Читать книгу Das Wunder von Errikousa - Yvette Manessis Corporon - Страница 15

SAVVAS, DER JÜDISCHE SCHNEIDER

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Savvas Israel war ein begabter Künstler, ein geachteter Geschäftsmann und vor allem ein eleganter Mann. Mit seinen durchdringenden Augen, seinem eindrucksvollen Schnurrbart und seinen makellos geschneiderten Anzügen wurde er von Juden und Christen gleichermaßen geachtet. In seiner Schneiderei, die sich im Herzen des jüdischen Gettos in Korfu befand, war immer etwas los. Hier traf man sich, um Geschäfte zu machen, um die neuesten Nachrichten auszutauschen und um sich mit Freunden, sowohl orthodoxen Christen als auch Juden, zu unterhalten.

Die Menschen gaben ihm den Spitznamen Papa Savvas, der Priester. Anfangs war das nur ein nett gemeinter Scherz unter seinen christlichen Freunden. Der Name war aber auch ein augenzwinkernder Hinweis auf seinen Charakter: Savvas war ein weiser Mann, er war freundlich und gütig. Doch das, was als Scherz unter Freunden begann, setzte sich fest und verbreitete sich, bis ihn schließlich jeder so nannte: Papa Savvas, der jüdische Schneider aus Korfu. Aber der ironische Unterton von Savvas’ Spitznamen war nicht das einzige Paradoxon in Savvas Israels Leben. Zwar war im Grunde jedes Kleidungsstück, das Savvas schneiderte, perfekt und fehlerlos genäht, aber die Spezialität des jüdischen Schneiders waren die geistlichen Gewänder für den griechisch-orthodoxen Klerus auf Korfu.

Savvas Israel war in seiner Schneiderei nicht allein. Seine vier Töchter, Nina, Julia, Vittoria und Spera, traf man fast immer in der Nähe ihres Vaters an. Da sie ihre Mutter, Rosina, verloren hatten, als sie noch sehr jung gewesen waren, standen sich Nina, Julia, Vittoria und Spera besonders nahe und kümmerten sich umeinander und um ihren Vater.

Nina war die Älteste und hatte viel Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Nina, die von ihren Freundinnen liebevoll Nini genannt wurde, war nicht nur freundlich und ausgesprochen warmherzig, sondern auch sehr begabt. Den Großteil der kunstvollen, feinen Stickerei, für die Savvas’ Schneiderei so bekannt war, fertigte Nina an. Während sich ihr Vater auf die Gewänder des Klerus spezialisierte, wandten sich die Bräute auf Korfu an Nina, wenn sie für ihr Brautkleid oder ihre Aussteuertruhe etwas besonders Exquisites haben wollten. Als Rebecca Aarons Tante heiratete, bestand sie darauf, dass ihre Freundin Nini und niemand sonst ihr Brautkleid nähen sollte. Das Kleid war allen Berichten zufolge einfach traumhaft, mit schönen Spitzenborten und Feinheiten, die keine Nähmaschine je zustande bringen könnte. Es war ein Kleid, das nicht nur von einer einzigen Braut getragen wurde. Ein solches Kleid war normalerweise ein Familienerbstück und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Aber dann kamen die Nazis und ihnen fielen die zukünftigen Generationen und das Kleid zum Opfer.

Spera und Julia waren wie ihr Vater und ihre älteste Schwester für ihre meisterhafte Arbeit und ihr Talent bekannt. Spera war eigensinnig und lebhaft und liebte es, mit anderen Menschen zusammen zu sein und Grenzen auszutesten. Spera war so auffallend schön, dass man sich nach ihr umdrehte. Sie hatte viele Verehrer, was für allerhand Gesprächsstoff sorgte. Vielleicht war es Neid, vielleicht war es einfach Kleinstadttratsch, aber unter den jungen Frauen in der jüdischen Gemeinde sorgten Speras viele Verehrer für stundenlangen Tratsch und viele Spekulationen.

