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NÄCHTLICHER BESUCH

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Errikousa

Sommer 1944

»Das schmeckt nicht nach Fisch.« Es war ein lautes Stimmengewirr. Jedes Kind am Tisch wollte die anderen übertönen. Aber alle sagten dasselbe.

»Das ist Fisch«, beharrten Yiayia und Agathe. »Esst jetzt!«

»Aber es schmeckt nicht nach Fisch.« Die Proteste gingen weiter. Das Essen war köstlich, aber es verwirrte die Kinder.

Die schallende Ohrfeige war wie immer laut und kräftig. Agathe schlug eines der Kinder auf den Kopf. Es war eigentlich egal, welches Kind sie traf. Sie hatte kein bestimmtes im Visier. Sie nahm das nächstbeste Kind, das in Reichweite war. Eine einzige Ohrfeige im richtigen Moment genügte, um allen Kindern eine klare Botschaft zu vermitteln. Die Proteste verstummten und das Essen begann.

Die Kinder hatten recht: Das, was sie aßen, war kein Fisch, aber das würden Yiayia und Agathe nie zugeben. Die Deutschen verbrachten jetzt immer mehr Zeit auf Errikousa, und die Nahrungsmittel wurden immer knapper. Die Soldaten gingen von Haus zu Haus und bedienten sich am Essen und allem anderen, was von Wert war. Hühnerställe und Speisekammern wurden geplündert. Oft reichte der Geruch des Essens, das im Hof gekocht wurde, um die Soldaten herbeizurufen. Es kam oft vor, dass es an der Tür klopfte, wenn die Familie sich gerade zum Essen an den Tisch setzen wollte, und die Mahlzeit von den Nazis konfisziert wurde. Die Familien versteckten alles, so gut es ging. Sie vergruben Essen, das in Gläser und Dosen eingemacht war, Gewehre, Silber und Schmuck in der Erde, oder sie versteckten die Sachen im Brunnenschacht.

Die Kinder hatten Hunger und beschwerten sich immer lauter. Natürlich gab es immer noch Fisch. Sie würden nie Hunger leiden wie Hunderttausende Griechen auf dem Festland, die keinen Zugang zum Meer hatten. Aber das Jammern eines hungrigen Kindes, das frustriert ist, weil es zu jeder Mahlzeit immer nur Fisch gibt, bringt eine Mutter dazu, Dinge zu tun, die sie sich nie zugetraut hätte.

Yiayia und Agathe hatten die Köpfe zusammengesteckt und einen Plan geschmiedet. Eine Familie, die in der Nähe wohnte, züchtete hinter dem Haus Wachteln. Sie beschlossen, ein paar davon zu nehmen, nur so viele, dass die Kinder satt wurden. Ein wenig Eiweiß würde ihnen guttun. Falls sich irgendjemand über die verschwundenen Vögel beschwerte, wäre es leicht, die Schuld den Deutschen in die Schuhe zu schieben.

Nach dem Essen wurde das Geschirr mit Wasser aus dem Brunnen gespült. Die Terrasse wurde mit einem Reisigbesen gefegt, der mit einem alten Zwirn zusammengebunden war. Schließlich gingen Yiayia und Agathe in ihre jeweiligen Häuser und die Kinder wurden ins Bett geschickt.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit klopfte es leise an die Tür. Klopf, klopf, klopf.

Yiayia sprang von ihrem Stuhl auf. Agatha und mein Vater hörten das Geräusch auch und kamen angelaufen. Sie wussten, was dieses leise Klopfen bedeutete.

Yiayia öffnete die Tür. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Agatha und mein Vater sie lächeln sahen.

»Kommt herein, kommt herein«, sagte Yiayia und ließ Spera, Nini, Julia und Rosa ins Haus. »Ich bin so froh, dass ihr hier seid. Ich hatte gehofft, dass ihr heute Abend kommt. Ich habe euch etwas aufgehoben.«

Yiayia ging in die Küche und kam mit einem Teller zurück. »Es ist nicht viel, aber es ist alles, was wir haben.« Sie setzte den Mädchen einen Teller vor. Es gab Fisch mit knuspriger Haut, da er in Olivenöl gebraten war, einige geröstete Kartoffeln und einen kleinen Rest Wachtelfleisch. »Esst, esst!«, forderte sie die Mädchen auf. Die Mädchen teilten das Essen unter sich auf und gaben Rosa immer die größte Portion.

