Читать книгу Das Wunder von Errikousa - Yvette Manessis Corporon - Страница 13
GEFAHR FÜR ERRIKOUSA
ОглавлениеErrikousa
September 1943
Obwohl sie Christen und von den Gräueltaten im jüdischen Getto kilometerweit entfernt waren, wussten die Bewohner der Insel Errikousa, dass sie gegen die Drohungen der Nazis nicht immun waren. Es war für Yiayia zwar ein Trost, dass ihre Verwandten auf Errikousa sie unterstützten, seit ihr Mann in Amerika war. Aber sie wusste auch, dass sie alles tun musste, um sich und ihre Kinder zu schützen.
»Wer ist gestorben, Mama?«, fragte die Schwester meines Vaters, Agatha. Sie saß auf dem Bett und schaute zu, wie ihre Mutter, meine Yiayia, nicht ihren typischen grauen Rock und ihre graue Bluse anzog, sondern sich von Kopf bis Fuß schwarz kleidete. Trauerkleidung.
Yiayia strich ihren wollenen, schwarzen Faltenrock glatt, knöpfte ihre schlichte, schwarze Bluse zu und knotete das schwarze Kopftuch, das ihre glatten Haare und den Mittelscheitel verdeckte, unter ihrem Kinn.
»Wer ist gestorben?«, fragte auch mein Vater, Anastasios, der allmählich ungeduldig wurde.
Sie wollten sich endlich auf den Weg zur Schule machen. Ihnen ging es nicht so sehr darum, pünktlich zum Unterricht zu kommen; aber der Lehrer hatte die Angewohnheit, Kinder, die zu spät kamen, zu ohrfeigen. Auf Errikousa wurden Kinder in jenen Jahren oft geschlagen – von Eltern, Lehrern, Verwandten, sogar von Fremden. Ein Kind bekam eine Ohrfeige oder ihm wurden die Ohren lang gezogen, wenn es vorlaut oder ungehorsam war – und manchmal war dazu auch überhaupt kein Grund nötig. Die Ohrfeigen waren genauso Teil der Kultur wie die Sitte, die Nachbarn mit »Yiasou« zu grüßen oder sich zu bekreuzigen, wenn man an einer Kirche vorbeiging.
Ihre Mutter interessierte es nicht, dass sie womöglich zu spät zur Schule kamen. Sie bestand darauf, dass die Kinder ruhig sitzen blieben. Sie hatte ihnen etwas zu sagen.
»Ihr seid jetzt Waisen.«
»Nein, das sind wir nicht«, widersprach Agatha.
»Was redest du da? Wir sind keine Waisen«, warf mein Vater ein.
Sie waren ganz sicherlich keine Waisen. Ihre Mutter stand vor ihnen und ihr Vater, mein Papou, war in Amerika. Sie hatten ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, aber er war quicklebendig. Papou hatte Errikousa verlassen, bevor die Italiener und dann die Nazis gekommen waren. Er wollte arbeiten und genug Geld sparen, damit er die Familie zu sich nach Amerika holen konnte. Aber dann war der Krieg ausgebrochen und hatte es ihm unmöglich gemacht zurückzukommen. Er schickte ihnen Briefe. In den Umschlägen mit dem Stempel »Aus den USA« steckten Dollarnoten, die zwischen handgeschriebenen Seiten versteckt waren. Allerdings trafen diese Briefe inzwischen immer seltener ein. Dabei wurden sie jetzt dringender gebraucht als je zuvor. Aber alle paar Wochen kam solch ein Brief mit Geld, und das bewies, dass Papou lebte und dass es ihm in Amerika gut ging, während Yiayia auf das Ende des Kriegs wartete und alles tat, um auf Errikousa zu überleben.