Julia war wie ihre Schwester mit ihrem Vater und ihrer Familie eng verbunden. Sie war ein wenig zurückhaltender als die anderen Mädchen und die Ruhigste von ihnen. Sie behielt ihre Gedanken und ihre Gefühle für sich. Aber wenn man erst einmal Julias Vertrauen erworben hatte, war sie genau wie ihre Schwestern eine Freundin, wie man keine bessere und treuere finden konnte.

Sowohl in der griechischen als auch in der jüdischen Tradition heiratete normalerweise die älteste Tochter als erste. Aber in der Familie Israel ging Vittoria, Savvas’ zweitjüngste Tochter, als erste von zu Hause weg. Mit ihren dunklen, gelockten Haaren und den gleichen durchdringenden Augen, wie sie ihr Vater hatte, war Vittoria kurz vor dem Krieg nach Triest gezogen, um in der Nähe der Familie ihres Mannes zu sein. Julia, Nina und Spera fiel es zu, sich um ihren Vater und umeinander zu kümmern und gleichzeitig das Familienhandwerk zu erlernen. In Savvas’ Schneiderei lernten die unverheirateten Töchter nähen, vervollkommneten dieses Handwerk und wurden unter dem wachsamen Auge ihres Vaters ausgezeichnete Schneiderinnen.

Ein neues Kleidungsstück war für meine Yiayia und alle Bewohner der Insel Errikousa ein besonderes Ereignis. Es geschah nicht oft, dass sie genug Geld für ein neues Kleid, einen Anzug, einen Rock oder ein Hemd hatten, aber wenn es so weit war, war es ein Ereignis. Sie stiegen in die kleinen Fischerboote, die nach Korfu fuhren, und legten so die zehn Kilometer von Errikousas winzigem Hafen zum Hafen von Sidari an Korfus Nordspitze zurück. Von dort aus fuhren sie mit dem Bus 37 Kilometer auf den kurvigen und steil abfallenden Bergstraßen in die Stadt zu Savvas’ Schneiderei.

Aber die Bewohner von Errikousa kamen nicht nur wegen der Kleidung und Savvas’ Nähkünsten immer wieder in seinen Laden. Nachdem sie schon seit so vielen Jahren miteinander Geschäfte machten, waren zwischen Savvas und vielen von der Insel Freundschaften entstanden, und sie tauschten viel mehr aus als Drachmen und neue Kleidungsstücke. Während Savvas von den Männern auf Errikousa als begabter Schneider, kluger Geschäftsmann und treuer Freund geschätzt und geliebt wurde, entstand auch eine enge Freundschaft zwischen Spera, Julia und Nini und meiner Yiayia und vielen anderen jungen Frauen auf der Insel. Es spielte keine Rolle, dass sie Juden und die Inselbewohner Christen waren; was zählte, war Savvas’, Ninas, Speras und Julias Charakter, nicht ihre Religion, ihre Bräuche oder Traditionen. Die zutiefst frommen griechisch-orthodoxen Christen auf Errikousa und die jüdische Familie des Schneiders liebten und vertrauten einander. Trotz ihrer äußeren Unterschiede waren sie durch ihre gemeinsamen Werte – Moral, Anstand und Ehrlichkeit – tief verbunden, auch als sich der Antisemitismus wie eine ansteckende Seuche ausbreitete und die Welt um sie herum den Verstand verlor.


Als die Deutschen im Juni 1944 alle Juden von Korfu auf der unteren Platia zusammentrieben, gelang es Savvas Israel und seinen Töchtern Spera, Julia und Nina sowie einem kleinen Mädchen namens Rosa, das Savvas den Inselbewohnern von Errikousa als seine Enkelin vorstellte, dem Gemetzel zu entfliehen. Mit ihren großen, mandelförmigen, braunen Augen und langen, dunklen Locken hatte Rosa eine unübersehbare Ähnlichkeit mit Savvas’ Tochter Vittoria, dem schönen Mädchen, das die Insulaner von ihren früheren Besuchen in der Schneiderei in Korfu in Erinnerung hatten.