Nachdem Agathe vom Haus nebenan geholt worden war, begann der Unterricht. Die Türen wurden abgesperrt und die Fensterläden geschlossen; sie machten nur wenig Licht und sprachen ganz leise. Als alle in Yiayias kleinem Wohnzimmer saßen, übernahm Nini die Leitung. Yiayia und Agathe waren lernbegierige Schülerinnen, wenn die jüdischen Mädchen ihre christlichen Freundinnen das Nähen lehrten. Während die Frauen in diesem schwach erhellten Raum eng zusammensaßen und plauderten, wurden Stichtechniken vervollkommnet, Kleider gesäumt, Socken geflickt und aus alten Bettlaken und Säcken Blusen, Schürzen und Röcke genäht. Aber die Frauen schufen in diesem spärlich beleuchteten Zimmer Abend für Abend nicht nur Kleidung. Während sie nähten und plauderten und einander flüsternd von ihren Träumen und Ängsten erzählten, wurden tiefe Freundschaften und lebenslange Beziehungen geschmiedet und gefestigt.

Im Zimmer nebenan las mein Vater in Mythologiebüchern von griechischen Göttern und Helden, während sich Agatha und Rosa in Yiayias Bett kuschelten. Die Mädchen vertrauten sich ihre Geheimnisse, Träume und sogar ihre größten Ängste an. Rosa erzählte Agatha, dass sie Angst hatte, dass ihre Familie nicht mehr lebte. Agatha vertraute ihr an, dass sie Angst hatte, dass ihr Vater nie wieder nach Hause kommen würde. Die beiden Mädchen kuschelten sich eng aneinander, um sich zu wärmen und gegenseitig zu trösten. Durch die Freundin neben sich und die Stimmen der Frauen im Zimmer nebenan getröstet, schliefen sie schließlich ein.


Obwohl er heute 81 ist und seine Gesundheit und sein Gedächtnis nachlassen, erinnert sich mein Vater immer noch ganz deutlich an diese nächtlichen Besuche.

»Manchmal war es das Einzige, was meiner Mutter ein Lächeln entlockte«, erinnert er sich. »Sie war manchmal den ganzen Tag bedrückt und schweigsam, besonders wenn wir länger keine Nachrichten von meinem Vater bekommen hatten. Dann hörte sie dieses leise Klopfen an der Tür und ihr Gesicht strahlte auf. Es strahlte einfach und dieses schöne, breite Lächeln trat in ihr Gesicht.«

Aber Savvas’ Töchter waren nicht die Einzigen, die manchmal nach Einbruch der Dunkelheit kamen. Mehrmals standen die Nazis vor der Tür. Bis auf den heutigen Tag kann mein Vater immer noch körperlich die Gefahr spüren. Er weiß noch genau, wie beunruhigt und nervös er war, wenn Nazistiefel vor ihrem Fenster polterten und Fäuste an die Tür hämmerten. »Ich werde es nie vergessen: bum, bum, bum. Man konnte die Stiefel hören. Man konnte sie marschieren hören. Bum, bum, bum. Diese schweren, schweren Stiefel.«

Manchmal kamen die Nazis ins Haus. An einen Abend erinnert er sich besonders gut.

»Ich erinnere mich, dass meine Mutter einfach nur dastand. Wir konnten nichts tun.« Seine Stimme wird einen Moment leiser und sein Blick wandert in die Ferne. Dann schaut mich mein Vater an und erzählt, woran er sich erinnert. Und ich verstehe endlich, warum er nie nach Errikousa zurückkehren wollte. Ich hatte es nie ganz nachvollziehen können. Alle meine Cousins und Cousinen hatten Väter, die jeden Sommer mit ihnen nach Griechenland flogen und gemeinsam ihren Familienurlaub auf Errikousa verbrachten. Nicht so mein Vater. Jeden Sommer kaufte mir mein Vater ein Flugticket, fuhr mich zum Flughafen und ließ mich mit einer Liste, welche Verwandten ich unbedingt besuchen sollte, ins Flugzeug steigen. Er behauptete immer, er habe zu viel Arbeit, um mich zu begleiten, und er könne das Restaurant unmöglich für einen Sommerurlaub schließen. Heute weiß ich es besser. Als Erwachsene kann ich verstehen, wie stark Kindheitserinnerungen sind. Ich weiß, wie diese Erinnerungen und Erfahrungen uns formen und unsere Zukunft und unsere Gefühle beeinflussen können. Oft treiben sie uns an, aber manchmal halten sie uns auch zurück.

