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2. Kapitel

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Von einer Geheimkartei für Nikotinsünder, einer ungekämmten Nachgeburt und den Platten der Stones

Der nächste Tag begann wie jeder andere. Hunderte auf dem Weg zur Penne. In der Bahn. Im Bus. Zu Fuß.

Die erste Zigarette im Frühreif noch vor dem Gong, der mit seinem monotonen Gebimmel blendend zu den Unterrichtsthemen passte. Heute standen Geschichte und Physik auf dem Plan. Also kein Grund, sich zu beeilen. Lieber erst mal unbeschwert genießen.

War die erste Zigarette verqualmt, gab’s direkt eine zweite hinterher. Danach ein Pfefferminzbonbon, sicher ist sicher. Schließlich mussten sie höllisch aufpassen, denn der Klassenlehrer war ein Windhund, der letzte und schärfste seiner Art. Der roch jeden Braten, und war er auch noch so gut getarnt. Es gab sogar wilde Mutmaßungen darüber, dass der Herr Doktor eine Geheimkartei führe, in der jeder Raucher der Schule katalogisiert sei. Angeblich sogar mit einem kleinen Passfoto mit Namen, Alter und Zigarettenmarke darunter. So richtig gesehen hatte diese Kartei natürlich noch keiner. Aber allein die Befürchtung, dass es sie geben könnte, war ein guter Grund dafür, vor seinem Unterricht lieber einen Apfel zu essen, anstatt auf einem Filter zu kauen.

Horst Blümel aus der Parallelklasse hatte erzählt, dass der Herr Doktor vorigen Mittwoch sogar seine Eltern zu Hause besucht habe. Habe sich erst mal hingesetzt, einen Kaffee getrunken und dann so ganz nebenbei gefragt, warum der Filius mit fünfzehn schon rauchen dürfe. Am nächsten Tag stand Horst Blümel mit einem Apfel unter den rauchenden Mitschülern im Gebüsch. Keine Frage, der Doktor hatte ihn seiner Jugend beraubt. Seiner Jugend und einer halb vollen Schachtel HB, die direkt beschlagnahmt worden war.

Als Theo dieses Elend sah, konnte er nur noch mitleidig mit den Achseln zucken. Das sollte ihm nicht passieren. Er war als Raucher doch nicht so doof, sich beim Herrn Doktor in die erste Reihe zu setzen.

Um ein Uhr war es wieder soweit. Hunderte auf dem Weg nach Hause. In der Bahn. Im Bus. Zu Fuß.

Die Frühschicht hatte nun Feierabend und strömte mit glücklichen Gesichtern aus dem Gebäude, in das sie ein paar Stunden vorher traurig hineingeschlichen war.

Theo stand an einer Tischtennisplatte aus Beton und hoffte, mit dieser ausgeklügelten Methode endlich ein Mädchen kennen zu lernen. Bisher allerdings ohne zählbaren Erfolg. Und wie immer liefen ihm genau die Leute über den Weg, von denen er nichts wissen wollte. Also Klaus, Erwin, die Kalupke-Zwillinge – und Willi.

Willi hatte eine Schallplatte unterm Arm. Willi hatte immer Schallplatten unterm Arm. Was sollte man auch sonst mit den Dingern machen?

Für Platten hatte sich Theo nie interessiert. Die, die er kannte, waren voll von Bach – und aus die Maus.

Man merkte direkt, dass Willi einen an der Klatsche hatte. Er war einen Kopf größer, zwei Bäuche breiter und drei Klassen tiefer als die anderen. Ein chronischer Sitzenbleiber. Aber er trug als Erster auf der Schule lange Haare, länger noch als die der Beatles. Natürlich rauchte er Kette. Man sah ihn manchmal auf dem Schulhof, wie er sich ein paar Selbstgedrehte baute, was ihm stets Respekt und Einträge ins Klassenbuch einbrachte. Man munkelte sogar, dass Willi einmal Seemann gewesen sei, andere Quellen wiederum wiesen ihn als Buschmann aus. Alles in allem schien der Knabe ein paar Nummern zu wild, als dass man sich länger mit ihm unterhalten mochte.

Theo schaute sich um, sah, dass ein paar Kröten Fangen spielten, sah Mauern, sah Gegend und mittendrin diesen Willi. Ein komischer Vogel, der zwar wie ein Papagei schillerte, aber wie eine Ente lief.

Theo musste grinsen, als er beobachtete, wie Willi mit seinem Platz raubenden Gang und dem pendelnden Kopf den ganzen Bürgersteig für sich beanspruchte und andere Passanten ausweichen mussten, sofern sie nicht vorher ohnehin schon die Straßenseite gewechselt hatten. Willi hatte etwas an sich, das die Menschen von ihm fern hielt.