In all den Jahren, seit sie geschäftlich und freundschaftlich miteinander verbunden waren, war Savvas Israel immer ein Mann gewesen, auf dessen Wort man sich verlassen konnte. Als er nach Errikousa kam und behauptete, Rosa sei seine Enkelin, gab es keinen Grund, ihm das nicht zu glauben. Aber die kleine Rosa, das scheue, stille Kind, war nicht die, als die Savvas Israel sie ausgab. Savvas nahm das Wissen um Rosas wahre Identität mit ins Grab. Dieses Geheimnis verriet er nicht einmal den Freunden, die für ihn ihr eigenes Leben riskierten. Er war in diesem Punkt so verschwiegen, dass ich lange suchen musste, bis ich herausfand, wer das kleine Mädchen tatsächlich gewesen war.

Savvas, Nina, Spera, Julia und Rosa gelang es wie durch ein Wunder, dem Chaos auf Korfu zu entfliehen und über die tückischen Bergstraßen und das Meer an das stille, abgelegene Ufer von Errikousa zu gelangen. Sie wussten, wie gefährlich diese Flucht war. Die Drohungen der deutschen Besatzungsmacht waren unmissverständlich. Geschichten von Verrat, wie bei den Familien von Rebecca Aaron und Daniel Soussis, hatten im jüdischen Getto die Runde gemacht. Die Bewohner von Errikousa hatten sich in all den Jahren als vertrauenswürdig erwiesen. Aber das war, bevor die Nazis gekommen waren, bevor es ein todeswürdiges Verbrechen geworden war, mit einem Juden befreundet zu sein.

Sie gingen das Risiko ein und kamen auf die Insel, obwohl sie nicht wussten, ob sie hier Rettung oder Verrat erwarten würde. Doch Savvas, Julia, Nini, Spera und selbst die kleine Rosa stellten bald fest, dass die Menschen auf Errikousa das, was ihnen an materiellem Wohlstand und Schulbildung fehlte, mit Anstand, Mut und Ehrgefühl wettmachten.

Als Savvas, Julia, Spera, Nini und Rosa Errikousas Boden betraten, wurden sie sofort von ihren christlichen Freunden aufgenommen. Unter ihnen war mein Urgroßvater, Anastasios, der inoffizieller Bürgermeister von Errikousa war und die Fischerboote besaß, die für die Insulaner den Fährbetrieb nach Korfu übernahmen. Die jungen Frauen der Insel – ein kleiner Kreis von Freundinnen und Verwandten, darunter meine Yiayia Avgerini, ihre Schwägerin Agathe, die 15-jährige Theodora Musakiti und die 23-jährige Amalia Katehi – wurden sofort aktiv und versorgten die Neuankömmlinge mit einer unauffälligeren Kleidung und einem neuen Aussehen. Sie wollten sicherstellen, dass sich Savvas und die Mädchen so nahtlos wie möglich in das Leben auf Errikousa einfügten. Spera, Nini und Julia wurden mit schlichten, geknöpften Blusen, Röcken, Kleidern und Schürzen, der einfachen Kleidung der Frauen auf Errikousa, ausgestattet. Ihre Haare, die deutlich kürzer waren als die langen Zöpfe der christlichen Inselbewohnerinnen, wurden in der Mitte gescheitelt und glatt gekämmt. Jede bekam ein Kopftuch, um ihre kürzere Frisur zu verbergen. Ihre eigenen, modernen und schön geschneiderten Kleider wurden versteckt, bis sie sie wieder ungefährdet tragen konnten. Savvas’ tadellos geschneiderter Anzug wurde ebenfalls sicher verstaut. Anstelle des Anzugs schlüpfte der jüdische Schneider in abgetragene Hemden und Hosen, wie sie die Fischer und Bauern auf Errikousa trugen. Selbst die kleine Rosa wurde in ein altes Kleid gesteckt, aus dem ein christliches Kind auf Errikousa längst herausgewachsen war. Die jüdische Familie sah aus, als lebte sie schon immer auf der Insel. Als sei sie einfach eine weitere arme griechisch-orthodoxe Familie, die Tag für Tag von Gottes Gnade lebt.

