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Die schwere Last der Vergangenheit

Osama stammte aus Damaskus. Als junger Bursche war er in gewisser Weise ausgeflippt, ein politischer Mensch war er aber nie. Er spielte Gitarre in einer lokalen Hardrock-Band, verehrte Iron Maiden und war dazu ein Computer- und Internetfreak. Er bloggte und chattete intensiv mit anderen jungen Menschen aus der ganzen Welt, einschließlich der USA und Israel. Es war die jugendliche Neugier auf die Welt und ihre Vielfältigkeit, weshalb Osama damals den Kontakt unter anderem zu den Amerikanern und Israelis suchte. Ihre Unterhaltungen drehten sich um Themen wie Musik, Mode, Technik, Freundschaft und Liebe. Der syrische Staat sah darin jedoch eine potenzielle Gefahr, denn diese Art von Kommunikation könnte irgendwann in einem Austausch über Freiheit und Menschenrechte münden. Vorsorglich wurde Osama verhaftet und verschwand für mehr als ein Jahr in den Kellern der Geheimdienste von Bashar al-Assad, wo er alle möglichen Verhörmethoden über sich ergehen lassen musste, inklusive Folter und Misshandlungen. Der offizielle Vorwurf gegen ihn lautete: „Kontaktaufnahme zu dem zionistischen Feind.“

Munas Heimat war Aleppo, die zweitgrößte Metropole Syriens. An der dortigen Universität fing sie an, Freie Kunst zu studieren. Auf einer Heavy Metal Party in Damaskus, wo Osama mit seiner Band auftrat, lernten sie sich kennen und verliebten sich sofort ineinander. Seinetwegen wechselte sie nach kurzer Zeit zur Universität in Damaskus. Es dauerte nicht lange, bis sich die zwei jungen, verrückten Seelen verlobten und heirateten. Von der Hochzeit der beiden damals Zweiundzwanzigjährigen sprach die ganze Stadt – in erster Linie die Damaszener Jugend: Das Paar sprengte alle religiösen und kulturellen Regeln und Maßstäbe, weil sie bei der Hochzeit weder den traditionellen Bräutigamszug namens „Zaffe“ noch islamische Bräuche zuließen. Auf der Feier spielte zur Überraschung aller Gäste Osamas Band Musik von Iron Maiden, Metallica und Danzig. Die Krönung der Party war der Auftritt des Bräutigams mit nacktem Oberkörper. Alle älteren Gäste, darunter die Onkel und Tanten des Ehepaares, verließen augenblicklich die Gesellschaft. Nur die Jungen blieben und tanzten auf den Tischen, einschließlich der Braut selbst. Osamas und Munas Verhalten mitten im arabisch islamischen Damaskus war revolutionär.

Die anschließende Hochzeitsreise der beiden scheiterte schon an der syrisch-türkischen Grenze. Dort wurden Muna und Osama seitens der syrischen Grenzbeamten an der Ausreise gehindert und Osama festgenommen. Inwiefern die diesmalige Verhaftung mit der Hochzeitsparty zu tun hatte oder ob andere Gründe ursächlich dafür waren, erfuhr Osama nicht. Als er nach einer Woche aus dem Gefängnis entlassen wurde, nutzte er die erstbeste Gelegenheit, um mit Muna aus dem Land zu fliehen. Seitdem hatten sie keinen Fuß mehr auf syrischen Boden gesetzt. Kontakt zu ihren Verwandten in Aleppo und Damaskus besaßen sie nicht mehr. Und das ebenfalls seit dreißig Jahren.

In Deutschland dauerte es nicht lange, bis Osama sein berufliches Glück fand. Seine speziellen IT-Kenntnisse verhalfen ihm zu einer Stelle als Datenbankspezialist bei der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Dort war er immer noch tätig. Das junge Paar hatte auch das Glück, ein gesundes Baby zu bekommen. Sie nannten es Anders.

Die Liebe seiner Eltern zu ihrer Heimat Syrien mutmaßte Andy bloß anhand von Indizien. Seine Eltern gaben sich alle Mühe, diese zu verheimlichen, sie leugneten sie sogar. Sie versuchten, mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern, dass Andy Syrien lieben lernte. Durch sie durfte er weder Liebe noch Loyalität zum Land seiner Vorfahren entwickeln und es gewann bei ihm keinen höheren Stellenwert als Länder wie Trinidad und Tobago oder Burkina Faso. Die einzige wertvolle Verbindung zu Syrien, die Andy vom Elternhaus mit auf den Weg gegeben wurde, war die Sprache. Andy konnte fließend Arabisch sprechen.

In der Nacht vor dem Abflug nach Aleppo dachte Andy viel über seine Eltern nach. In Wahrheit mussten sie also Syrien lieben, aber der Krieg und die Tyrannei durch Assad und das Treiben der später dazugekommenen IS-Djihadisten hatten ihre Seelen beschädigt. Die Eltern trauten dem Frieden nicht und fürchteten, dass das Leiden irgendwann wieder ausbrechen würde. Und leiden wollten sie nicht - nie mehr. Auch waren sie der Meinung, dass die Tore der Hölle nicht mit dem Ende des Krieges geschlossen worden waren. Sie hatten Angst vor der kriegsgeschädigten Generation, die aus seiner Sicht unberechenbar war.

In jener Nacht erinnerte sich Andy an eine Begebenheit aus seiner eigenen Kindheit. Er hatte damals vom Bürgerkrieg einiges mitbekommen: wie seine Mutter heimlich vor dem Fernseher saß und beim Anblick der Bilder des Mordens und Zerstörens heulte. Assad legte die Stadt Aleppo damals in Schutt und Asche – eine Stadt, die an historischem Reichtum kaum zu überbieten war. Eine Stadt, die über zwei Jahrtausende älter war als das Christentum. „Eine Fabrik der Geschichte“, hörte Andy seine Mutter einmal über Aleppo sagen.

In dieser Aussage erkannte er Munas Hochschätzung für Aleppo. Ein derartiges Lob vernahm Andy jedoch kein zweites Mal.

Der Golan-Marathon

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