»Doch«, beharrte Yiayia. Sie packte beide Kinder am Arm und schüttelte sie, um ihre ganze Aufmerksamkeit zu haben. »Doch, ihr seid Waisen. Wenn die deutschen Soldaten fragen, wo euer Vater ist, sagt ihr, dass er tot ist. Ihr dürft ihnen nie verraten, dass er in Amerika ist. Versteht ihr? Niemals!« Mit den Einzelheiten des Krieges, der Politik und den Gründen, warum sich die Alliierten gegen die Deutschen zusammengeschlossen hatten, kannte sich Yiayia nicht genau aus. Aber sie hatte genug verstanden, um zu wissen, dass die Deutschen die Amerikaner hassten. Sie wusste, wenn die Nazis erfahren sollten, dass ihr Mann in den Vereinigten Staaten lebte, würde ihre Familie wahrscheinlich wie die Familie eines Amerikaners behandelt werden. Das konnte sie nicht riskieren.
Agatha war erst sieben und mein Vater war neun, aber auch sie begriffen es, noch bevor sie es laut aussprach: »Sie werden uns alle töten, wenn sie hören, dass euer Vater in Amerika ist.«
»Ja, Mama.« Agatha und mein Vater nickten beide. Aber mit einem einfachen Versprechen gab sich Yiayia nicht zufrieden.
»Schwört es!«, verlangte sie und nahm die Ikone von Korfus geliebtem Schutzpatron, dem heiligen Spyridon, von ihrem Platz an der Wand. »Schwört es beim heiligen Spyridon.« Sie hielt den Kindern die Ikone hin.
Die beiden waren klug genug, sich nicht mit Yiayia oder dem Heiligen anzulegen. Vor beiden hatten sie eine gehörige Portion Respekt und Angst. Agatha und mein Vater legten jeweils den Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand zusammen und machten dreimal das Kreuzzeichen, bevor sie die Ikone küssten.
Jetzt war Yiayia zufrieden. Sie öffnete die Tür und schickte die beiden Kinder zur Schule. Mein Vater und Agatha rannten den ganzen Weg – einen Feldweg mit Blick aufs Meer – den Hügel hinab zum Schulhaus. Die Schule stand im Schatten des alten Friedhofs neben der Kirche und bestand nur aus einem einzigen Raum.
Yiayia trat in die Morgensonne hinaus, wo ihre Schwägerin, Agathe, auf der Terrasse wartete. Agathe wohnte mit Papous Bruder, Costa, und ihren fünf Kindern in dem schlichten Haus nebenan. Zwischen den beiden Häusern gab es keine Grundstücksgrenze und zwischen den zwei Familien gab es auch keine Grenze. Bevor Papou weggegangen war, hatte er seine Familie seinem Bruder anvertraut. Diese verantwortungsvolle Rolle hatte Costa mit Stolz übernommen und füllte sie gewissenhaft aus. Die Kinder waren mehr wie Geschwister als wie Cousins und Cousinen, und die Schwägerinnen waren wie Schwestern. Die Frauen standen sich sogar näher als Schwestern, da ihre Lebensumstände sie noch enger miteinander verbanden als Familien- oder Blutsbande. Was ihnen an materiellen Gütern fehlte, machten die zwei Familien durch Liebe wett. Agathe, eine zierliche Frau, die schnell zu einem Lächeln bereit war oder auch zu einer Ohrfeige, wenn die Kinder nicht gehorchten, und meine Yiayia mit ihren rabenschwarzen Haaren und Augen von der Farbe schwarzer Oliven teilten alles miteinander: Essen, Arbeit, Dinge des täglichen Lebens und Sorgen.
An diesem Morgen gönnten sich die Schwägerinnen einen seltenen Luxus: Die zwei Frauen saßen zusammen auf der Terrasse, während die frisch aufgehängte Wäsche über ihnen im Wind flatterte und die Hühner im Stall hinter der Terrasse nach Körnern pickten und gackerten.