Sobald sie in die schlichte Kleidung der Inselbewohner geschlüpft waren, wurden Savvas und die Mädchen von ihren Freunden zum Keli gebracht, dem Haus des Inselpriesters. Die Inselbewohner erinnern sich noch heute, dass der damalige Priester ein freundlicher Mann namens Pater Andronikos war, der alles tat, um den Dorfbewohnern von Errikousa zu helfen, ihre jüdischen Freunde zu verstecken. Aus Aufzeichnungen der griechisch-orthodoxen Erzdiözese geht hervor, dass es damals noch einen zweiten Priester auf der Insel gab, Pater Achilas Kangas. Pater Kangas war verwitwet und ein freundlicher und großzügiger Mann, der für seine selbstlose Hilfsbereitschaft bekannt war. Obwohl sich alle bemühten, die Einzelheiten dessen, was in jenen ersten Stunden und Tagen geschah, zu einem vollständigen Bild zusammenzusetzen, gelang das nur teilweise, denn die Erinnerungen sind im Laufe der Zeit verblasst. Die Inselbewohner erinnern sich zwar ganz deutlich, dass Pater Andronikos das Heft in die Hand nahm und alles tat, um der jüdischen Familie zu helfen, aber Pater Kangas spielte eindeutig auch eine Rolle bei ihrer Rettung.

Das Keli war ein winziges Haus, das sich hinter der alten Getreidemühle unweit des Hafens befand. Es stand auf einem kleinen Hügel und hatte sowohl einen ausgezeichneten Blick auf die nahe gelegene Kirche und das Schulhaus als auch eine atemberaubende Aussicht auf das Meer und Korfu in der Ferne. Ohne zu zögern, bot Pater Andronikos an, für diese Familie zu beten, und versprach, ihnen auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Immer wieder bot Savvas dem Priester Geld an und bestand darauf, wenigstens eine kleine Miete für die Unannehmlichkeiten, die er ihm bereitete, zu bezahlen. Aber Pater Andronikos wollte davon nichts wissen. Der Priester lehnte jede Art von Bezahlung ab und wiederholte immer wieder, dass es ihm eine Ehre sei, der Familie zu helfen. Pater Andronikos freute sich, dass er Savvas und den Mädchen einen Ort bieten konnte, an dem sie sich verstecken und geschützt vor neugierigen Augen und den Gefahren des Inseltratsches ihren Glauben und ihre Traditionen praktizieren konnten.

Das, was Pater Andronikos und Pater Kangas auf Errikousa taten, war mutig und tapfer, doch sie waren nicht die Einzigen. Der Heldenmut und die Selbstlosigkeit dieser beiden einfachen Priester war ein Beispiel für die große Hilfsbereitschaft in ganz Griechenland. Bischof Damaskinos von Athen war den griechisch-orthodoxen Geistlichen im ganzen Land ein Vorbild. Als er von den Judendeportationen der Nazis in Griechenland hörte, verkündete Bischof Damaskinos: »Ich nehme mein Kreuz auf mich. Ich habe mit dem Herrn gesprochen und mich entschieden, so viele Juden wie möglich zu retten.«

Damaskinos nutzte seine Kanzel, um den Feldzug der Deutschen gegen Griechenlands jüdische Bevölkerung öffentlich anzuprangern. Er forderte die Geistlichen in ganz Griechenland auf, ihren jüdischen Brüdern und Schwestern zu helfen und Juden in ihren eigenen Häusern zu verstecken. Der Bischof stellte Tausende gefälschte Taufurkunden aus und fertigte zusammen mit dem Athener Polizeichef falsche Ausweise an, die Tausenden Juden das Leben retteten.