»Wir standen einfach nur da«, erinnert er sich. »Wir konnten nichts tun. Der Nazi stand da und schrie uns auf Deutsch an. Ich stand neben meiner Mutter, die beschützend den Arm um mich gelegt hatte. Er war in ihrem Schlafzimmer, nahm alles auseinander und schrie: ›Wo sind die Juden? Ich weiß, dass ihr sie versteckt! Wo sind die Juden?‹ Wir sagten nichts. Wir standen nur da und schauten zu, während er das ganze Haus auf den Kopf stellte. Wir konnten nichts tun. Ich dachte, er würde uns alle umbringen.«

Während meinem Vater die Angst und Ungewissheit jener Zeit am stärksten in Erinnerung geblieben sind, erinnert sich seine Schwester, Agatha, besonders an die Liebe. »Meine Mutter hat diese Mädchen geliebt«, erinnert sich Agatha. »Nina mochte sie am allermeisten. Sie war wirklich sehr nett. Sie war so lieb und freundlich. Ich mochte Rosa am liebsten. Sie war meine Freundin.«

Im Gegensatz zu meinem Vater war Agatha sehr oft zu Besuch auf Errikousa. Selbst heute mit ihren vielen gesundheitlichen Problemen verkündet Agatha vehement und lautstark ihre Meinung und lässt sich nicht davon abbringen. »Natürlich fahre ich wieder nach Errikousa«, beharrt sie. »Warum sollte ich das nicht tun?«, fügt sie hinzu, als verstehe sie nicht, wie ich eine solche Frage stellen konnte. »Das ist meine Heimat.«

Alle auf Errikousa, auch meine Yiayia, wussten um die Gefahr. Sie wussten, dass die Nazis ihre Drohung, jeden, der Juden half, zusammen mit seiner ganzen Familie zu töten, wahr machen und als Strafe die ganze Insel niederbrennen würden. Selbst als deutsche Soldaten das Haus meiner Yiayia völlig durcheinanderbrachten, selbst als sie Haus für Haus und Familie für Familie auf der ganzen Insel durchsuchten, selbst dann verriet niemand auf Errikousa Savvas’ Geheimnis. Kein einziger Bewohner von Errikousa verriet den Nazis, dass sich eine jüdische Familie in ihrer Mitte versteckte. Kein einziger.

Und Savvas, Julia, Spera, Nina und die kleine Rosa blieben am Leben.


Im Oktober 1944 erreichten britische Soldaten Korfu und befreiten die Insel von den deutschen Besatzern. Sie waren eine Erhörung der Gebete von Christen und Juden gleichermaßen. Aber selbst das Ende der deutschen Besatzung genügte nicht, um die Sicherheit der Juden zu garantieren, die nach Korfu zurückkehrten. Von der früher einmal lebendigen Gemeinde war nichts übrig geblieben. Diejenigen, die die Deportationen und die Todeslager der Nazis überlebten, kehrten ins jüdische Getto zurück und mussten feststellen, dass das Leben nach dem Krieg sehr schwer war. Zwei der drei Synagogen waren zerstört, unzählige Häuser waren in Schutt und Asche gelegt, und die Geschäfte und Wohnungen, die noch standen, waren von Plünderern leer geräumt worden.

Als ihm bewusst wurde, wie schwer es sein würde, ihr Leben auf Korfu neu aufzubauen, beschloss Savvas, im Kreis der Freunde, die ihr Leben für ihn riskiert hatten, auf Errikousa zu bleiben. Savvas, Julia, Spera, Nini und Rosa konnten endlich aus der Dunkelheit herauskommen und im Licht leben. Sie konnten endlich die Türen und Fenster ihres Hauses öffnen und ihre Freunde an ihren Sabbattisch einladen, ohne befürchten zu müssen, dass sie ermordet würden, weil sie ihren Glauben praktizierten.

