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Kapitel 6

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»Morgen früh wirst du aufstehen und fortgehen von hier. In deinen Augen unser Tränenlächeln, in deinem Kopf diese Wüste, die dich zur Welt kommen sah und sich jetzt weigert, dich zu ernähren, wirst du losziehen, im Herzen dieses Schuldgefühl, deine Brüder im Stich gelassen, deine Mutter verraten zu haben. Sie wird dir nachsehen, wenn du fortgehst, und wird nicht die Kraft haben, dich zurückzurufen. Und nie wieder den Mut, deinen Namen auszusprechen oder ihn auch nur zu vernehmen. Doch du wirst weiter deines Weges ziehen. Du wirst deinen Schritt nach deinem Herzen richten. Folge ihm, er führt dich dahin, wo du es endlich schlagen hörst.«

Da sein Vater so entschieden hatte, tat Taschfin, was niemand im Stamm vor ihm je getan hatte. Er schöpfte etwas Sand mit der Hand, tauchte zwei Finger hinein und sagte Aug in Auge diesem Landstrich Adieu, wo man geboren wurde, lebte und starb, ohne die Welt je gesehen zu haben. Dann kehrte er seinem Vater den Rücken und wandte sich schnurstracks gen Norden, mit dem zielstrebigen Schritt dessen, der seinen Weg kennt. Zwei Gerstenfladen führte er mit sich, ein paar Tropfen Wasser und einen unerschöpflichen Vorrat jener Schrift, in die sein Vater ihn eingeweiht hatte. So lief er viele Tage lang und hielt nur inne, um dem Schrei eines Tiers in der Ferne zu lauschen oder dem Klang nächtlicher Trommeln, der den Gesang der Stimmen übertönte. Er traf auf Männer mit fiebrigem Blick, Frauen mit sonnenverbranntem Gesicht, auf matte, erschöpfte, staubumwölkte Kinderaugen. Alle ignorierten ihn, wenn er vorüberkam; hatten sie seine Anwesenheit auch nur bemerkt? Nachts streckte er sich mit zerschlagenen Gliedern aus, um auf den Wind zu horchen und auf sein eigenes, noch viel heftigeres Keuchen. Wochenlang durchquerte er triste Gefilde, stieß auf räudiges Vieh oder lahmende Pferde, auf blutende Tiere oder andere, die daran krepierten, dass sie eben hier und nirgendwo anders waren. Alle hatten noch die Augen geöffnet, wie um dem Schauspiel des eigenen Todes beizuwohnen. Tiere, die der Wüstenwind später an jener Stelle begrübe, an der ihr Blut geflossen war.

Tagelang noch führte ihn sein Weg durch nackte Geröllhalden, staubige Pfade und ausgetrocknete Sturzbäche. Wenn ich bis zum Abend kein Wasser finde, dann werde ich, so wahr ich Taschfin heiße, sterben, wenn ich keines finde. Er kam durch kleine rote Dörfer, deren Namen wie diese Saiteninstrumente klangen, die sich die Kinder, und nur sie, noch heutigentags zusammenbasteln. Zu Fuß, immer dem Bogen der Sonne folgend, erreichte er einen Weiler, in dem gerade ein Fest stattfand, dann ein Tal, in welchem Bäume wuchsen, die auch an diesem Tag malvenfarbene Blüten trugen. Von dort ging es weiter, bis er in die Haouz-Ebene kam und hinter einer Bergkuppe einen Fluss erreichte, der bei den Einheimischen Lhan’ch – die Schlange – hieß, seit M’hand, der den Berg als erster bestiegen hatte, ihm diesen Namen gegeben hatte.

Taschfin verharrte einen Moment, um dem verrückten Flug eines Vogels nachzusehen. Von dieser Bergkuppe aus oder, besser noch, auf diesen weißen Flügeln sollte er jetzt eigentlich seine Reise fortsetzen, die Beine ganz lang, die Arme gespreizt, die Hände schön flach, die Finger im Rhythmus des Windes. Und dann die Augen weit auf, ganz dem Himmel sich öffnen, sich leicht machen, leicht genug, um über diese rote, von Palmen betupfte Erde zu fliegen. Das Gesicht über das Gesicht der Stadt gebeugt, über ihre Mauern aus Blut, ihre Wasserbassins, die in den Smaragd der Gärten eingraviert sind, ihre vom Himmel aus kaum sichtbaren Bäume, ihre Orangenblütenhaine, ihre Sackgassen und Souks und das Spinnennetz ihrer Gässchen. Ja, jetzt sollte er eigentlich fliegen können, die Hände schön flach, die Finger gestreckt, die kupferne Spitze eines Minaretts berühren, mit dem Blick die grünen Dachziegel streifen, über einen Patio gleiten, einen Durchlass entdecken, einen Weg finden, sich auf diesem merkwürdigen Baum niederlassen, der jenem Mann Schatten spendet, dessen Name auf der Haustür eingraviert ist. Jener Tür, vor der es Taschfin dämmerte, dass seine Reise hier zu Ende war.

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