zimmer. Andy schlief in dieser Nacht tief und traumlos.

Andys Firma hieß Nanobunt – ein Dresdner Technologieunternehmen, das für seinen patentierten Nano-Putz berühmt war. Bestückt mit dieser Innovation konnte sich eine Gebäudehaut den klimatischen Bedingungen anpassen und seine physikalischen Eigenschaften entsprechend ändern. Auch die Farbe eines Gebäudes war mit diesem Putz variierbar. Bei einer Verbindung mit dem Gebäudemanagementsystem war es zum Beispiel möglich, den Farbenwechsel mit dem Energieverbrauch des Hauses zu verknüpfen: stieg oder sank dieser, veränderte sich entsprechend die Fassadenfarbe.

Am nächsten Morgen trafen sich die vier Kollegen vor dem Stand von Nanobunt. Beim Anblick des Messestands, verstand Andy, was Hannah am Vortag meinte: aus metallisch-lackierten Polystyrol-Hartschaumblöcken war ein Stand von höchster Qualität gebaut worden. Die Fugen waren unsichtbar und die Kanten so perfekt abgerundet, dass der Stand aussah, wie aus einem einzigen Block gefräst. Andy strich kurz mit seiner rechten Hand über die Oberfläche der glatten Seitenwand und ging anschließend langsam zum Zentrum des Standes. Dort blieb er stehen.

„Geil, nicht wahr?“, hörte er Erics Stimme im Hintergrund.

„In der Tat“, antwortete Andy.

Beide richteten ihre Blicke auf den riesigen Bildschirm, der die Rückwand bildete und als Eyecatcher diente. Er zeigte eine Liveaufnahme der Stadt Aleppo aus der Vogelperspektive. Mithilfe einer Spezialsoftware wechselten die Häuser der Stadt in regelmäßigen Abständen ihre Farben, als ob sie alle mit der Gebäudehaut von Nanobunt ausgestattet wären.

„Er ist neun Meter breit und vier Meter hoch“, sagte Eric ungefragt.

„Was für ein schöner Blick. Was ist das für eine schöne Stadt!“, sagte Andy erstaunt. Er wirkte wie hypnotisiert.

„Ja“, fuhr Eric fort, „allerdings weiß ich nicht, ob das an der Stadt liegt oder an der von uns erzeugten Farbinszenierung.“

Erics Äußerung ließ Andy unkommentiert. Vielleicht hatte er sie auch gar nicht bemerkt.

„Das ist eine fabelhafte Sache.“

„Was ist fabelhaft?“, fragte Eric irritiert.

„Einfach alles: Der Bildschirm, der Ausblick, die Stadt und das Farbenspiel. Zusammen wirken diese Elemente wie … wie ein imposantes Kunstobjekt! Ja, wie eine Art Himmelsfenster. Das Himmelsfenster von Aleppo.“

„Verrückter Kerl“, murmelte Eric und ging fort.

Das Himmelsfenster von Aleppo war ein echter Publikumsmagnet. Kein Besucher konnte einfach am Stand vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und Fragen zu stellen. Teilweise bildeten die Menschen sogar eine Schlange, um heranzukommen. Die vier waren die gesamten Messetage voll beschäftigt, von Sonnenaufgang bis Mitternacht. Ein riesiger Erfolg. Der Wechsel der Farben verwandelte ein Gebäude in ein Schmuckstück und die Stadt in ein lebensfrohes Farbenmeer. Dies passte wunderbar zu der orientalischen Seele Aleppos, die Inszenierungen, Ornamente und Schmuck seit jeher mit einschloss. Andere Aspekte der Technologie, wie beispielsweise die Anpassung der Gebäudehaut an die klimatischen Bedingungen der Tages- und Jahreszeiten, spielten nur für Fachingenieure eine wichtige Rolle.

Andy fühlte sich vom Himmelsfenster von Aleppo magisch angezogen. An jedem Morgen der vier Messetage traf er eine halbe Stunde vor Öffnung am Stand ein. Mit einer Kaffeetasse in der Hand setzte er sich auf einen Stuhl direkt vor den Bildschirm. Seinen Kaffee trank er „im Himmel“, mit Blick auf Aleppo. Damit erntete er den Spott der Kollegen, doch das war ihm egal.