Nach dem Ende des Krieges lebte Savvas nur noch lange genug, um zu sehen, dass seine Mädchen vor den Nazis in Sicherheit waren. Er wusste, dass die Bewohner von Errikousa trotz des Bösen, das er erlebt hatte, ein lebender Beweis dafür waren, dass es immer noch Menschlichkeit und Anstand gab.

Savvas starb, bald nachdem Korfu von den Deutschen befreit worden war, eines natürlichen Todes auf Errikousa. Er wurde gleich außerhalb der christlichen Friedhofsmauer hinter der Kirche des heiligen Nikolas direkt am Ionischen Meer beerdigt. Die Menschen, die Savvas liebten, betonten, dass er einer von ihnen gewesen sei, ein Insulaner, und deshalb innerhalb der Friedhofsmauern beerdigt werden sollte. »Welche Rolle spielt es schon, ob er Christ oder Jude war?«, argumentierten seine Freunde. Für sie zählte nur, dass er einer von ihnen gewesen war, ein Mann, der ihre Insel und ihre Gemeinde von Herzen geliebt hatte. Mein Urgroßvater und Yiayia hörten sich diese Argumente an und bekundeten ebenfalls ihre Hochachtung vor dem jüdischen Schneider. Aber Savvas Israel hatte sein Leben und das Leben seiner Familie riskiert, um seinen Glauben und seine Überlieferungen zu bewahren. Es war, wie Nina gesagt hatte, als sie auf Errikousa angekommen waren: Savvas Israel wurde als Jude geboren und er starb als Jude. Und als solcher sollte er nicht innerhalb der Mauern eines christlichen Friedhofs beerdigt werden.

Da kein Rabbi da war, beerdigten die Inselbewohner ihren Freund und respektierten seine Traditionen, so gut sie konnten. Nina, Julia, Spera und Rosa legten Steine auf das Grab, wie es in den jahrhundertealten jüdischen Überlieferungen steht, damit Savvas nicht vergessen wurde. Die Inselbewohner, die Erwachsenen und Kinder von Errikousa, brachten ihre Liebe und ihre Achtung auf ihre Art zum Ausdruck: Sie pflückten Blumen und legten sie auf das Grab von Savvas Israel, dem jüdischen Schneider und Freund der Bewohner von Errikousa.

Nach dem Krieg standen Nina, Julia, Spera und Rosa genau wie unzählige Juden auf der ganzen Welt vor der herausfordernden Aufgabe, sich ein neues Leben aufbauen zu müssen, nachdem sie alles verloren hatten. Yiayia kämpfte ebenfalls darum, ihrer Familie ein neues Leben aufzubauen. Sie zog mit meinem Vater und Agatha nach Athen, wo sie ein paar Jahre wohnten, bis Papou endlich genug Geld gespart hatte, um sie zu sich nach Amerika zu holen. Yiayia hat ihre jüdischen Freunde nie vergessen, aber nachdem sie nach Athen gezogen war, sah sie sie nie wieder. Yiayia fragte sich oft, was wohl aus den Mädchen, die selbst in den dunkelsten und einsamsten Momenten während des Krieges Liebe und Lachen in ihr Haus gebracht hatten, geworden war.

Viele Jahre nachdem sie nach Amerika gezogen war, hörte Yiayia, dass die Mädchen tatsächlich auf die Insel zurückgekehrt waren. Sie waren gekommen, um Savvas’ Gebeine aus seinem Grab in Errikousa zu holen und ihn in Israel zu beerdigen, wo der elegante Schneider aus Korfu seine endgültige letzte Ruhestätte finden sollte.

Auf Errikousa freuten sich die Menschen, die Savvas und seine Mädchen geliebt hatten, dass sie der Familie hatten helfen können. Sie beteten dafür, dass Spera, Julia, Nina und Rosa ein erfülltes Leben finden und eigene Familien gründen würden. Die Insulaner sprachen manchmal über den jüdischen Schneider, aber nicht oft. Als wollten sie ihre Freunde noch immer beschützen, behielten die Inselbewohner die Geschichte von Savvas für sich. Über die Namen und Geschichten aus einer schweren und gefährlichen Zeit wurde zwar gelegentlich geflüstert, aber nach einer Weile wurden sie von den meisten vergessen.

Das Wunder von Errikousa

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