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6. Kapitel
ОглавлениеVon einem Speziallager für fangfrisches Vinyl, Buchenholz, das sich gewaschen hat, und einem Häufchen Span
Ziellos schlenderte er durch die Stadt. Er dachte an Inge, immer noch. Das Kapitel war seit zwei Wochen beendet, und er sollte sie eigentlich längst vergessen haben. Genügend Gründe, sie auf den Mond zu schießen, hatte er beisammen. Dass es dennoch nicht funktionierte mit dem saftigen Tritt, schob er auf das sentimentale Zwischenhoch, das sich bei ihm eingenistet hatte.
Er ging die Straße entlang, taperte durch jede Pfütze, die sich ihm auf dem glänzenden Asphalt bot. Von der Imbissbude roch es nach heißem Fett, das in seine Nase kroch und das er an anderen Tagen als appetitanregend empfunden hätte.
Er ging weiter, noch weiter, bis er plötzlich im Plattenladen stand. War lange nicht mehr da gewesen, schaute sich sorgfältig um. Aber nichts hatte sich verändert. Natürlich nicht. Alles beim Alten, beim Guten, beim Blues. Er atmete tief durch, bis sich seine Lungen mit dem Duft fangfrischen Vinyls und brandneuer Plattenpappe voll gesogen hatten. Er war wieder zu Hause.
»Theo! Lang nicht mehr gesehen! Auf der Suche nach dem Blues?«, trompetete Raimund hinter der Kasse.
Theo hatte schnell herausgefunden, dass Raimund zu der Sorte Mensch gehört, die man immer nur an einem bestimmten Platz antrifft. Egal, zu welcher Stunde, egal, an welchem Sonn- oder Feiertag. Ein vom Wahnsinn besessener Verkäufer, dessen schlaksiger Körper mehr und mehr ins Inventar überzugehen schien. Kumpel von Willi, schnupftabaksüchtig, Schraube locker. Theo schätzte ihn auf Ende zwanzig. Ein uralter Mann, der sich aber von guten Freunden duzen ließ.
»Hallo Raimund! Was gibt’s Neues?«
Der tüchtige Verkäufer grinste schmierig. Er kam ein paar Schritte näher, blieb stehen, legte den Arm um Theos Schulter und verriet ein großes Geheimnis: »Hab ein paar Black-Blues-Sachen da. John Lee Hooker oder Memphis Slim, wenn du willst.«
»Hm.«
»Oder möchtest du lieber mal in die neue Stones reinhören?«
»Eine neue Stones? Klar!«
Gönnerhaft schob er Theo sanft beiseite und stolzierte zur Theke, unter der sich ein Speziallager befand. Das machte die Sache noch spannender, als sie ohnehin schon war.
Raimund bückte sich kurz, um im nächsten Moment aufrecht triumphierend einen quadratischen Karton zu präsentieren. »Theo, ich sag dir eins: Diese Platte ist so gut, dass ich sie am liebsten gar nicht verkaufen möchte! Das Schärfste aber: Das ist ein US-Import, den kriegst du kein zweites Mal in Duisburg! Hab selber nur zehn Stück davon. Hat mein Bruder mitgebracht. Weißt du, der ist bei der Marine. Hawaii, Rio, New York, Stockholm – der hat alles gesehen!«
Bevor Raimund, den sie nicht umsonst Schwätzmund nannten, richtig loslegen konnte, bat ihn Theo darum, die Platte einfach aufzulegen und wirken zu lassen. Eine gute Idee, wäre da nicht ein zotteliger Kerl in den Laden gestürmt und hätte My Generation von den Who verlangt.
Was war das nun wieder?
»Neugierig? Warte, ich spiel’s dir vor.«
Dadau dau dau dau da döpp döpp!
Dadau dau dau dau da döpp döpp!
Beat! Party! Mädchen! Irrenhaus!
»Du hast mich überzeugt, Raimund. Das Ding ist gekauft!«
Vorsichtig, wie man es vom Umgang mit Sprengstoff kennt, packte Raimund die Bombe in trockene Tücher und kassierte sechs Mark Detonationsgebühr.
Theo war erleichtert. Endlich konnte er Inge vergessen. Mit dem Vinyl in der Tüte ging er nach Hause, wo man ihn schon erwartete. Tante Marga war zu Besuch, hatte ein Geschenk mitgebracht. »Geh mal in dein Zimmer, Theodor! Da wartet eine Überraschung!«
Theo dachte an Schlafanzüge, Modellbauschiffe und Kackpflanzen.
Als er die Tür zu seinem Zimmer aufstieß und ins weite Rechteck starrte, blieben seine Blicke an seinem Bett hängen. Dort lag etwas Holziges. Langsam schlich er näher, beugte sich vor, nahm es in die Hand, betrachtete das Teil von oben bis unten, bis sich alle Zweifel zerstreut hatten. Das hier war eindeutig eine Gitarre.
