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4. Kapitel

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Von einem untoten Quälgeist, Do-Wacka-Do und dem virtuosen Heimspiel in Lederfäustlingen

Donnerschläge rissen Theo aus seinem Sessel. Die halbe Stadt erbebte von dröhnenden Detonationen, unter ihnen ein paar Rohrkrepierer. Am Himmel flogen Raketen, auf der Erde verqualmten glühende Überreste von Sprengkörpern. Über den Dächern des Viertels brannte ein einziges Feuer. Es war Mitternacht und doch taghell. Dem Inferno ein Lächeln abtrotzend, rannten Menschen auf der Straße wirr durcheinander, gingen teils gekrümmt, teils stockstramm und mussten sich übergeben.

Es war Silvester.

Im Nebenhaus war alles still. Das konnten die von nebenan nicht behaupten, denn Theos Eltern zelebrierten das obligatorische Silvesterbesäufnis. Sie johlten schon ziemlich laut, die Party schien gelungen.

Um den Lärm zu übertönen, drehte Theo den Lautstärkeregler bis zum Anschlag nach rechts. Vergeblich! Die Stimmen der Feiergemeinde waren offensichtlich gut geölt, und dem Plattenspieler fehlten eindeutig die entscheidenden Watt. Trotz widriger Umstände beschloss er, es noch einmal mit einem von Willis Juwelen zu versuchen, mit einer John-Lee-Hooker-Platte. Auch wenn er sie nicht hören könnte, so war es ein gutes Gefühl zu wissen, welche Spezialität sich da auf dem Teller drehte.

Gerade als er sich eine schöne zwölftaktige Zigarette genehmigen wollte, flog die Tür auf, und er blickte in die aufgetakelte Visage von Frau Zothelmann. Ausgerechnet! Nicht nur, dass sie tatsächlich auf der Party seiner Eltern erschienen war, obwohl seine Mutter die alte Fregatte doch wohl eindeutig nur spaßeshalber eingeladen hatte – jetzt besaß sie auch noch die Frechheit, in sein Zimmer zu kommen.

»Mein lieber Theodor!«

Grundgütiger Gott, sie kam genau auf ihn zugeschossen! Ob er ihr ein Kruzifix vor die Nase halten sollte? Oder eine Kinderbibel? Dumm nur, dass sich derartig wichtige Utensilien nicht in seinem Besitz befanden. Er nahm sich vor, zunächst einmal mit seiner Knoblauchfahne zu wedeln, und hoffte, den untoten Quälgeist damit zu vertreiben.

»Wie geht es dir? Ich habe dich ja schon seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen!«

Weiß Gott die schönste Zeit in seinem Leben.

»Warum hast du denn mit dem Klavierunterricht aufgehört? Du warst doch so ein Talent!«

Nu guck.

»Weißt du noch, als du My Bonnie Is Over The Ocean gespielt hast?«

Ach was.

»Auch dein Jingle Bells war Spitzenklasse, Theodor!«

Sicher war es das.

»Ich würde es doch zu gerne noch einmal hören. Spiele es doch noch mal, Theodor! Der Flügel steht im Wohnzimmer und wartet nur auf dich. Und mache dir keine Sorgen, ich habe bereits alles arrangiert.«

Na prima.

»Komm, Theodor, sei ein Schatz!«

Die alte Schabracke redete sich den Mund fusselig, bis er sich endlich einen Ruck gab, gut sichtbar in ein süßsaures Lächeln gepresst.

»Ich wusste, dass du mich nicht enttäuschen würdest. Gehe nur schnell hinunter, die Damen und Herren warten schon.«

Dachten die etwa, er wäre der Mann mit dem Bier?

»Na los, Theodor! Sie warten auf dich!«

Da konnte man nichts machen.

Langsam, ganz langsam, extrem langsam, ja: stehend ging er die Treppe hinunter und stieß im Parterre auf die grölende Bagage. Wie nicht anders zu vermuten, stieg hier eine Riesensause. Entweder man bekam davon Kopfschmerzen oder machte notgedrungen mit. Theo konnte sich für keine der beiden Möglichkeiten erwärmen und beobachtete mit der Gnade seiner Jugend eine Horde fettleibiger Bürobüffel, die sich trompetend durch die Diele schob. Sie sangen ein Liedchen, das er schon nach zwei Fantas erkannte, und pfiffen lautstark auf Versmaß, Taktgefühl und Tonlage. Ihr Do-Wacka-Do kam jedoch nicht ganz an die Original-Fassung vom Medium Terzett heran. Dafür kam Theo dem Flügel immer näher.

