Читать книгу Nomade - Youssouf Amine Elalamy - Страница 9
Kapitel 5
ОглавлениеDie Wüste ist schön, sehr sogar. Aber auch tödlich. Und eines Tages kam er, der Tod. Überallhin. Die Tiere krepierten mit aufgedunsenem Bauch, vom Winde versengter Zunge und Augen, die weit aufgerissen waren, als weigerten sie sich, dort, inmitten von nichts, zu sterben. Nur einige Vögel kreisten weiterhin am Himmel, in sicherem Abstand zu den Menschen.
Die Sonne brachte einen Greis nach dem anderen zur Strecke, und man ließ sie einfach am Wegrand liegen, halb vom Sand begraben, verdorrten Baumstümpfen gleich. Man machte sich längst nicht mehr die Mühe, ein Loch zu schaufeln, sie mit Erde zu bedecken und darauf ein paar Steine zu häufeln, um sie vor wilden Hunden zu schützen. Es gab nichts mehr zu fürchten. Auch die wilden Hunde waren tot, ihre Augen und Bäuche unter der sengenden Sonne zerplatzt. Manchmal pfiffen die heißen Winde durch die Gerippe, aus denen es dann nach Vogelschrei klang. Niemand schien diese Musik zu hören; keine Frau verspürte Lust, darauf zu tanzen. Völlig erschöpft, hatten die Frauen nicht einmal mehr die Kraft, um ihre Kinder zu weinen, die in ihrem Rücken starben. Sie trugen sie auf dem Rücken, weil sie es nicht über sich brachten, in diese Augen zu sehen, die sie mit zärtlichem Blick anklagten. Diese Kinder, als Nomaden geboren, waren bereits auf Wanderschaft. Sie hatten ihre Mütter als Reittier gewählt, um diese Wüste ohne Wasser, ohne Schatten, ohne Nahrung zu verlassen, diese Erde, aus der jedes Leben gewichen war.
Wer unter den Männern noch Kraft dazu hatte, zerriss mit bloßen Zähnen Pflanzenfasern, saugte den mageren, bitteren Saft einer Wurzel aus. Andere zählten mit finsterer Wut im Blick ihre Toten. Wieder andere, schon sehr geschwächt, stritten um einen Platz im Schatten einer Palme, ließen sich dann zu Boden fallen wie ein verletztes Tier. Ihnen war, als sähen sie oben in den Palmen die Phalanx des Todes, bereit zum Zugriff. Nie waren ihnen die Palmen näher erschienen, nie schneidender. Und sie blieben einfach liegen im Sand und warteten stumm, ja reglos, den Kopf auf einen dürren Stein gebettet. Warteten auf etwas und wussten als Einzige, worauf. Wussten als Einzige, dass sie darauf warteten, dass nichts passierte. Und so verharrten sie stundenlang, ohne zu reden, und starrten ins Blau, wo sie etwas sahen, von dem sie eigentlich dachten, es sei unsichtbar: den Tod.
Einmal sah Taschfin, wie einer der Männer sich mühsam auf dem Bauch fortschleppte, um abseits der anderen zu sterben. Als er so weit gekommen war, wie er nur konnte, wurde er immer langsamer, bis es gar nicht mehr ging. Und auch Taschfins Augen waren da, blieben an ihm haften, kamen nicht mehr von ihm weg. Die Spuren, die dieser Mann am Boden zurückließ, ähnelten der Asche eines verbrannten Körpers. Es musste doch ein Wort dafür geben. Ein Wort für einen Menschen, der auf kleiner Flamme stirbt.
Aber vielleicht hatte dieser Mann auch begriffen, dass er genau hier lauerte, der Tod: in diesem stummen, ja reglosen Warten im Schatten einer Palme. Dass er, wenn er ihn ein wenig aufhalten wollte, sich rühren musste, sich vorwärts bewegen, ein wenig voran, auf den Händen, den Augen, dem Bauch, irgendwie, bloß sich bewegen, immer weiter, stets ein bisschen voran. Denn hier war das Leben, und nirgendwo sonst, in jedem Schritt, den er tat, und sei er noch so klein, jeder Hand, die sich weiter und weiter nach vorne schob. Jedes noch so kleine Stück Weg verriet, dass er noch lebte und dem Gegner einen Schlag nach dem anderen versetzte. Mit bloßen Händen, ohne Klinge, ohne Waffe, allein mit den Fingern, die der Wüste ebenso viele Wunden zufügten, wie sie sein Körper, sich über den Sand schleppend, gleich wieder verband. Alles Schriftzüge, diese Spuren, die er im Sand hinterließ. Ein Auge, das all dem von oben zusähe, dächte wohl an eine Hand, die über ein Pergament dahingleitend einen Abschiedsbrief schreibt und im selben Zug wieder löscht.