Eine Gitarre?
Eine Gitarre!
Häh?
Er riskierte einen Ritt mit der Nase über den lackierten Corpus. Er roch nach Buche, das war schon mal nicht schlecht. Besser als das Klavier, aus dem der moderige Gestank einer verkorksten Musikerziehung quoll, war es allemal. Mit dem Zeigefinger strich er vorsichtig über die Saiten, nahm ein paar grunzende Töne in Kauf und stellte fest, dass sich der Klang veränderte, wenn er an den Wirbeln drehte. Nylon-Saiten! Also eine Konzert-Gitarre. Nun ja, bluesig sah sie wirklich nicht gerade aus, da fehlte der Stahl. Hoffentlich war sie wenigstens gestimmt.
»Stimmt’s, Theodor? Sie gefällt dir, was? Onkel Paul hat sie vorher extra noch für dich gewaschen!«
Großartig! Nun hatte er keine Probleme mehr.
»Danke, Tante Marga. Danke für alles.«
»Probier sie doch mal aus, Theodor! Komm, spiel mal was, du bist doch so musikalisch!«
»Richtig. Und deshalb spiel ich dir jetzt eine Platte vor!« Er holte die Single aus der Tüte, legte sie lechzend nach Lärm auf, wartete, aber nicht lange.
Der Jungfernstich seiner Plattenspielernadel zeigte schnell erste Erfolge: Die sanft im Verborgenen schlummernde Ausdruckslosigkeit im Gesicht seiner Tante verwandelte sich in offene Entrüstung. Kurz darauf, noch vor dem Refrain, hatten die Who seine Tante in die Flucht geschlagen und damit ein eindeutiges Plädoyer für seine Generation geschaffen. Ein beruhigendes Gefühl, über ein derartiges Waffenarsenal zu verfügen.
Was blieb, war die Gitarre mit den Nylon-Saiten und Theo, der nicht den blassesten Schimmer hatte, wie man so ein Gerät zum Klingen bringen konnte. Als er spät am Abend genügend Fehlversuche beisammen hatte, ließ er es bleiben und stellte die Gitarre wieder weg.
Das Sofa knarrte. Es quietschte und quäkte, denn es war nicht mehr das neueste. Theo lag lang gestreckt über die Breite der drei ausgebeulten Sitzfurchen, allein, aber nicht verlassen.
Das Sofa knarrte. Es quietschte und quäkte, denn es war nicht mehr das neueste. Es war auch nicht das hübscheste, aber mit Sicherheit gehörte es zu den saubersten, denn täglich machte seine Mutter ihre Runde.
»Sie wetzt sich wegen der paar Flusen noch mal den Arsch ab«, grummelte Theo vor sich hin, dann endlich hatte er sich auf die andere Seite geschoben. Vorsichtig legte er den Kopf auf die Lehne. Sie hielt. Er griff nach dem Micky-Maus-Heft auf dem Tisch, das wie so vieles in seinem Leben ein Geschenk seiner Tante war. Lustlos blätterte er darin herum.
Eigentlich konnte er Micky Maus nicht ausstehen, aber für Donald Duck, der ebenfalls in diesem Heft wohnte, nahm er auch das hässliche Kleinvieh in Kauf.
Auf Seite 12 entdeckte er sie, die Story des ewigen Verlierers: Donald watschelt die Straße entlang, ist auf der Suche nach Talern, als plötzlich ein Schneeball gegen seinen Schnabel schmettert. Donald fällt hin, mit Klatsch in den Matsch, springt wieder auf, sucht nach dem Werfer und findet ihn im übernächsten Comic-Kästchen. »Har Har«, tönt es in seinen Ohren. Er blickt direkt in eine Panzerknacker-Visage. Unrasiert und mit dem Namen 664-791 beschriftet. »Har Har.«
Theo kannte Donalds Gefühle, hatte er doch auch schon einmal Schneebälle probiert. Damals hatte ihm eine Pranke mit einem Gelenk dran fast den Kiefer gespalten. Die Pranke gehörte zu der Nummer WI-LLI und auch das Lachen gehörte dazu. Ein Lachen, das Theo nicht mehr vergessen konnte, da es ihm fast täglich frisch aufgetischt wurde.
»Hehe, Theo! Was hast du denn für eine Mutter? Hat sich eben tierisch aufgeregt über Old Willi. Weißt du, was sie von mir verlangt hat? Den Zigarillo sollte ich ausmachen. Ja, wo sind wir denn hier? Und die Flasche Lambrusco hat sie mir auch abgenommen, Mann! Wusstest du, dass deine Mutter klaut? Na ja, den trinkt sie jetzt wohl solo aus, was? Har har! Aber keine Angst, Willi hat noch einen Flachmann im Sack. Organisation ist eben alles. Tach, Theo!«
Dem fiel vor lauter schöner Überraschung kein passender Spruch ein.
