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3. Kapitel

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Von einem Prediger des Blues, Raimunds Himmel auf dem Sonnenwall und einem, der auserkoren wurde

Freitag.

Schon seit zwei Wochen drehte sich die Stones-Scheibe ununterbrochen auf dem Teller. Doch an diesem Freitag sollte sie ihn verlassen. Wegen Willi, dem Sack!

Willis Mofa heulte gerade um die Ecke, als Theo das gute Vinyl in das Cover schubste. Theo ging zur Tür, um Willi zu öffnen.

Vor ihm stand ein Brecher in Lederjacke, ein Typ mit den Ausmaßen eines Kleiderschrankes, der sich locker eine Strähne aus dem Gesicht blies und ein »Tach, Theo!« fahren ließ. Er nahm den Hut ab und fegte mit dem Handrücken ein paar Schuppen vom abgefressenen Kragen seiner speckigen Wildlederweste direkt in Theos Gesicht.

Willis Hemd flatterte hinten aus der Hose und hatte vorne kaum noch Knöpfe. An einigen Stellen wurde es von Paketschnur daran gehindert, auseinander zu fallen. Die untersten Knöpfe waren zwar noch da, aber nicht in Betrieb, was dazu führte, dass man einen kostenlosen Sightseeing-Trip zu Willis Bauchfleisch geboten bekam. Er hatte Haare am Nabel, er hatte Haare auf der Brust, er hatte Haare überall.

Mit einer umständlichen Turnübung zog er sich die Stiefel aus. »Bin gerade voll in Scheiße getreten. Bringt Glück.«

Sie gingen nach oben auf Theos Zimmer.

»Na, lebt die Platte noch?«

Theo schob das gute Stück rüber.

»Stark, was!«

Theos Nicken hatte einen wehmütigen Anstrich. Er war frisch verliebt in eine Schallplatte. Keine billige Romanze, nein: was Ernstes. Er wollte mit ihr den Rest seines Lebens verbringen. Wollte immer für sie da sein. Hatte für sie schon ein nettes Plätzchen in seinem Regal und seinem Herzen reserviert. Schade für sie beide, dass sie jetzt zurückmusste, zurück zu dem Klops.

Sterbend vor Schmerz reichte Theo ihm die Platte und drückte sie beim Abschied noch einmal behutsam an die Brust, weil sie etwas ganz Besonderes war. Doch das wusste Willi schon. Willi wusste immer alles, Willi, der Raucher. Willi, der Trinker. Willi, der Schläger. Willi, der Primitive.

»Hast du je was Besseres gehört? Hast du nicht! Woher auch, ich hab dir ja noch keine andere Platte geliehen!«

Willi wühlte in den Taschen seiner speckigen Weste, holte einen Zigarillo heraus, steckte ihn an und blies den Rauch in Theos Gesicht, ins verdutzte.

»Ein altes Sprichwort sagt: Willi ist der Beste! Also sind auch Willis Platten die Besten, aber das weißt du ja jetzt.«

Eins wusste Theo in der Tat: Willi ist ein Großmaul, der größte Schwätzer unter der Sonne.

Willi zog an seinem Zigarillo und legte seine Stirn in Falten. »Sag bloß nicht, dass du immer noch auf dein Bachgeplätscher stehst.«

Theos Gesicht erstarrte zur Maske. Sein Körper, den er nach dem letzten blöden Spruch in die Schlacht werfen wollte, glich einem Tank 14/18, der langsam auf Willi zurollte, um ihn mit Bachgeplätscher in der Hose reichlich zu beschenken.

Willi wich zurück. Der Zigarillo fiel ihm aus der Hand und nahm seine Kaltschnäuzigkeit mit, die lautlos auf dem Boden der Tatsachen zerbröselte.