Die Älteren, zu denen Theo sich zählte, waren längst in die Büsche verduftet und knutschten. Ein anderer Teil, der diesmal – ausnahmsweise natürlich – nur aus Theo bestand, hing allein an der Tischtennisplatte herum und betrachtete Willi, wie er zur Bushaltestelle trampelte. Dessen ruhige Eile hatte etwas Abgeklärtes, wies auf eine gewisse Reife hin und darauf, dass auch ihm alles egal zu sein schien.

Theo beschloss, ihm zur Haltestelle zu folgen. Nach Hause wollte er jedenfalls noch nicht.

Willi schon. Er stand vor einem mit Plastik überzogenen Fahrplan und las und studierte und verstand nur Bahnhof. Es sah stark danach aus, als würde Willi hier keinen Meter weiterkommen.

Irgendetwas war in Theo gefahren, etwas unerklärbar Beklopptes, etwas, das ihn ein paar vorsichtige Schritte vorwärts gehen ließ. Mit einem flauen Gefühl im Bauch näherte er sich der Kreatur, die schon seit zwei Zigaretten erfolglos das Schild anstarrte – dem Willi mit den Schallplatten unterm Arm.

Theos Leben hatte bis jetzt nicht sonderlich viele Höhen und Tiefen zu bieten gehabt, und die gleichgültige Art, mit der Willi durchs Leben schlunzte, sah aus wie sein eigenes Gegenteil. Auch wenn ihm seine Eltern tagtäglich predigten, wie verkommen und nichtsnutzig die Langhaarigen seien, so schien es einem Gammler wie diesem Willi an nichts zu fehlen. Er lebte in seiner eigenen Welt, einer Art Nachgeburt vom Paradies, in der ungekämmte Haare und dreckige Fingernägel jede Krise schadlos überstanden.

Um Einzelheiten zu erfahren, ließ sich ein Gespräch mit dem zotteligen Heini nicht vermeiden. Ein Gespräch, in dem das Wort »Schule« nicht vorkommen dürfte, logisch. Theo könnte zum Beispiel fragen, was denn das für eine Scheibe sei, die er da spazieren führt. Was Besseres fiel ihm sowieso nicht ein.

Mit einem Gesicht, auf das er eine gewaltige Portion Selbstbewusstsein aufgetragen hatte, tippte er diesem Willi auf die Schulter und verlangte Aufklärung. »Ey«, und das kam ganz ruhig und lässig, »ey, zeig doch mal die Platte! Ich glaub, die kenn ich noch nicht!«

Kaum hatte er seinen Eröffnungszug gemacht, drehte sich Willi zu ihm um und begann zu glotzen. Er fiel in einen endlos scheinenden Glotzkrampf. Er glotzte auf Theo, er glotzte auf die Platte, er glotzte auf den Fahrplan, er glotzte und glotzte, und als endlich der Bus kam, ließ er ihn sausen.

»Das hier ist die neue Stones, ey!«

Wenn man nichts erwartet hatte, war das eine ganze Menge Holz. Vielleicht war auch deswegen in Theos Kopf ein Sack Reis umgefallen und hatte das Gähnen im Keim erstickt. Reis ist ja schwer – auf Dauer.

»Wie heißt denn die Platte?«

Willi konnte sich wohl an nichts mehr erinnern und musste auf die Hülle glotzen. »Around And Around. Das ist Englisch.«

Bum! Sack Reis, die Zweite. Noch so ein paar heiße Informationen, und der LKW würde sicher voll werden.

Theo wurde müde. Das hatte er nun davon. Er wurde so müde, wie schnöde Worte es nicht mehr auszudrücken vermögen. So ein Pech! Er war leider nicht in der Lage, sich von irgendwelchen halbstarken Beat-Kapellen auch nur annähernd beeindrucken zu lassen. Im Gegenteil: Eben noch sprang er fit durchs Leben, jetzt war er müde. Und daran war nur dieser Willi schuld! Wieso musste er ausgerechnet ihn anquatschen – hätte es ein properes Teeny-Girl nicht auch getan?

Er hatte sich schon fast gedacht, dass bei diesem Willi nur belangloser Mist herauskam. Er beschloss, ihn einfach stehen zu lassen, und griff nach seiner Tasche.