Der Ausblick aus dem Himmelsfenster wurde von der mächtigen Zitadelle Aleppos dominiert. Wie ein königlicher Thron erhob sie sich über die Häuser der Stadt. Die Gebäude, die die majestätisch wirkende Zitadelle umgaben, erschienen beinahe unterwürfig, als würden sie diese täglich anbeten. Mit Ausnahme einiger Minarette und Kirchtürme hatten fast alle Bauten annährend die gleiche niedrige Höhe und sie standen somit zu der Zitadelle in keiner Konkurrenz. Das Stadtbild wies keinerlei Lücken auf und wirkte dadurch sehr homogen. Andy erkannte ganze Straßenzüge neuer Bauten. Sie ersetzten die durch den Krieg zerstörten Häuser und Viertel. Auffällig war, wie gut die Neubauten mit den Altbauten harmonisierten. Sie sahen aus, als wären sie zusammengewachsen. Aus dem Himmelsfenster konnte er die ameisenartigen Ströme von Autos und Passanten erkennen und fühlte sich von den Menschenmengen angezogen. Er verspürte eine enorme Lust, die Stadt zu berühren, zu schnuppern und in sie einzutauchen.

Trotz der knappen Zeit konnte Andy auch während der Öffnungszeiten der Messe für Besucher den einen oder anderen Blick auf das Himmelsfenster erhaschen. In der Regel klappte dies in den wenigen Momenten zwischen dem Abschied von einem Kunden und der Begrüßung eines neuen. Am meisten schätzte er die Ansicht am späten Nachmittag. Kurz vor Sonnenuntergang kam es Andy so vor, als streichelte die Sonne die Zitadelle und die Dächer der Stadt in einer geschmeidigen, verführerischen Art und Weise. Die Scheinwerfer der Autos sahen wie Perlenketten aus und das Zusammenspiel zwischen natürlichem und künstlichem Licht verlieh der Stadt eine verzaubernde Wirkung.

Um achtzehn Uhr des vierten Messetages war Schluss. Die größte Baumesse des Mittleren Ostens ging zu Ende. Mit dem Abbau der Stände wurde begonnen. Auch die von Nanobunt beauftragte Messebaufirma kam mit einem Team. Jetzt hieß es, Abschied nehmen. Die Reise in Richtung Deutschland war für den nächsten Vormittag vorgesehen. Zeit für eine Stadtbesichtigung hatte Andy nicht mehr. Beim Abendessen schlug er seinen Kollegen vor, eine Rundfahrt mit einem Taxi zu machen, doch die Kollegen lehnten freundlich ab. Sie seien müde und hätten bereits eine Stadtrundfahrt am Vortag seiner Ankunft unternommen. Andy überlegte kurz und entschloss sich dazu, die Stadt alleine zu erkunden.

Als er eine halbe Stunde später aus dem Hotel kam, war Andy überrascht, wie kalt die Abende in Aleppo sein konnten. Eine verzierte, fahrerlose Elektrokutsche mit einem Taxischild wartete schon auf ihn. Nach einer zwanzigminütigen Fahrt erreichten sie die Stadt. Langsam rückten die Gebäude näher und nahmen Konturen an. Eine Mischung aus Neugier und Spannung verwandelte Andy zurück in ein Kind, so große Augen machte er, und er drückte sein Gesicht an die Fensterscheibe des Taxis. Im Baustil von Aleppo war eine charmante Kombination aus Tradition und Moderne zu erkennen. Mehr und mehr füllten sich die Straßen mit Leben. Der Pulsschlag der Stadt stieg an. Das Taxi verschwand in der urbanen Hektik. Die Autokolonne schob sich gemächlich stadteinwärts. Andy fühlte sich wie ein Teil einer Perlenkette, die den Hals von Aleppo umschlang. Durch die Fensterscheibe ließ sich eine besondere exotische Mischung aus Menschen und Lebensarten erahnen. Möglichkeiten, der Box aus Blech und Glas zu entfliehen, gab es nicht. Andy befand sich so nah an der Stadt, ohne den Hauch einer Chance, sie zu berühren – ein Lustspiel urbaner Erotik ohne Höhepunkt.

Nach zweieinhalb Stunden kehrte er wieder in das Hotel zurück und ging direkt an die Bar, um einen Single Malt Whisky zu trinken. Er war noch viel zu aufgeregt, um zu Bett zu gehen. Die frischen Eindrücke beschäftigten ihn noch bis spät in die Nacht.

Andy träumte: Er befand sich nackt auf dem Dach einer durch Aleppo fahrenden Kutsche. Auf ihm lag die orientalische Flugbegleiterin. Sie war ebenfalls nackt und trug nur eine Perlenkette um ihren Hals. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Fahrtwind, während die Lichter der Stadt an den beiden vorbeistreiften. Andere Menschen gab es keine. Andy konnte lediglich einen Stern am Himmel erkennen, der wie ein Auge aussah. Er fokussierte seinen Blick auf den Stern und stieß plötzlich einen überraschten Schrei aus – im Stern erkannte er sein eigenes Auge.

Der Golan-Marathon

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