Sie waren alles andere als reich, und ihre Häuser waren in jeder Hinsicht bäuerlich und schlicht. Aber diese Aussicht! Ihre Aussicht war Tausende, wenn nicht sogar mehrere Millionen Drachmen wert. Von der unebenen Terrasse aus konnten sie über die alten, knorrigen Olivenbäume blicken. Selbst von so weit oben konnten sie jede einzelne große, gelbe Zitrone an den Zitronenbäumen am Fuß des Hügels sehen. Diese Zitronen waren so groß, dass man sie für Pampelmusen hätte halten können, wenn ihre sonnengelbe Farbe nicht gewesen wäre. Unten am Hang, hinter den Bäumen und den wenigen primitiven Steingebäuden und getünchten Häusern, konnten die Frauen bis zum Strand und zum winzigen Hafen blicken. Der Hafen war mit Ausnahme von einigen kleinen, verwitterten Fischerbooten, die auf dem Meer schaukelten, leer.
Aber Yiayia und Agathe hatten die Neuigkeit gehört. Und sie wussten, was auf sie zukam. Sie wussten, dass die Italiener kapituliert hatten und dass früher oder später deutsche Schiffe im Hafen anlegen würden. Niemand wusste, was das genau bedeuten würde, nur, dass alles schlimmer werden würde.
Sie war arm, kaum gebildet, aus der Provinz. Wie so viele Griechinnen ihrer Generation war meine Yiayia Avgerini dazu geboren zu dienen – zuerst ihren Eltern und ihrer Kirche und dann ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Enkeln. Nichts wies darauf hin, dass Yiayia oder ihr Leben je aus dem üblichen Rahmen gefallen wäre. Es dauerte fast 70 Jahre, bis wir begriffen, wie außergewöhnlich sie gewesen war.
Yiayia wohnte auf der winzigen, abgelegenen Insel Errikousa, nur zehn Kilometer, aber trotzdem Welten entfernt von der vergleichsweise kosmopolitischen Insel Korfu. Errikousa liegt an der Nordwestspitze Griechenlands, nur wenige Kilometer von der albanischen Küste entfernt, deren sandige Strände man von den dichten, grünen Hügeln der Insel aus mit bloßem Auge sehen konnte.
In den 1940er-Jahren und auch noch Jahrzehnte später war Errikousa eine abgeschiedene Insel. Es gab nur wenige Telefone, kaum Strom, Toilettenhäuschen hinter dem Haus, keine Polizei, keine Ärzte und keine Geschäfte. Die Inselbewohner führten ein einfaches und beschauliches Leben und fuhren in den kleinen Fischerbooten nach Korfu mit, wenn sie etwas brauchten, das nicht geerntet, gefischt oder selbst hergestellt werden konnte.
Auf Errikousa bestand eine Inselgemeinschaft, in der Bescheidenheit und Moral sehr wichtig waren. Oft wurden Mädchen schon als Jugendliche verheiratet. Am Morgen nach der Hochzeit hing als Beweis dafür, dass die Braut noch Jungfrau gewesen war, ein Bettlaken mit Blutflecken an einem Olivenbaum. Obwohl sie auf einer Insel lebten, lernten Frauen und Mädchen nie schwimmen. Einen Badeanzug anzuziehen und im Meer zu baden, wurde als schamlos und skandalös betrachtet und brachte Schande über die Familie eines Mädchens. Selten, wenn überhaupt jemals, wurde ein Mädchen in der Generation meiner Yiayia in das winzige Schulhaus von Errikousa geschickt, um etwas zu lernen. Kochen, Putzen, die Versorgung des Viehs und die Bestellung des Gartens waren die einzigen Fertigkeiten, die eine Frau beherrschen musste, und sie wurden zu Hause unter den wachsamen Augen von Müttern, Tanten und Großmüttern erlernt.
Gesellschaftlich und spirituell drehte sich das Inselleben um die winzige Kirche Sankt Nikolas, in der Sonntagsgottesdienste, Feste, Hochzeiten, Sakramente und Namenstage gefeiert wurden. Das kleine, mit Ikonen geschmückte Gotteshaus unmittelbar neben dem alten Friedhof und nur wenige Schritte vom Schulhaus entfernt, war buchstäblich Herz, Seele und Mittelpunkt des Insellebens. Yiayia und die Inselbewohner hatten einen tiefen Glauben. Sie fuhren auch regelmäßig von ihrer Insel nach Korfu, um die Kirche zu besuchen. Als 1944 die Nazisoldaten alles taten, um die jüdische Gemeinde zu vernichten, fielen Bomben der Alliierten auf Korfu und zerstörten einen großen Teil der Altstadt. Während die umliegenden Gebäude verbrannten und in Schutt und Asche gelegt wurden, blieb die Kirche mit ihrem ikonengeschmückten Marmoraltar, ihren kunstvollen Deckengemälden mit silbernen Laternen und ihrem eindrucksvollen Glockenturm unversehrt und intakt.