In diesem Moment schnellte Willis Fuß vor, um auf Theos Lederbeutel zu parken. Der spendierte sich einen bitter nötigen wachen Moment. Die Tasche, der Fuß, der Sitzenbleiber – es roch schwer nach Ärger. Theos Existenz schien diesem Willi nicht zu schmecken und sein Schlafzimmerblick erst recht nicht. Er spürte, wie Willis Laune einen kurzen Schwenk Richtung Ohrfeige nahm, und ging schon mal in Deckung.

Für einen kurzen Moment war die Stimmung elektrisch. Dann aber besann sich Willi wohl auf seine Qualitäten und zog zischend Luft durch die Nase, was Theo als unmissverständliches Säbelrasseln vor der großen Verbal-Attacke interpretierte. Als Aperitif regnete es verächtliche Seitenblicke.

»Stehst du nicht drauf, was?«

Die Stones? Die kannte Theo nur aus Zeitungsartikeln, die sein Vater ihm allzu gerne vorlas.

Sollen Krawallburschen sein.

Sind Seuchenherde.

Haben Sex und keine Ehe.

Lassen auf ihren Konzerten zum Spaß die Stühle zertrümmern.

Und wer soll den ganzen Mist bezahlen? – Der kleine Mann!

Theo wusste Bescheid.

»Ach, hör doch auf mit diesen alten Vorurteilen! Was die Zeitungen schon schreiben. – Aber ich kann dir gerne ein paar auf die Fresse hauen.«

Das war ein Argument. Kein schlimmes Wort mehr. Aber was war denn jetzt mit den Möbeln?

»Mein Gott, du Hirni, was glaubst du, wie egal den Stones so ein paar Stühle sind!«

Auch die Stühle kannte Theo nur aus der Zeitung. Sollen kaputt sein. Haben sich bei einem Konzert der Stones irgendwo in Schottland anscheinend selbst zerlegt. Alles klar.

»Geh mir doch weg mit diesen alten Geschichten, Mann! Rhodesien hat die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben! Ab jetzt wird alles anders!«

Ein Visionär! Auch das noch. Theo musste schlucken. Langsam beschlich ihn das ungute Gefühl, an einen zurückgebliebenen Intellektuellen geraten zu sein. Die Zukunft – wie sollte sie schon aussehen? Schule, Lehre, Bundeswehr – was sonst? Und ab jetzt sollte alles anders werden? Er war sich da nicht so sicher.

Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass er mit seinen 16 Jahren genau am Anfang dieser Tretmühle stand. Willi, den er ein, zwei Jahre älter schätzte, musste sich eigentlich ähnlich fühlen. Zugegeben, er sah nicht danach aus.

»Alles wird besser, bunter und ...«

Und was?

»... lebendiger! Und damit ...«, womit er wohl die Platte meinte, »... fängt es an! Wenn ich dir sage, die Rolling Stones sind gut, dann sind sie gut. Ohne Scheiß jetzt, kannst du mir ruhig glauben, das erzähl ich auch nicht jedem. Das sind wenigstens nicht so Schlagertröten wie die Beatles oder die Quietsch Boys, haha ...«

Verdammt, ein Witz! Auch das noch! Theo wurde schlagartig klar, dass es letztendlich vielleicht wirklich noch ein paar auf die Schnauze geben würde, wenn er jetzt nicht mitlachte. Er zwang sich zu einem höflichen Lächeln, das ihm Willi mit ein paar blumigen Worten aber direkt wieder vom Maul schmirgelte.

»Die Stones machen wenigstens reelle Musik, verstehst du? Musik der Straße, der Großstadt! Und was ist Duisburg, ey?«

Ein Dorf?

»Eben! Dazu eine Portion Blues und dreckige Riffs, das bringt’s! Wenn ich mir deine Bach-Kacke anhöre, weiß ich, was meine Stones wert sind.«

Theo seufzte tief. Anscheinend kannte die halbe Stadt seinen musikalischen Irrweg. Es war wirklich zum Verzweifeln. Natürlich hatte Willi Recht: Bach ist Kacke, Punkt. Vielleicht sollte er sich diese Stones-Platte mal anhören und vom bliffigen Ruff, oder wie das heißt, kosten.

Er druckste herum. Leicht fiel es ihm nicht, einen Kerl wie Willi um einen Gefallen zu bitten. Es kostete ihn einiges an Überwindung. Natürlich fürchtete er sich auch davor, wegen dieser geborgten Platte mit Willi in Kontakt bleiben zu müssen. Schließlich war Willi ein Typ zum Wegrennen und nicht zum Hingehen.

So beiläufig wie möglich erkundigte sich Theo, ob er sich die Platte mal leihen dürfte, und ging in Deckung.