»Tu mir einen Gefallen, Dicker: Führ dich nicht immer so auf, als wärst du Jagger’s Bruder! Du meinst wohl, du bist der Einzige hier, dem Rock ’n’ Roll noch was bedeutet!«

In Willi rotierten Familienstammbäume. »Was hast du mit Jagger zu schaffen?«

Sekunden wurden zu LP-Seiten, bis Theo endlich die richtige Antwort geben konnte: »Sein Gesang, die Stimme, also das ... das geht mir irgendwie ...«

»Das geht ab wie Zäpfchen«, unterbrach Willi. »Darauf steh ich, darauf stehst du, darauf steht die Todesstrafe!«

Sie mussten lachen, hingen ihre Köpfe doch bereits in der Schlinge.

»Hast du die Gitarre gehört, wie sie beim ersten Stück auf der zweiten Seite Gas gibt?«

»Die wird ja auch nicht einfach nur gezupft.«

»Weiß ich doch! Der spielt die mit einem Plankton, medium, aus Perlmut.«

»Plankton! Ist klar. Deswegen klingt die auch so flüssig.«

»Ich hab gelesen, die haben diese neue 3-Spur-Technik benutzt. Riesending!«

»Das hab ich schon immer gewusst.«

Theo gestand ihm, dass er Confessin’ The Blues besonders mochte.

»Ah, der Blues! Hast du wohl auch noch nichts von gehört, was?

Theo schüttelte den Kopf.

»Das ist ja überhaupt nicht drin! Hat noch nie was vom Blues gehört, ich fass es nicht! Ich muss dir wohl noch ein paar Platten leihen, was? Eine kleine Gefälligkeit unter Kumpels, kein Problem.«

Kumpels?

Während Theo noch krampfhaft überlegte, ob er kotzen sollte, drosch ihm Willi kumpelhaft auf die Schulter. »Mach dir nur mal keine Sorgen, das kriegen wir schon hin. Ich werde dir erst mal ein paar Blues-Platten besorgen, B. B. King, T-Bone Walker, Muddy Waters – nur vom Feinsten. Wir sehen uns nächsten Freitag um drei.«

Willi verduftete.

Der Duft seiner Zigarillos blieb.

Es war kalt draußen. Theo stapfte durch den dreckigen, matschigen Schnee und näherte sich dem Sonnenwall. In den Schaufenstern gab es flächendeckend Nikoläuse, die mit erhobener Plastikrute den Christmatz willkommen hießen.

Am Morgen noch hatte seine Mutter mit erhobener Suppenkelle verkündet, dass er noch keine einundzwanzig sei. Und überhaupt, was er sich einbilde, er sei wohl verrückt geworden, dass er sich eine Stones-Platte kaufen wolle. Und dieser Willi, der käme ihr auf jeden Fall nie mehr ins Haus! Und damit basta!

Irgendwann war Theo das Gezeter zu dumm geworden. Sollte sie doch von Willi halten, was sie wollte. Er machte sich auf den Weg zum Plattenladen.

Es war kalt draußen und zudem fing es auch noch an zu regnen, so ein schlapper Nieselregen, der bei solch einer Kälte schnell zum Problem werden kann. Theo beeilte sich, zum Laden zu kommen, den Kragen hochgeklappt, die Hände tief in den Hosentaschen. Da klatschte ihm ein Schneeball mitten ins Gesicht. Ein Augenwischen später zimmerte ihm eine Pranke auf die Schulter und ließ Böses schwanen.

Richtig geschwant. Willi war’s, feixend, eine Schote dreschend: »Das kam aus dem Gelenk, was?« Er grinste und präsentierte die Tatze mit dem Gelenk dran.

Theos Tritt kam aus dem Knie, Willis Schrei aus der Kehle. »Bist du bescheuert? Bestimmt ist mein Schienbein gebrochen!«

»Dein Schneeball hat mir fast mein Auge demoliert, du Rind!«

»Was treibst du dich auch hier herum? Was hast du hier zu suchen?«

»Gold, Willi, Gold!«

Grund genug für Willi, seine Augen nach oben zu richten, nach oben in den grauen Himmel. »Du suchst Gold, ich weiß. Bei Raimund, was?«