Als sie von Damaskinos’ Aufmüpfigkeit erfuhren, schrieb der deutsche Befehlshaber dem Bischof einen Brief, in dem er ihm mitteilte, dass man genau wisse, was er tue, und dass er erschossen werde, wenn er nicht sofort damit aufhöre. Bischof Damaskinos antwortete kühn: »In unserer Kirche werden die Geistlichen erhängt und nicht erschossen. Bitte respektieren Sie die Traditionen unserer Kirche.«

Die Deutschen waren von der Antwort des Bischofs angeblich so überrascht, dass sie ihre Drohung nicht wahr machten. Bischof Damaskinos und auch die vielen Tausend Juden, die dank ihm gerettet wurden, überlebten den Krieg. Von allen hochrangigen christlichen Geistlichen im von den Nazis besetzten Europa war Bischof Damaskinos aus Griechenland der einzige, der öffentlich aufstand, um die Deportation der Juden anzuprangern. Mit dem gleichen Mut setzten sich Geistliche in ganz Griechenland dafür ein, ihre jüdischen Brüder zu verstecken und zu retten. Genauso geschah es auch auf der winzigen Insel Errikousa.

Errikousa wurde zwar nie von den Deutschen besetzt, aber die Soldaten kamen regelmäßig und durchsuchten die Häuser nach Wertsachen und Juden. Nicht einmal Errikousas abgeschiedene Lage und die Tatsache, dass die Insel nur ein winziger Fleck am Horizont und auf kaum einer Landkarte zu finden war, konnte die Nazisoldaten von ihrer Mission abhalten. Sie hatten einen klaren Befehl: jeden Juden von Korfu und jeden Christen, der es wagte, Juden zu helfen, zur Strecke zu bringen und zu töten.

Im Gegensatz zu den Italienern, die die Inselbewohner freundlich behandelten, waren die Nazis alles andere als freundlich. Sobald sie in Errikousa an Land gingen, raubten die Deutschen alle Wertgegenstände, die sie finden konnten, genau wie sie es in ganz Europa machten. Aber das Leben auf einer abgelegenen Insel hatte seine Vorteile: Die Inselbewohner konnten die Nazis kommen sehen. Errikousas viele Hügel und Klippen boten einen perfekten Blick aufs Meer, über das die deutschen Boote kamen.

Es gab nicht viele Telefone, und das Warnsystem war primitiv, aber effektiv. Wenn die deutschen Boote gesichtet wurden, schwärmten die Inselbewohner aus und warnten die anderen, dass sie alle Wertsachen schnell verstecken sollten. In der Hoffnung, die Inselbewohner überrumpeln zu können, versuchten die Deutschen, sich der Insel im Schutz der Nacht zu nähern. Aber Fischer, die lange vor Tagesanbruch auf waren, entdeckten die anrückenden Boote und warnten ihre Freunde und Angehörigen.

Sobald sie die Warnung bekam, rüttelte meine Yiayia meinen Vater wach und forderte ihn auf, in der Dunkelheit über die Insel zu laufen und meinem Urgroßvater zu sagen, dass er seine Waffen verstecken solle. Mein damals zehnjähriger Vater rannte, nur mit seinem Nachthemd bekleidet, über die Insel. Er hatte nur das Mondlicht und sein Gedächtnis, um den richtigen Weg zu finden, und er zitterte vor Angst und betete bei jedem Schritt, dass Gott ihn beschützen möge.

Aber die Deutschen waren auf Errikousa nicht nur hinter Wertsachen und Waffen her. Die Nazis hatten ihre Listen. Sie hatten die Juden jede Woche gezählt. Sie wussten, dass 200 Juden beim Abtransport gefehlt hatten, darunter Savvas, Julia, Spera, Nini und die kleine Rosa. Und es bestand kein Zweifel, dass die Nazisoldaten vor nichts zurückschrecken würden, um sie zu finden.

Es war für die Familie Israel zu gefährlich, im Keli zu bleiben, wenn die Deutschen auf die Insel kamen. Deshalb wurden jedes Mal, wenn sich Naziboote näherten, meine Yiayia, Agathe, Theodora, Amalia und eine kleine Gruppe weiterer Insulaner aktiv. Sie packten Decken, Essensvorräte und Wasser ein und schickten Savvas, Nini, Julia, Rosa und Spera auf die unbewohnte, unwirtliche Seite der Insel, die Sandartho genannt wurde. Dort versteckten sich Savvas und die Mädchen. Sie schliefen in einem alten Schuppen, wickelten sich in Decken, um nicht zu frieren, und kochten ihr Essen über einer Feuerstelle, die in die Erde gegraben war. Sie überlebten mithilfe der Fische, des Obsts und Gemüses und der Vorräte, die ihre Freunde ihnen jede Nacht in der Dunkelheit brachten. Sie benutzten keine Laternen oder Kerzen, um die Deutschen nicht auf sich aufmerksam zu machen. Savvas und die Mädchen blieben in ihrem Versteck im Sandartho, bis ihre Freunde kamen und ihnen mitteilten, dass die Soldaten fort waren und sie wieder ungefährdet zurückkehren konnten.