Eigentlich erwartete er eine würzige Mischung aus Lachkrampf und Gewitter, doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil – Willi war nicht sonderlich überrascht.

»Aber wenn da nur ein Kratzer drauf ist, ist der Arsch ab, klar? Und noch ein Tipp unter Freunden: Musst du laut hören, sonst wird Satan sauer!«

Willis guter Rat drehte in Theos Schädel noch ein paar Runden, als er in sein Zimmer ging und die Platte auflegte. Die Platte, die ihm höchstwahrscheinlich Schwierigkeiten bringen würde, er hatte da so ein Gefühl. Waren es nicht seine Eltern, die stets neue Weltrekorde im Kopfschütteln aufstellten, wenn sie in der Zeitung über derartige Hottentottenmusik lasen?

Sei’s drum.

Er entschied sich, alles zu riskieren, und senkte den Tonarm behutsam auf die Scheibe mit dem gefährlichen Virus. Dafür oder dagegen, Krieg oder Frieden, Bach oder die Stones – gleich würde er es wissen. Er lag auf seinem Bett und wartete auf zwölf Portionen reeller Musik.

Das Knacken und Knistern aus der Box verriet ihm, dass jemand vor ihm diese Platte offenbar schon sehr häufig gehört hatte. Vielleicht wegen des dreckigen Riffs, von dem er immer noch nicht wusste, was das überhaupt war, und von dem er immer noch hoffte, es würde seine Welt verbessern.

Den Lautstärke-Regler hatte er vorsichtshalber bis zum Anschlag aufgedreht. So kurz vor der Erlösung wollte er keinen Fehler machen.

Laut knisternd zog die Nadel ihre Bahnen, die die Rillen ihr wiesen. Frieden! Es roch nach einem netten, mystischen Moment.

Plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm, ein apokalyptisches Beben, ein gigantischer Ausbruch von Urgewalt.

Was war los? War das die Platte? Waren das die Stones oder die Russen? Oder hatte sich der Schlachthof am Ende der Straße durch seinen eigenen Darm gepresst?

Theo stand senkrecht im Bett. Bereit, dem Dritten Weltkrieg, der soeben begonnen hatte, tapfer ins Auge zu schauen.

Kein Mensch konnte ernsthaft von ihm verlangen, sich in dem Gewirr der kreischenden Gitarren und der wild hämmernden Schlagzeugmaschinerie eines gewissen Charlie Watts zurechtzufinden – kein Mensch, außer er selbst. Es war höchste Zeit. Er musste endlich diesen verdammten Einstieg zu dieser fremden Galaxis finden. Aber wie? Etwa durch diesen sehr überdrehten Gesang? Die abgegriffene Plattenhülle machte einen Mick Jagger als Inhaber der Stimme aus. Viel schlauer machte ihn das nicht. Seltsam genug, dass diese Stimme weder brav noch lieblich war; aber dass dieser dürre Furz mit dem großen Mund offensichtlich in voller Absicht so verlottert herumschrie, verdiente einen gewissen Respekt und hatte nichts mit den Schlagersängern zu tun, über die er manchmal im Radio stolperte.

Mick Jagger schrie weiter. Vom Text verstand Theo natürlich jede einzelne Zeile, und das war auch bitter nötig.

Well, she used to run around with every man in town ...

Er konnte sich schon denken, wovon Herr Jäger gerade sang, die alte Sau. Er war sich auch ziemlich sicher, dass das Leben dieses Engländers nichts mit dem eigenen gemein hatte und dass dies ein Missstand war, den es schnellstmöglich zu beheben galt. Oh ja, ein erwärmender Gedanke.

Spent all my money playing a high class game ...

Er legte sich wieder aufs Bett, hing ein paar Gedanken nach, wippte mit dem Fuß.

Because I used to love her ... but it’s all over now ...

In seiner Lage würde eine filterlose Zigarette sicherlich nicht schaden. Eine Freundin aber auch nicht.

Während sich in seinem Kopf und seiner Hose ein zartes Verlangen nach gut küssenden Babes rührte, war das Stück schon zu Ende und Jagger mit seiner kleinen Lady längst über alle Berge. Nicht übel. Zumal elf weitere Songs nur darauf warteten, ihn mit Dreck und Riffs zu bewerfen.

Die Gitarren, die plötzlich ihren Weg durch das leise Lagerfeuer zwischen den Stücken frästen, waren nicht von schlechten Eltern, sondern von zwei ganz anderen Herren: Mister Richard und Mister Jones. Gitarren, laut und hart gespielt, das klingende Brikett.

