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1. Kapitel
ОглавлениеVon Gelenkschmerzen, einem gern gesehenen Gast im Hause Bornbeck und zwölf Minuten bis Buffalo
»Das muss aus dem Gelenk kommen! Also nochmals!«
Wie oft hatte er diesen Satz schon gehört! Aber immer noch suchten seine Finger den H-Moll-Akkord. Auf der unendlich weiten Tastatur des Klaviers konnte man sich schon mal verlaufen.
»Theodor! Versuche es doch noch einmal!«
Oh Gott! Jetzt kam sie wieder mit der Samariter-Tour, legte ihm ihre faltige Hand auf die Schulter und versuchte, möglichst optimistisch aus der Wäsche zu gucken.
Die Tür ging auf, seine Mutter brachte zwei Tassen herein, aus denen es unermüdlich dampfte. Sie hatte ihm die 85-jährige Klavierlehrerin aufs Auge gedrückt, weil sie die Hoffnung nicht aufgab, ihr Sohn könnte es als Hausmusikant mal zu irgendetwas bringen.
Zu seiner Rechten knackten ein paar Musikantenknochen. Die alte Dame musste sich strecken. Dann lief sie wie jeden Freitag um diese Zeit auf die Toilette und ließ etwas Tee ab.
Für einen Moment war er allein, jung, wild und vor allem unbeaufsichtigt. Er ging zu der wuchtigen Pendeluhr und war fest entschlossen, den Zeigern zehn Minuten Arbeit zu ersparen.
Er öffnete die gläserne Tür, näherte sich dem römischen Zifferblatt und reichte dem Minutenzeiger freundschaftlich die Hand, um sie im gleichen Moment wieder sinken zu lassen. Solange im Zimmer noch drei weitere Uhren gegen ihn schlugen, plus einer weiteren am Arm seiner Mutter, plus einer weiteren an Frau Zothelmanns Kette, standen seine Chancen auf baldige Genesung eher schlecht. Also schlich er zurück zu seinem Klavierhocker und nahm mit einem ernüchterten Crescendo Platz. Besser fühlte er sich nicht.
Dann hörte er die Reste einer Klospülung, gefolgt von ein paar bedachten Schritten, die unaufhaltsam näher kamen.
In alter Frische betrat Frau Zothelmann das Zimmer, in dem Theo schon mit neuer Faulheit auf sie wartete. Eine schwache Blase war sicherlich keine Ode an die Freude, aber jetzt ging es ihr wohl besser. Sie rieb noch einmal ihr zerfurchtes Gesicht, dann konnte es weitergehen.
Er schaute auf seine Uhr. Nicht irgendeine Uhr, sondern eine, mit der man im Baggerloch Tiefseetauchen konnte, so eine Uhr. Eine, die so lange über die Runden hilft, bis der erste Porsche vor der Tür steht. Eine, die ihm zeigte, wie viel Zeit er mit unnützen Dingen vergeudete. Noch dreizehn Minuten.
»Konzentriere dich, Theodor! Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Was er nur zutiefst bedauern konnte.
»Also noch mal! Das muss aus dem Gelenk kommen!«
Noch zwölf Minuten bis Buffalo. Er schlug ein paar Tasten an in der vagen Hoffnung, dass er die richtigen treffen würde. Ein kurzes Stoßgebet zu Gott, aber dessen Ohren waren wohl auch schon taub. Verschlissen durch unzählige endlose Klavierstunden mit Frau Zothelmann und ihren Opfern. Wann würde endlich jemand diesen Wahnsinn stoppen?
»Aus dem Gelenk, aus dem Gelenk!«
Es war mal wieder soweit: In Frau Zothelmann explodierte eine Atombombe, und er saß mit seinem Hintern mitten im Zentrum der Detonation.
»Wenn Bach das gehört hätte!«
Von ihm aus gerne. Mit Bach war er sowieso fertig. Er konnte dessen belanglose Songs nicht mehr leiden, nicht mehr hören, geschweige denn spielen.
Endlich raffte die betagte Oberin kopfschüttelnd die Partituren zusammen und verstaute sie schwer atmend in einer affigen Umhängetasche. Eine Prozedur, die mit einer Menge gebrechlicher Laute verbunden war, da die alte Dame mal wieder Vollmilch in Zartbitter verwandelte.
Ihr tadelnder Blick traf ihn im Vorbeifliegen, als er gerade auf dem Klavierhocker ein paar Pirouetten drehte. »Das hat heute keinen Zweck mehr mit dir!«
Bravo! Ganz seiner Meinung! Was kümmerte ihn die schrullige Hexe, wenn in seinem Zimmer noch eine Flasche Rotwein auf ihn wartete!
Während er den Klavierdeckel für eine Woche schloss, konnte er hören, wie sie von seiner Mutter den Mammon für die Stunde bekam. Schade ums Geld.
Jetzt hatte seine Mutter ihren Auftritt.
»Was ist denn heute bloß mit dir los, Theo? Frau Zothelmann sagte mir gerade, du seist sehr unaufmerksam gewesen.«
Er sah ihr in die Augen und gähnte nur.
»Ich denke, du liebst Bach so, wie wir alle?«
Na klar doch! Er liebte Bach wie das Rosenbeet vor dem Haus, er liebte Bach wie die viel zu weißen Porzellanfiguren in der abgestaubten Vitrine, er liebte Bach wie seine Eltern. Und er liebte es, in Gedanken über seine Familie schlechte Witze zu machen, wenn er schon so ein sämiges Leben führen musste. Bachliebe – das war einmal. Musste schon so lange her sein, dass er gar nicht mehr sicher war, ob Bach da bereits gelebt hatte.
»Aha! Sohnemann hat wieder seinen eigenen Kopf! Und was mag der Herr stattdessen? Lieber herumgammeln und auf der faulen Haut liegen?«
Er nickte. Mit blöden Fragen wie diesen hatte er Erfahrung. Auch wusste er, was als Nächstes kommen würde.
Schroff drehte ihm seine Mutter den Rücken zu, stakste zu der Hausbar und goss Eierlikör in ein Whisky-Glas. Ein klares Anzeichen dafür, dass ihm eine ernsthafte Aussprache bevorstand.
Nein, sie verstand ihn nicht. Erst recht nicht, dass es ihm egal war.
»Wie kann einem überhaupt irgendwas egal sein, so kurz nach der Kubakrise?«
Nein, sie verstand ihn nicht.
Verzweifelt machte sie ihn darauf aufmerksam, dass es ihm doch an nichts fehle – Frieden, Essen, ein Dach über dem Kopf, all diese Sachen.
In ihrer Stimme lagen alle Dramen der Neuzeit, was ihn aber bis ins Mark langweilte.
Also sagte sie ihm, dass sie sich tagtäglich für ihn aufopfere, nur damit er es einmal besser habe.
Durchzug.
Also schrie sie ihn an, dass seine ganze Generation zum Haare-Raufen sei und das einzige Mittel dagegen ein saftiger Hausarrest.
Danach fiel ihr wie immer nichts mehr ein.
Sie schnappte sich den Wäschekorb, pflichtbewusst darauf bedacht, ihn in den Keller zu tragen und Söhnchens Socken zu waschen.
Kurz vor der Tür die wichtigste Frage der Welt: »Hast du wenigstens deine Hausaufgaben gemacht?«
Natürlich hatte er keine Hausaufgaben gemacht, aber in befriedigenden Antworten war er schon immer gut. Nach einem glaubwürdigen »Ja« durfte er sich endlich verkrümeln.