Читать книгу Das Wunder von Errikousa - Yvette Manessis Corporon - Страница 9

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WIE SCHWESTERN

New Rochelle, New York

Frühling 1981

»Du musst ihn ganz dünn ausrollen. Sonst meint man, man würde in Brot beißen. Es ist aber kein Brot. Es ist Filo. Mit dünnem Filo bekommt man die beste Pita.«

Yiayia streute noch mehr fein gemahlenes, weißes Mehl auf den Küchentisch und rollte dann den Teig mit einem alten Besenstiel aus, den sie vor vielen Jahren aus Griechenland mitgebracht hatte. Trotz der ganzen Geräte und Hilfsmittel, die modernen Köchinnen in Amerika zur Verfügung standen, beharrte Yiayia steif und fest darauf, dass ihr altgedienter Besenstiel das Geheimnis einer perfekten Pita sei. Dieses Mal handelte es sich um Patatopita, Kartoffelpastete, ein typisches Gericht aus Errikousa, der winzigen Insel, auf der meine Yiayia und mein Vater zur Welt gekommen und aufgewachsen waren.

»Er muss dünn sein. So dünn, dass das Licht durchscheint, aber ohne Löcher.« Ihr schwarzes Kleid war mit einer dünnen Mehlschicht bestäubt. Selbst das schwarze Kopftuch, das sie unter ihrem Kinn zusammengeknotet hatte, wies weiße Flecken auf. Aber ihr Aussehen war Yiayia unwichtig. Ihr Filo war perfekt. Und das war alles, was zählte.

»Siehst du?« Um ihre braunen Augen erschienen Fältchen, als sie den Filo lächelnd vor meiner Mutter Kiki hochhielt. Die Nachmittagssonne schien durch den hellbeigen Teig. Kein einziges Loch. Perfekt.

Während meine Mutter und Yiayia den Teig betrachteten und bewunderten, schaute ich durch das Fenster zu den Bäumen im Garten, die sich im Sommerwind wiegten. Ich konnte das Kreischen und Planschen der Nachbarskinder hören, die nebenan schwammen, das Lachen von Freundinnen, die Fahrrad fuhren, und das unverkennbare Quietschen der Kettcars, die die Straße unsicher machten. Ich wäre so gern auch draußen gewesen. Oder wenigstens im Wohnzimmer, um mich auf den verfilzten Flauschteppich zu legen und eine meiner Lieblingsserien anzusehen. Oder sogar in meinem Zimmer, um Bist du da, Gott? Ich bin’s, Margaret zum hundertsten Mal zu lesen. Das ist die Geschichte über ein Mädchen, das auf der Suche nach Gott und ihrer wahren Identität ist. Überall wäre ich lieber gewesen als hier, an diesem Küchentisch, wo meine Mutter und meine Großmutter Speisen zubereiteten, deren Namen meine Freundinnen nicht einmal aussprechen konnten.

Anscheinend hatte meine Mutter meine Gedanken gelesen.

»Yvette, kümmerst du dich um die Kartoffeln?« Sie schob mir eine Schüssel mit abgekühlten gekochten Kartoffeln hin, bevor sie den Filo in einer großen Auflaufform ausbreitete.

Ich folgte ihrer Aufforderung und bröselte die Kartoffeln in die mit Filo ausgelegte Auflaufform, während Yiayia eine Mischung aus Feta, Milch, Dill und Reis dazugab. Statt einen Löffel zu benutzen, tauchte Yiayia den Rand eines kleinen Tellers in die Auflaufform, bewegte ihn hin und her und vermischte damit die Füllung.