»Du hast eine Gitarre, Mann? Gut, dass Willi spielen kann!« Und Willi schnappte sich das Ding, entkorkte den Flachmann, nahm einen kräftigen Schluck und setzte sich auf seinen dicken Arsch. Das war zu viel für das Sofa. Eben noch das sauberste Sofa der Welt, nun ein Häufchen Span.
»Theo, dein Sofa ist kaputt.«
»Ach nee, du Komiker!«
Willi hielt ihm den Flachmann entgegen. »Halt mal!«
Na gut, dachte Theo, nahm einen kräftigen Schluck, und schon musste er über das Sofa lachen. Und über Willi. Irgendwie war er ihm in seiner Art sympathisch geworden. In seiner Art, sich selbst nicht für voll zu nehmen und dabei so zu tun, als sei er der Größte.
Theo verschluckte sich fast beim Nippen, als er sah, wie sich Willi über die Gitarre hing, als sei er Eric Clapton persönlich. Den Mund weit aufgerissen, völlig in sich versunken, definitiv der kommende Stern am Blues-Himmel. Mit der Mimik eines Muddy Waters von der Plattenhülle versuchte er zu singen wie Mick Jagger und hinterließ dabei einen Eindruck wie Franz, die Gans.
Nach diesem Höhepunkt musikalischer Tiefstleistung begann der theoretische Teil des Abends. Willi gab alles und verbog die Finger zu einem Griff.
»Das ist E-Dur. Glaub ich.«
Dann wechselte er die Lage.
»A-Moll, Theo!«
Unglaublich, es wurde immer ausgefuchster. Und dann spielte Willi doch tatsächlich H-Moll!
»Das musst du sehen!«
H-Moll – ein Stichwort, das Theo sofort an Frau Zothelmann und seinen eigenen, missratenen Akkord denken ließ. »Das muss aus dem Gelenk kommen, Willi!«
Welch ein Frevel!
Willi glotzte Theo an, fassungslos damit beschäftigt, in seinem Schädel aus Buchstaben Worte und aus Worten Sätze zu bilden. Vakuum mobile. Es dauerte eine Zeit, bis er wieder sprechen konnte. »Du tickst ja nicht mehr richtig, du Amateur! Das war ja wohl Weltklasse!«
Theo nickte süffisant und präsentierte sein Das-wird-schon-altes-Haus-Gesicht.
In Willis Rübe begann es zu rattern. Wurde er am Ende verarscht, er, der Boss?
Theo genehmigte sich einen weiteren Schluck, und Willi ging auf die Barrikaden. »Ey, lass mir auch noch was drin, der war nicht billig! Weißt du, was die einem armen Gitarristen für so ein Karäffchen abnehmen? Volle einsvierzig hab ich an der Bude dafür hingenickelt. Also sei mal ein bisschen nett, Bruder.«
»Einsvierzig, Willi? Na ja, guck mal, da ist ja auch eine Menge drin: Nullkommafünfunddreißig. Meinst du, das reicht für heute Abend?«
»Keine Ahnung. Aber zur Not haben wir ja unten noch die Flasche Lambrusco.«
Oder auch nicht, dachte Theo, der seiner Mutter einiges zutraute. In der Disziplin Wegräumen hielt sie schließlich den deutschen Rekord. Die Chancen standen also nicht schlecht, dass Willis Lambrusco in einem kalten Kellerregal verenden würde, weit weg von dem Zimmer unterm Dach.
Dort hatte Theo inzwischen den leisen Verdacht, dass Willi eigentlich gar keinen Alkohol mehr brauchte. Bei dem Versuch, die Gitarre an die Wand zu lehnen, zeigte der Fusel, was er aus Menschen machen kann. Doch mit jedem Zentimeter, den Willi an Haltung und Würde verlor, gewann er an Glaubwürdigkeit.
Dennoch misslang das löbliche Unterfangen, die Gitarre möglichst behutsam gerade an die Wand zu stellen. Der hölzerne Feind fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden, in Zeitlupe.
