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Das unauslöschliche Böse

New York

13. April 2014

Es war ein Uhr nachts, als ich in Nicos Zimmer trat. Er lag mit dem Rücken zu mir, aber er war noch wach. Das wusste ich. Wir waren alle noch wach.

An diesem Tag hatten wir einen Anruf bekommen, der völlig irreal anmutete. Wir konnten es immer noch nicht ganz fassen. Wahrscheinlich würden wir das nie können. Mein 14-jähriger Neffe, Reat, und sein Großvater, Bill, waren tot.

Bill und Reat waren zum jüdischen Gemeindezentrum in Overland Park, Kansas, gefahren, wo Reat an einem Vorsingen teilnehmen wollte. Als sie aus dem Auto stiegen, wurden sie von einem weißen rassistischen Neonazi erschossen. Der Mann, der sie tötete, schrie bei seiner Verhaftung: »Heil Hitler!« Bevor er starb, sagte er, er habe wissen wollen, wie es sich anfühlte, Juden zu töten. Er ermordete an jenem Tag drei wunderbare Menschen, von denen kein Einziger ein Jude war.

Ich saß auf Nicos Bettkante und strich ihm über die Haare. Mein neunjähriger Sohn drehte sich zu mir herum. In seinen großen, braunen Augen glänzten Tränen. Seine Worte brachen mir an diesem Tag zum zweiten Mal das Herz.

»Ich bin so traurig, Mama«, sagte Nico. »Ich verstehe das nicht. Als du mir erzählt hast, was unsere Familie getan hat, hast du gesagt, dass es die Nazis nicht mehr gibt und dass die Menschen gerettet wurden. Wie konnte dann so etwas passieren?«

Nico hatte recht: Ich hatte ihm gesagt, dass es die Nazis nicht mehr gebe. Und ich hatte ihm versichert, dass die Familie in Sicherheit sei. Ich hatte das wirklich geglaubt. Aber heute hatte sich herausgestellt, dass das ein Irrtum gewesen war. Unsere Familiengeschichte war von einem hasserfüllten Mann, der sich zum Ziel gesetzt hatte, Juden zu töten, umgeschrieben worden.

Nico kannte die Geschichte genauso gut wie ich. Ich hatte ihm oft erzählt, wie meine griechische Großmutter, meine Yiayia, zusammen mit anderen auf der Insel geholfen hatte, einen jüdischen Schneider namens Savvas und seine Familie vor den Nazis zu verstecken. Trotz des Risikos, trotz der Gefahr und obwohl sie gewusst hatten, dass jeder, der dabei erwischt wurde, wie er Juden half, zusammen mit seiner ganzen Familie getötet würde, hatte kein Einziger auf unserer winzigen griechischen Insel Savvas’ Geheimnis verraten. Kein Einziger. Savvas und seine Töchter waren gerettet worden und hatten überlebt.

In den letzten Jahren hatte Nico meine persönliche Reise miterlebt, meine Suche nach Savvas’ Familie, nach den Mädchen, für die meine Yiayia so viel riskiert hatte. Nach zahllosen Sackgassen und Enttäuschungen hatte ich sie endlich gefunden. Sie waren eine wunderbare Familie. Zu ihr gehörten fünf Menschen, die dank dem, was vor 70 Jahren auf unserer winzigen Insel geschehen war, heute noch leben. Wir hatten mit den Nachkommen von Savvas’ Familie gefeiert. Wir hatten gefeiert und geweint, weil sie überlebt hatten; das Gute hatte gesiegt und die Nazis gab es nicht mehr. Das war am Donnerstag, dem 10. April 2014, gewesen.

Drei Tage später, am Sonntag, dem 13. April 2014, weinten wir, weil Bill und Reat tot waren und wir begreifen mussten, dass es trotzdem noch Nazis gab.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Nico. »Wie konnte das passieren?«

Wie akzeptiert man, dass die tragische Ironie des Schicksals eine Grausamkeit ist, die nicht nur Shakespearestücken vorbehalten ist?

Wie erklärt man seinem Sohn, dass es nicht nur in Märchen Monster gibt?

Wie erklärt man einem Kind etwas, das man selbst nicht verstehen kann?

Das Wunder von Errikousa

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