Trotz der Armut und der unsicheren Zeiten hatten Yiayia und die anderen Inselbewohner Glück. Im Gegensatz zu den Hunderttausenden, die im vom Krieg gebeutelten Griechenland Hunger litten, konnten auf Errikousa selbst die ärmsten Familien, die kein Vieh und kein Einkommen hatten, die fruchtbaren Böden der Insel bepflanzen und sich von Tintenfischen, Hummern, Seeigeln und Fischen ernähren, die sie reichlich und kostenlos aus dem leuchtenden blauen Wasser des Ionischen Meers fischten. Während in ganz Europa der Krieg tobte, erwies sich Errikousas Abgelegenheit, wegen der diese kleine Insel, ihre Infrastruktur und ihre Menschen so rückständig und von der modernen Welt isoliert waren, als Rettung.
Selbst während der italienischen Besatzung ließen die italienischen Soldaten, die in ganz Europa Dörfer plünderten, die Bewohner von Errikousa in Ruhe. Da die Insel so nahe an Italien liegt, sprachen viele einheimische Fischer Italienisch, und der Dialekt der Insel war mit italienischen Wörtern durchsetzt. Die italienischen Soldaten behandelten die Menschen, deren Bräuche und Sprache ihnen so vertraut waren, freundlich und ließen die Inselbewohner größtenteils in Ruhe.
Das Leben für unsere Familie ging genau so weiter wie für den Rest der Insel und Generationen vor ihnen. Yiayia kümmerte sich um ihr Haus und ihre Kinder, erzog Agatha zu einem bescheidenen und frommen griechisch-orthodoxen Mädchen und lehrte sie die Fertigkeiten, die sie eines Tages brauchen würde, um eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Mein Vater verbrachte seine Tage damit, zusammen mit den anderen Jungen über die Insel zu laufen, zu schwimmen, alles zu erkunden und für die italienischen Soldaten Stachelschweine zu fangen, für die das süße Fleisch dieser Tiere eine Delikatesse war. Die Soldaten gaben den jungen Jägern im Tausch gegen die Stachelschweine Schokolade.
Doch dann kapitulierten die Italiener, die Deutschen besetzten die Inseln, und das Leben auf Errikousa, wie Yiayia und die anderen Inselbewohner es kannten, gab es nicht mehr. Mein zehnjähriger Vater lief nicht mehr mit seinen Freunden am Strand entlang und freute sich über Schokolade. Stattdessen stieg er über die Leichen von italienischen Soldaten im Sand, die deutschen Minen zum Opfer gefallen waren. Er schlief nicht mehr beim rhythmischen Rauschen der Wellen und dem Zirpen der Grillen ein, sondern wurde von Nazistiefeln geweckt, die vor seinem Fenster vorbeimarschierten, und von Fäusten, die gegen die Tür hämmerten und Einlass verlangten. Agatha saß nicht mehr neben ihrer Mutter und lernte, wie man hauchdünnen Filoteig mit einem Besenstiel ausrollt, sondern versteckte sich hinter den Röcken ihrer Mutter, sobald sie einen Nazisoldaten erblickte oder jemanden Deutsch sprechen hörte. Und Yiayia führte nicht länger ein stilles Leben in Gehorsam, Pflichterfüllung und Ehrfurcht, sondern ein Leben in Trotz, Gefahr und Widerstand. Sie riskierte ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder, um den Nazisoldaten zu trotzen und das Leben eines Juden und seiner Töchter zu retten.
Dieser Mann war Savvas Israel, der jüdische Schneider aus Korfu.