Jeden Tag zogen die Beni Maarouf von dort weiter, wo sie sich am Abend zuvor niedergelassen hatten. Männer, Frauen und Kinder, ein ganzer Stamm war auf den Beinen. Doch wo immer sie hinkamen, der Tod war flinker als sie. Überall fanden sie Kadaver vor. Das Vieh lag mit klaffenden Bäuchen herum, und durch die schimmernden Rippen pfiff leise der Südwind. Von den wenigen Tieren, die weitergezogen waren, immer der Witterung nach, doch ohne den geringsten Grashalm oder Wassertropfen zu finden, von denen wussten die Menschen, sie würden bald von ausgehungerten Vögeln eingeholt, die sich auf sie stürzten, um ihnen die Augen auszuhacken. Die zähesten unter ihnen würden ein wenig später fallen, schwerfällig, krampfhaft zuckend, vor Leben wimmelndes rotes Fleisch – als hätten sie auf diese Weise sterben wollen, ihrer Spezies entsagend, um als Armee von Larven wiedergeboren zu werden: Soldaten, die zu Tausenden in die Materie vordrangen, sie Faser für Faser auseinandernahmen.
Manchmal trafen sie auf ein versprengtes Tier, das noch lebte und nur verletzt war, verängstigt und geschwächt. Erschöpft ließ es sich fallen, mit schäumenden Nüstern, raffte sich jäh wieder auf, von einer verborgenen, flüssigen Kraft getrieben, die es aus der Tiefe seiner Adern bezog, aus seinem Knochenmark, aus allem, was ihm noch an Stolz und Blut und Muskelkraft verblieben war. Entfesselt, mit tobenden Augen, wirrem Blick, die Hufe zur Verfolgung eines unsichtbaren Feindes geschwungen, raffte es sich auf, sank alsbald in sich zusammen und stürzte abermals hin, mit verrenkten Gliedern, gebrochenem Genick, den Kopf an einem Stein zerschmettert, die Zunge zerfetzt.
Im nächsten Moment hob es nochmals unmerklich den Kopf, wie um sich zu vergewissern, dass es noch nicht gänzlich tot war, und blickte den Menschen nach, die vorüberzogen und es mit demselben intensiven, schwerfälligen Blick bedachten. Leidensgefährten, Aug in Auge, ein Tier am Boden und die Menschengeschöpfe auf dem Durchzug. Was sollte es noch fürchten von diesen Menschen, die doch genauso dazu verdammt waren, diese Wüste zu nähren, die sich weigerte, sie zu ernähren? Dieses Tier, das bald als Tier unter Tieren verenden würde, tierischer denn je, ohne Gebet, ohne Bestattung, ohne Trauer, und ohne dass auch nur eine Träne flösse ... mit gespreizten Läufen und einem Bauch, der über purpurnen Rippen klaffte, die sich wie Schilfrohre dem Wind zum Spiel darboten. All die Huftritte ins Leere, die Schreie, das Klagen, das Röcheln und Stöhnen, all dieser Schmerz, dieser Kampf, dieses Leid – verwandelt in sanfte Musik. Und übrigens, wenn man so aus der Ferne sah, wie es da zwischen den anderen, bereits toten Tieren lag, hätte man fast meinen können, aber nur aus der Ferne wohlgemerkt, ohne dass man sich zu nähern suchte noch sie aus der Nähe zu betrachten geschweige denn zu betasten versuchte, all diese Tiere, wie sie da im Sand lagen, fast schon Skulpturen gleich und kaum mehr animalisch, aus der Ferne betrachtet, hätte man meinen können, da lägen ein paar Musikinstrumente, zurückgelassen von einem Orchester in kopfloser Flucht.
Die Männer liefen tagelang weiter, so lange, bis sie nicht mehr laufen konnten. Bis sie nicht einmal mehr wussten, was Laufen war. Sie hatten Wundmale und fragten sich, woher diese Wundmale wohl stammten, da sie doch keinerlei Kampf gekämpft, keine Schlacht geschlagen, keine Waffe in die Hand genommen hatten. Sie ließen im Sand die Spur ihrer Schritte zurück, in welche die Frauen aus Furcht, sich zu verirren, sogleich ihre Füße setzten. Ausgehungert und erschöpft, wie sie waren, liefen alle tief gebeugt. Nur die Palme hielt sich noch gerade. Hoch aufgerichtet flehte sie den Himmel an und rezitierte, im heißen Wüstenwind nickend, ihre Gebete. Gleich dem Alif stand sie aufrecht zwischen all den Krümmungen, den verstreuten Punkten und gebrochenen Linien.