»Wer ist Raimund? Ich will zum Plattenladen.«

»Ja, du willst die neue Stones kaufen – Gold halt, bei Raimund, jetzt gleich.«

»Wieso kennst ausgerechnet du den Plattenverkäufer schon wieder?«

»Tja, mein Freund, das sind langjährige Connections, für einen Laien oftmals unverständlich. Weißt du was, geh schon mal vor und ich komme dann nach. Muss eben noch Pommes essen. Hinterher gehen wir noch zu mir, da kann ich dir die Blues-Platten geben und brauch nicht extra zu dir zu gurken.«

Er konnte die Musik schon hören, bevor der Laden zu sehen war. Das Ende seiner matschigen Reise lag ausgerechnet neben einem Geschäft für Schulbedarf.

Vorsichtig trat er in einen Raum, der nach Willis Zigarillos roch und mit Platten voll gestopft war. An den Wänden hingen seltsame Plakate, von denen die meisten in Englisch waren. Rhythm ’n’ Blues Night! Folk-Festival! Beat Beat Beat!

In der Ecke surrte ein rot gestrichener Kühlschrank mit Sichtfenster vor sich hin, das Innenleben ausschließlich mit Bierflaschen bestückt. Auf dem Kühlschrank stand ein heruntergekommener Kaktus und surrte mit, rechts daneben ein Fahrrad mit Platten. Ein paar Leute wühlten in den Regalen und blätterten sich kopfnickend von Ah nach Zett, hoben den Blick auch nicht, als Willi schließlich mit ein paar Ketchup-Resten im Gesicht hereinspazierte und die Leute begrüßte. Alles gute Kollegen. Als zwei von denen flüchtig zu Theo aufsahen, hagelte es verächtliche Seitenblicke. Wohl zu kurze Haare.

Willi, mit der Kleiderordnung auf Du und Du, entschuldigte direkt das unmögliche Erscheinungsbild. Sein Mitbringsel hätte kein halbes Jahr, nachdem es aus russischer Gefangenschaft entlassen worden sei, schon Läuse bekommen, damals in der Fremdenlegion. Theo registrierte die ungläubigen Blicke und nickte stumm.

Auf dem Plattenspieler drehte eine LP ihre Runden, an deren fürchterlichen Krach man sich gewöhnen konnte. »Willi, welche Gruppe ist das?«, zischelte Theo, doch Willi zuckte nur mit den Schultern. Theo hastete zum Plattenspieler, um einen Blick aufs Etikett zu erhaschen. Dann wusste er Bescheid. Das waren also die Pretty Things. Interessant, die würde man sich merken müssen.

Dann zog ihn Willi zu einem Regal. Hier standen die neuesten Blues-Scheiben so lange herum, bis Willi sie kaufte und nach Hause brachte. Fachmännisch durchstöberte er den Stapel und murmelte dabei geheimnisvolle Formeln: »B. B. King, Willi Dixon, T-Bone Walker. Nicht schlecht. Oder die neue Muddy? Nein, was haben wir denn da? Theo, schau mal: Die musst du dir holen! Five Live Yardbirds! Wahnsinn! Mit Clapton an der Sologitarre! Das musst du dir mal reinziehn!«

Das sagte sich so leicht, aber Theo hatte keine Ahnung, wer dieser Clapton überhaupt war und was er mit einer Gitarre alles so anzustellen vermochte. Sein Name klang aber aufregender als Meier oder Schmitz.

Für Willi war die Sache klar und duldete keinen Aufschub: Die Platte musste hier raus, und zwar ganz schnell! Feierlich überreichte er sie seinem Zögling und befahl: »Komm, wir gehen zur Kasse.«

Noch bevor Theo ein Wort sagen konnte, stand er wieder vor dem Laden: in der Hand eine Tüte, in der Tüte eine Platte.

Anständig, wie Willi nun einmal war, gab er Theo das Portemonnaie zurück. Es war unübersehbar, dass sich der neue Zwanzigmarkschein in Wohl- und Willigefallen aufgelöst hatte.

