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Kapitel 4

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Taschfin war in einem riesigen Sandpergament zur Welt gekommen. Die Menschen und Tiere, die es durchquerten, ließen Schriftzeichen zurück, die emsige Winde noch vor Einbruch der Nacht wieder verwehten. Den Ort nannte man Wüste. Und da er sich bis heute nicht verändert hat, nennt man ihn noch immer so.

Die Wüste ist schön, sehr sogar.

Eines Tages vollendete Taschfin sein zwölftes Lebensjahr. Issa Maarouf, sein Vater, sah, wie er ins Zelt kam und auf ihn zulief. Bis er unmittelbar vor ihm stehen blieb. Da, genau vor ihm.

»Vater, sagt, wo ist die Sonne, wenn sie nicht scheint? Wo der Wind, wenn er nicht weht? Und wo ist die Nacht, wenn sie nicht da ist?«

Issa Maarouf sagte nichts. Er wandte seinem Sohn den Rücken zu und bedeutete ihm, kurz vor Verlassen des Zeltes, als er noch nicht ganz draußen, aber schon nicht mehr drinnen war, mit einem heftigen, eidechsenartigen Rucken des Kopfes, ihm zu folgen.

Hinter ihm, Schatten seines Schattens, tat Taschfin weiter nichts als seinem Vater beim Gehen zuzusehen, und solange dieses Gehen währte, tat er nichts als nur das. Ihm beim Gehen zuzusehen. Er sah, wie sein Vater sich vom Zelt entfernte, schneller wurde, fast schon lief, einen nicht vorhandenen Abhang hinab, weiter und weiter, dann gemächlicher wurde, bis er nicht mehr, oder kaum noch, nur noch unmerklich, von der Stelle kam, dann wieder ein paar Schritte tat, dabei leicht ein Bein abspreizte, sich auf das andere stützte, und dann immer langsamer wurde, bis er endgültig zum Stehen kam. Er sah auch, wie er seinen Lauf unterbrach, um einer imaginären Falle auszuweichen, sich raschen Schrittes voranbewegte und über ein unsichtbares Hindernis sprang. Denn vor ihnen war von Anfang bis Ende weit und breit nichts als Sand. Überall. Man hätte meinen können, dass dieser Mann, der doch einfach nur ging, in Wahrheit etwas ganz anderes tat. Und die Spuren, die er hinterließ, waren wie die Erinnerung an einen Tanz, wie Aschereste eines in Flammen lodernden Körpers. Es musste doch ein Wort geben dafür. Um einen Mann zu bezeichnen, der über den Rücken der Wüste flatterte, als wäre er ein Schreibrohr aus Schilf, ein Calamus, der einen Buchstaben nach dem anderen auf einem Pergament notiert.

Dort angekommen, wo er ankommen wollte, verlangsamte Issa Maarouf seinen Schritt, bis er sich nicht mehr von der Stelle rührte. Und auch Taschfin war da, direkt hinter ihm, und rührte sich nicht mehr. Der Vater sagte noch immer nichts. Geschmeidig wie ein Tier kauerte er sich hin und begann, mit dem Finger Konturen in den Sand zu zeichnen. Taschfin kauerte sich ebenfalls hin und tat weiter nichts, als dem Finger seines Vaters zuzusehen. Der Finger wagte einige Schritte, drängte nach vorn, flog förmlich davon, verlor sich unterwegs, versank im Sand, tauchte sofort wieder auf, machte sich ganz leicht, zerfurchte den Sand mehr, als dass er sich hineinbohrte in ihn, ersann eine andere Route, erklomm eine Gerade, kam zurück, drehte sich um sich selbst, glitt zeichnend über den gezeichneten Zug hinweg, richtete sich auf und pickte nach zwei Körnern – ja, zwei kleinen Körnern in der hohlen Hand einer Rundung.

Ein Vogel, dieser Finger des Issa Maarouf. Wirklich, man könnte meinen, ein richtiger Vogel. Und überall hinter ihm: Spuren.

»Weißt du, was das ist?«

»Der Tanz eines Skorpions, Vater?«

»Nein, Taschfin.«

»Das Vorbeihuschen einer Schlange?«

»Nein.«

»Der Lauf einer Eidechse?«

»Nein, mein Sohn. Das ist die Antwort auf deine Fragen.«

Taschfin, stumm. Noch immer in der Hocke.

»Die Spuren, die du hier siehst, das ist die Schrift. Eine Karawane, die auf einer Linie vorrückt. Sieh nur die Hand, wie sie schreibt, und jeder Buchstabe lässt hinter sich die Erinnerung an seine Reise zurück. Weißt du, unser Leben ist nichts als eine Abfolge von Spuren, welche die Zeit fortwährend löscht. Alle Sonnen gehen einmal unter, und alle Winde legen sich irgendwann. Alle Nächte, Taschfin, haben ein Ende. Aber es gibt ein glückliches Königreich, in dem die Dinge, die geboren werden, für immer geboren werden und für immer unter unseren Augen sind. Es ist jenes Reich, das du auf dem engen und gewundenen Pfad der Schrift betrittst.«

Taschfin in der Hocke, stumm. Nach einer Geste suchend, um auszudrücken, was er mit Worten nicht zu sagen wusste.

»Die Zeichnung, die du hier siehst, das ist eine Frau. Das da sind ihre Augen, und diese Spuren besagen, dass sie schwarz sind, von einem tiefen, reinen Schwarz, wie ein Gefieder. Jetzt muss ich nur noch dies hinzufügen, damit sie schön aussieht, oder das, damit sie noch viel schöner aussieht.«

Taschfin, stumm, tat weiter nichts, als dem Finger seines Vaters zuzusehen. Und obwohl er nichts als Sand vor Augen hatte, stellte er sich diese Frau vor, die ihre ganze Schönheit aus der flüchtigen Bewegung eines simplen Fingers bezog.

Ein Flügelschlagen. Issa Maarouf schaute kurz auf, dann senkte er den Blick auf seinen Sohn:

»Wenn du dir diese Frau bewahren willst, musst du sie mit Tinte niederschreiben. Nur so findest du sie jederzeit wieder, und immer so jung und so schön wie einst. Ich werde dich lehren, Weiß mit Schwarz zu bedecken, so wie die Nacht den Tag bedeckt.«

»Vater?«

»...«

»Und wenn man sie einfach hier lässt, diese Frau? Wenn man sie nur so in den Sand hineinschreibt?«

Issa Maarouf schürzte die Lippen, wie um zu pusten, und wischte mit der flachen Hand die Spuren hinweg, sämtliche Spuren.

»Dann wird der Wind sich erheben und wird die Frau mitsamt ihrer Schönheit hinwegtragen mit sich. Und ihre Augen werden nicht mehr sein, um zu sehen, Taschfin, und das Schwarz ihrer Augen wird nicht mehr wissen, wohin.«

Nomade

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