»Dein Vater liebt Patatopita.« Yiayia lächelte mich an, während sie den überstehenden Filo am Rand der Auflaufform faltete und den Teig mit einem aufgeschlagenen Ei bestrich. »Selbst während des Krieges, als es manchmal nicht viel zu essen gab, wussten wir, dass wir jederzeit Pita machen konnten. Wenn ich es ihm erlaubt hätte, hätte er problemlos allein eine ganze Pfanne leer gegessen«, lachte sie, während sie ein wenig Zucker daraufstreute, ein wenig Süße zum Salz, bevor sie meiner Mutter signalisierte, dass die Auflaufform in den Ofen geschoben werden konnte. »Damals haben wir natürlich im Freien gekocht. Über einem offenen Feuer mit Holz, das wir im Wald gesammelt hatten.« Sie schloss die Augen und atmete tief ein, als könne sie den Geruch der brennenden Zweige und des Rauchs in der Abendluft riechen.

»Die Zeit während des Kriegs muss schwer für dich gewesen sein, als dein Mann fort war und die Nazis die Insel besetzt hatten«, bemerkte meine Mutter, während sie die Pita in den Ofen schob.

»Oh, ja!« Yiayia nickte heftig mit dem Kopf und gestikulierte mit den Händen, um ihre Worte zu unterstreichen. »Es war schwer, aber Gott sei Dank, wir haben überlebt. Wir hatten unseren Garten und das Meer und hatten genug zu essen. Wir haben nie Hunger gelitten. Wir lernten, uns, so gut wir konnten, von den Nazis fernzuhalten. Und von meiner Freundin Nini habe ich Nähen gelernt. Dank ihr konnten wir unsere Kleider selbst nähen.«

»Nini?«, fragte meine Mutter.

Mein Blick wanderte wieder aus dem Fenster.

»Ich dachte, ich würde alle aus Errikousa kennen. Aber Nini kenne ich nicht. Ihren Namen hast du bis jetzt nie erwähnt«, sagte meine Mutter.

»Ja, Nini«, wiederholte Yiayia mit einem Lächeln. »Wir sagten Nini zu ihr, aber eigentlich hieß sie Nina. Sie stammte nicht aus Errikousa. Sie war aus Korfu. Nini war ein schönes Mädchen, nett und großzügig, und sie konnte gut nähen. Sie war meine Freundin und ich liebte sie wie eine Schwester.« Jetzt wanderte Yiayias Blick aus dem Fenster. »Sie war Jüdin.«

»Jüdin?«, fragte meine Mutter.

Yiayia hatte jetzt meine Aufmerksamkeit, wenigstens für einen Moment. In der überwiegend jüdischen Stadt New Rochelle im Bundesstaat New York, in der wir wohnten, war ich eines von nur zwei griechischen Mädchen an der ganzen Schule. Fast alle meine Freundinnen waren Jüdinnen. Jede Woche gingen sie alle zusammen zum Hebräisch-Unterricht und ich saß einsam und allein im Griechisch-Unterricht und wünschte, ich könnte bei ihnen sein. Ich wollte auch Jüdin sein.

»Ja, Nini war Jüdin«, sprach Yiayia weiter, während sie mit den Händen das Mehl von ihrem Kleid wischte. »Ihr Vater, Savvas, war Schneider. Er hat alle seine Töchter Nähen gelehrt. Und sie haben es mir beigebracht. Sie waren meine Freundinnen«, wiederholte sie.

»Wow«, sagte meine Mutter und warf ihre blondierte Dauerwelle zurück. Das war schließlich Anfang der 80er-Jahre. Meine Mutter war seit fünfzehn Jahren mit meinem Vater verheiratet und ihr Leben war eng mit dem Leben seiner Familie verknüpft. Trotzdem hatte sie nie von Nini oder Savvas oder der jüdischen Familie gehört, die sich auf Errikousa versteckt hatte. »Ich wusste nicht, dass es auf Korfu Juden gab. Oder in Errikousa.«

»Oh, ja«, erwiderte Yiayia, fuchtelte erneut zur Betonung mit der Hand durch die Luft und nickte eifrig. »Auf Korfu gab es viele Juden.« Sie schwieg einen Moment. Ihr Blick wanderte wieder aus dem Fenster. Sie schaute an uns vorbei, an den Bäumen vorbei, in die Ferne, wo das Lachen meiner Freundinnen immer noch schwach zu hören war.

Schließlich sprach sie weiter. »Aber das war vor dem Krieg.«

Das Wunder von Errikousa

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