Willi klopfte ihm auf die Schulter und feierte den Fang des Tages: »Da hast du aber ein gutes Geschäft gemacht! Deinen lumpigen Papierfetzen gegen so eine tolle Platte! Gratulation!«

Dieser Sausack! Gerne hätte ihm Theo auf seine Weise gratuliert und ihm ein paar Takte dazu erzählt, was ihm einfalle, mit dem Geld anderer Leute so herumzuaasen. Doch diesem Willi konnte er einfach nicht böse sein.

»Komm schon, Theo – Geld ist zum Ausgeben da«, meinte Willi und betrachtete die Sache damit als erledigt.

»Rechts lang, da vorne wohne ich.«

Sie gingen zur grauesten Fassade der Straße, durch die verbeulteste Tür des Viertels, zum wüstesten Zimmer der Stadt. Hier wohnte Willi, hauste irgendwo zwischen schmutziger Wäsche und verdorrten Topfpflanzen. Auf dem Boden Staub, Dreck und verschiedene Insekten, aber auch voll gekritzelte Schulbücher und sogar zwei Herrenmagazine. Eine Bude, die danach schrie, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Zielstrebig steuerte Willi die einzig begehbare Ecke des Zimmers an, in der der Blues in Form eines Schallplattenspielers von Anno 58 stand, den er sofort anschmiss. Auf den Teller des Hauses legte er Theos Yardbirds-Platte, senkte den Tonarm auf Rille eins und lehnte sich in einem nicht mehr allzu lange haltbaren Korbsessel zurück.

Aus den Boxen quollen Stimmen. Die Musiker wurden vorgestellt, und kurz darauf war klar, dass Theos Ohren ungünstiger nicht hätten hängen können. Ihm dröhnte gerade eines dieser mysteriösen Riffs entgegen, von denen Willi immer so gerne schwadronierte, wenn er über »gute Musik« philosophierte. Es war nicht zu überhören, dass er wusste, wovon er sprach. Dieser Gitarrist, der sich hinter dem unbekannten Namen verbarg, spielte so schnell und gefühlvoll geradeaus, dass sich den beiden die Nackenhaare sträubten.

»Hör dir das an, Theo! Ich fasse es nicht!«, schrie Willi, bevor er sich anschickte, das Zimmer umzugraben. Sein wuchtiger Körper durchpflügte jeden Winkel der Heimdiskothek. Es flogen Socken, leere Thunfischdosen und Schweißtropfen.

Als das Stück zu Ende war, kam Willi langsam wieder zu sich, lehnte sich gegen die Wand und riss dabei ein Rattles-Poster ab.

»Spitz die Ohren, Theo! Gleich wirst du wissen, was Blues ist.«

Die Stunde der Wahrheit kündigte sich mit reichlich verzerrten Gitarren an.

»Hör gut zu, Theo, und ändere dein Leben!«

Und Theo hörte zu. Ihm gefiel das Stück sofort, obwohl es ein Instrumental war. Die sägende Gitarre ließ keine Stimme vermissen. Die sägende Gitarre sagte alles, was es zu sagen gab.

Wenn das der Blues war, von dem Willi sprach, wollte sich Theo damit den Bauch voll schlagen, bis er satt war. Wenn das der Blues war, war Theo sein Fan.

Als er zu später Stunde nach Hause ging, war die Plastiktüte unter seinem Arm schwerer geworden. Willi hatte ihm unbedingt noch ein paar Platten leihen müssen, wie immer nur vom Feinsten, angeblich.

Er stapfte durch das fahle Licht defekter Straßenbeleuchtung und war sich sicher, mit seinen neuen musikalischen Romanzen schon recht bald zu den Auserkorenen zu gehören, zur Elite, zu den Besten. Und zu den Leuten, die ein Mick Jagger freundschaftlich mit »Hi, Theo« begrüßen würde, sollte man sich mal im Stadtpark über den Weg laufen. Ihn beschlich ein erhebendes Gefühl, eines, wie er es früher nicht gekannt hatte. Eigentlich war er doch froh, dass er und Willi und so weiter. Vor allem aber war er neugierig auf die Musik, die in seiner Plastiktüte steckte.

Die Stones sind wir selber

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