Theo lag auf dem Bett und wurde gerade von der quakenden Wucht aus seinem Lautsprecher richtig schön durchgeknetet, da knallte die Tür auf und seine Mutter sprang herein.

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Was ist das bloß für ein Lärm? In meinen eigenen vier Wänden! Mach das sofort leiser oder du lernst mich mal von einer ganz anderen Seite kennen!«

Allzeit bereit, wenn es darum ging, der Mutter einen Gefallen zu tun, begab er sich langsam zum Plattenspieler und drehte den Knopf für »Waffenstillstand« mit einer atemberaubenden Dösigkeit nach links.

Nach einer halben Minute war es geschafft. Aus dem Kanonendonner wurde wieder Zimmerlautstärke. Doch statt einer geballten Ladung Dankbarkeit erntete Theo nur Ärger, Radau und Hysterie – und davon die ganze Palette.

»Leiser! Noch leiser! Mach’s am besten ganz aus!«

»Wieso denn?«

Eine böse Frage, die seine Mutter so blöd glotzen ließ, als spiele Churchill auf seinem Geschlechtsteil For He’s A Jolly Good Fellow. Wieso denn, wieso denn ...

»... weil ich das so will!«

»Wieso denn?«

»Komm, frag nicht so blöd!«

Man konnte sagen, was man wollte: Ihre Argumente hatten einfach Klasse. Am Horizont winkten bereits zwei Wochen Hausarrest freundlich herüber.

»Mir gefällt der Lärm aber!« Er schnappte sich nochmals die Plattenhülle, um darin ein paar Meter tief zu versinken.

Die Mutter verstand keinen Spaß. »Lärm – das ist genau das richtige Wort! So etwas kann doch nur von Verrückten kommen! Komm ja nicht auf die Idee, mir eine Platte der Beatles ins Haus zu schleppen!«

»Das sind die Rolling Stones!«

»Was, die? Diese Schläger? Diese Kriminellen? Die, die immer die Stühle zertrümmern?«

Nanu? Woher wusste sie vom Kleinholz? Ach ja: Für derartige Informationen war die Kasse vom Supermarkt zuständig, in dem seine Mutter regelmäßig verkehrte. Alles klar. Theo nickte entspannt. Dann musste er grinsen. Ihm steckte der Schalk im Nacken. »Die fressen auch kleine Kinder und stecken Häuser in Brand!«

Ihr Kopf gewann an Farbe.

Er begann damit, sich wieder der Plattenhülle zu widmen. In den Augenwinkeln konnte er sehen, wie sie ausgebombt auf der Bettkante Platz nahm.

»Ich seh dich schon im Gefängnis, mein Sohn! Was werden die Leute denken – denk an Vatis Position! Und ich opfere mich all die Jahre für dich auf, gebe dir die beste Erziehung, die du dir vorstellen kannst – und was ist der Dank? Mein Sohn beginnt zu spinnen! Macht, was er will! Aber Undank ist der Welten Lohn! Mein Gott, was ist das bloß für eine Generation?«

Kopfschüttelnd starrte sie ins Nichts. Wie jemand, der Selbstgespräche führt.

»Und ich kaufe dir all die teuren Bach-Platten, bezahle deinen Klavierunterricht, und du fällst auf eine Bande herein, die nichts als Krawall im Kopf hat! Unfassbar!«

Tief seufzend erhob sie sich, strich das Bettzeug glatt und hinkte aus seinem Zimmer, wie jemand aus dem Zimmer hinkt, auf dessen Schultern die Last der ganzen Welt ruht.

Bye Bye Johnny.

Mit gierigem Blick schielte er auf die lärmende Wunderwaffe gegen Mütter, rollte sich vom Bett und ließ den Tonarm zum zweiten Mal auf die Platte sinken. Dem Lautstärkeregler verpasste er wieder die von Willi empfohlene Position.

Die Platte lief, und er ging auf Entdeckungstour. In der Tat war die Musik dreckig, viel dreckiger als seine Socken. Dreckig genug, um brave Bürger durch ihre bloße Existenz provozieren zu können. Fein!

Er hörte sich die Platte ganz genau an, zwei-, drei-, siebenmal, und er fand – abgesehen vom Gesang, dem Bass und dem Schlagzeug – noch einen weiteren Grund, diese Scheibe zu mögen: Die Gitarren. Das Stück Confessin’ The Blues blieb ihm besonders im Ohr. Es war langsamer und klagender als die anderen. Vielleicht musste er sich an das sonstige Tempo erst noch gewöhnen, vielleicht lagen bei ihm Melancholie und Mutter zu dicht beieinander. Vielleicht war es auch nichts von alledem.

Die Stones sind wir selber

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