Aber auch wenn die Deutschen wieder mit leeren Händen abzogen, erlaubte sich Savvas nie ein falsches Gefühl von Sicherheit. Der Mann, der in seiner Arbeit so penibel war, war genauso umsichtig und gründlich, als es darum ging, nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das Leben seiner Mädchen und derjenigen, die alles für sie riskierten, zu schützen. Woche für Woche bestand Savvas darauf, dass er und die Mädchen im Haus blieben, solange es draußen hell war. Ihm war bewusst, dass trotz der Bemühungen und besten Absichten seiner Freunde einige Geheimnisse nicht für immer geheim blieben. Er wusste ganz genau, dass sein Leben und das Leben von allen auf der Insel an einem seidenen Faden hing. Alles Mögliche konnte dazu führen, dass sie verraten wurden: ein Not leidender Vater, der bereit war, Informationen für einen Laib Brot zu verkaufen, um seine Familie zu ernähren. Eine verzweifelte Mutter, die bereit war, das Kind eines anderen zu opfern, um ihr eigenes zu retten. Oder einfach die unschuldige Unachtsamkeit eines Kindes, das Savvas erwähnte, den netten Mann mit dem Schnurrbart, der an eine riesengroße Raupe erinnerte. Oder das von Nina, Spera, Julia oder Rosa erzählte, den lieben Mädchen, die so gern mit den Kindern auf der Insel spielten, wenn sie sich nicht verstecken mussten.

Jeden Freitag schlossen Savvas, Julia, Spera, Nini und Rosa bei Sonnenuntergang alle Fenster und Türen des Keli und feierten im engsten Kreis der Familie den Sabbat. Sie entzündeten Kerzen und sprachen leise, fast im Flüsterton, den Kiddusch. Sie taten alles, um unter sich zu bleiben und ihren Überlieferungen treu zu sein.

Jeden Sonntag strömten die orthodoxen Christen auf Errikousa in die winzige Kirche des heiligen Nikolas. Die melodischen Gesänge der alten Gebete wurden vom sanften Morgenwind durch die offenen Fenster ins Keli getragen. Die jüdische Familie konnte hören, wie ihre Freunde laut Gottesdienst feierten, und betete, dass sie das auch eines Tages wieder tun könnten.

»Warum konvertiert ihr nicht?«, fragten meine Yiayia und die anderen Frauen immer wieder. »Wenn ihr Christen werdet, tun sie euch nichts.«

»Nein.« Nini vertrat ihre Meinung am vehementesten. Sie antwortete immer als Erste und weigerte sich, ihren Glauben zu verleugnen.

»Hier.« Eine der Frauen nahm das Kreuz von ihrem Hals ab und reichte es Nini. »Häng es dir um.«

Nini schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, sagte sie wieder. »Danke, meine Freundin. Aber ich wurde als Jüdin geboren und ich werde als Jüdin sterben.«

Es spielte keine Rolle, dass die leisen Gebete am Freitagabend und die melodischen Gesänge am Sonntagmorgen in verschiedenen Sprachen vorgetragen wurden und unterschiedliche Überlieferungen und Religionen repräsentierten. Ob christlich-orthodox oder jüdisch, griechisch oder hebräisch, letztendlich beteten alle das Gleiche. Alle auf dieser winzigen Insel trugen Gott dieselbe Bitte vor: Sie beteten um Frieden und Schutz, darum, dass die Deutschen bald besiegt würden und dass Savvas’ Geheimnis nicht ans Licht käme.

Das Wunder von Errikousa

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