Willi bestaunte die Welt der Schwerkraft, machte dabei aber nicht den Eindruck, als würde ihn Instrumental-Physik langfristig interessieren. Kopfschüttelnd ließ er sich rechts in den Sessel fallen und die Gitarre links liegen. Lieber schaute er sich nach neuen Objekten um, die er bearbeiten könnte, und entdeckte ein Buch. Er rupfte es aus dem Regal, blätterte darin herum, verstand nur Bahnhof. »Theo, du musst mir helfen. Hör dir mal diesen Quatsch an: Werden die produktiven Kräfte ausschließlich zur Panzerherstellung benötigt, mögen vier Trillionen Panzer gebaut werden können, auf die Salzgewinnung muss dann aber verzichtet werden. Was für ein Scheiß, ich kapier das nicht. Theo, was soll das?«
»Es geht darum, dass irgendein Schlaukopf was Kluges gedacht hat und meint, es der ganzen Welt mitteilen zu müssen. So was wird dann an den Schulen und Universitäten gelehrt, damit die Dozenten nicht arbeitslos werden. Ich kann nur vorm Abitur warnen, Willi! Aber hör auf mit Schule! Diese Scheiße hängt mir zum Halse raus.«
Willi tat seinem Freund den Gefallen und warf das Buch lässig in den Müll. Grinsend widmete er sich wieder dem Jägermeister und leerte die Flasche. Mit dem Handrücken wischte er die letzten wackeren Tropfen vom Mund. Dann lehnte er sich bequem zurück und betrachtete Theos Zimmer chronologisch. Erst die hässliche Tapete, dann die Weltkarte an der Wand, danach das Bücherregal, gefolgt vom Kleiderschrank. Den Teppich und die Schuhe in der Ecke. An den Platten, die lose neben der Yucca-Palme lagen, blieb er hängen. »Du bist jetzt wohl auch endgültig auf den Blues gekommen, was?«
»Da kann man nichts falsch machen.«
»Eben, das hab ich dir ja schon vor einem Jahr erzählt!« Willi wurde wehmütig – der Jägermeister! »Weißt du noch, wie ich dich damals von der Straße geholt habe? Wie frustriert du warst und wie demütig du mich damals gebeten hast: Willi, mein Retter! Leih mir in Gottes Namen doch mal die Stones-Platte aus, bitte-bitte-bitte! Und ich – Mensch, wie ich bin – denk mir: Willi, erfülle deine Mission und hilf dem Jungen! Ich habe immer gewusst, dass meine Dienste Wurzeln schlagen werden. Theodor Bornbeck! Schau dich doch nur einmal in deinem Zimmer um! Was siehst du? Vier saumäßig gute Rhythm ’n’ Blues-LPs und eine Gitarre! Da sag ich mir doch: Willi, du hast Gutes getan! Und du? Du wartetest auf mich mit einer Plastiktüte, und ich empfing dich mit offenen Armen – wie es eben so meine Art ist. Und sag doch mal ehrlich, hast du es jemals auch nur eine Sekunde lang bereut, an Willis Seite zu stehen, mit ihm gemeinsam zu Raimund zu gehen, die neue Stones zu hör’n und sich einen Eid zu schwör’n: Wir werden immer die zehn Gebote einhalten – schreib ruhig mit, wenn du willst. Also: Clapton, Stones, Alkohol, Mädchen, einen fetten Zahltag, gutes Feeling und Willi natürlich!«
Theo beschaute sich den lallenden Blues-Apostel, als plötzlich die Tür aufschlug und hoher Besuch hereinschwankte. Haare hingen wirr im Gesicht herum, Augen waren zu Schlitzen verengt und der Mund saß schief. Arme baumelten ziellos von den Schultern herab und versäumten es, im Türrahmen nach der dringend nötigen Stabilität zu suchen.
»Mutter! Wie siehst du denn aus?«
»Da! Da sitzt er, dieser Willi! Raus mit ihm, raus! Der verdirbt dich noch mit seinem Alkohol!«
Willi sah kurz auf, ließ seinen Blick theowärts wandern und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn.
»Nun geh schon, du Kerl!«
»Mutter, lass den Willi in Ruhe!«
»Ha, einen Dreck werde ich tun!«
Für einen Moment musste Theo an das saubere Häufchen Span denken.
»Geh schon, du Stinker! Ich will dich hier nie mehr sehen! Willst meinen Theo doch nur zum Alkohol verführen, stimmt’s?«
»Sie sind ja selbst besoffen, gute Frau!«
Ertappt, aber nicht schuldig wackelte sie zu Willi und schielte ihm tief in seine vier Augen. »Und wenn, bist nur du schuld daran!«
»Wüsste nicht, warum.«
»So, so, er weiß nicht, warum. Soll ich’s dir sagen? Weil du dieses Dreckszeug mit ins Haus geschleppt hast, darum!«
Willi erschrak. »Sie haben doch nicht etwa an meinem Lambrusco genippt?«
»Und ob, Freundchen! Ich habe die verdammte Flasche komplett geleert!«
»Der schöne Wein in diesem dummen Weibe«, flüsterte Willi vor sich hin und schüttelte den Kopf.