Ein Blick in das Wohnzimmer spendierte ihm eine Komplettansicht dessen, was dort so alles wackedote. Zum Beispiel der Dicke, der sich liebevoll um das kalte Buffet kümmerte und im Eigenversuch testete, wie viel Zeugs auf seinen Teller passte. Käsebrote, Kaviar-Eier, Salate und reichlich Kasseler fanden ein neues Zuhause, waren aber auch kurz danach die längste Zeit an der frischen Luft gewesen. Jetzt war ein Absacker fällig. Die Bar war immer für einen 56er Mosel gut. Der Dicke ließ sich einen einschenken und schlürfte galant in die Runde. Da es so vorzüglich mundete, sollten alle daran teilhaben. Nach einem lauten, schmatzenden Geräusch, das sich anhörte, als hätte jemand mit einer Kröte geboxt, musste er nochmals zum Buffet zurück, den Nachschub sichern.

Theo musste die Augen schließen, wollte er sich nicht einen verdorbenen Magen holen. Als er sie wieder öffnete, stierte er auf eine Gürtelschnalle. Der passende Gürtel dazu umrundete einen Leuchtturm, der ihn freundlich aus glasiger Lichtquelle anstarrte und ein Dowackado fahren ließ. Die Turmspitze in Form einer kahlen Schädeldecke wehte in einer luftigen Höhe von mindestens zwei Metern unkontrolliert durch Raum und Zeit. Hier stand der Alkoholspiegel schätzungsweise bei einsfünfundneunzig.

Zu Theos Rechten zog die Stimmungskanone von Bedburg-Hau ihre Show ab: sechzig, rotnasig, dickwanstig und schon ziemlich hinüber. »Sagt doch der Tünnes zum Schäl: Die sind beim Schreiner!« Worauf er, nur er, nur er allein in schallendes Gelächter ausbrach. Bei diesem Herrn handelte es sich um einen Rabauken übelster Sorte. Erst haute er sich noch selber auf die Schenkel, danach knuffte er seine Tischpartnerin in die Seite, dann waren auch ihre Schenkel reif. Nur ein mitleidiges Lächeln hervorzaubernd, verstand doch diese infame Person offensichtlich den Spitzenwitz des Abends nicht. Er erklärte ihn ihr: »Er bringt die Socken zum Schreiner, verstehen Sie? Und Tünnes wartet auf die Schuhe, verstehen Sie?«

Nein, sie verstand nicht.

Also auf zum nächsten Witz. Diesen einen musste er unbedingt noch bringen, Moment, wie ging denn der noch? Eine Frau ... nee, also eine Verkäuferin geht ... oder war’s in der Metzgerei? Nur etwas Geduld, gleich hatte er ihn.

»Und jetzt will uns der Theodor A La Turka von Mozarts Sonate Nr. 11 in A-Major darbieten! Herrschaften! Ich bitte um einen Applaus für diesen jungen Künstler, dessen Eltern uns diesen schönen Abend ermöglichen!«

Nach dieser reizenden Ansage führte ihn Frau Zothelmann höchstselbst an den Flügel und ließ seine Schulter erst los, als er auf dem Klavierschemel Platz genommen hatte. Für einen Rückzug war es nun zu spät.

Theo rückte ein Stückchen näher an die noch vom Holz verdeckten Tasten heran und war kein Stück weiter als vorher. Die geladenen Gäste versammelten sich bereits im Halbkreis um den jungen Künstler, als der Dicke auf die Schnelle noch mal indiskret einen fahren ließ, was die Gesellschaft mit einem gepflegten Räuspern quittierte.

Fachgetreu klappte Theo den Tastaturdeckel zurück und brachte seine Haare in Unordnung, wobei er sich ins Kreuz warf. Langsam krempelte er die Ärmel seines karierten Hemdes auf, zog seine Lederfäustlinge an und blickte gelassen in die Runde. Selbstsicher wandte er sich danach wieder dem Flügel zu, um den es sich zu kümmern galt. Seine Hand plumpste auf das schwarzweiße Brett.

Alles erschrak, und der schüchterne Frikadellenfresser verdrückte sich in Richtung Toilette.

Knapp zwanzig Ohrenpaare warteten auf Theos Spezial-Therapie, die Mozart einst A La Turka nannte und aus der er A La Turkey formte, ein als Alle meine Entchen bekannt gewordenes Liedgut volkstümlicher Zunge. Aber bitte mit Stil!

»Ich bitte um äußerste Ruhe, meine sehr verehrten Damen und Herren! Und darum, das Blähen jetzt langsam einzustellen. Danke!« Theo verbeugte sich und nickte dem kopfscheuen Publikum freundlich zu. Die Einzige, die zaghaft applaudierte, war Frau Zothelmann.

Theo zauberte weiter, bevor die Hysterie überschwappen konnte. Er versuchte, alle seine Entchen möglichst falsch zu spielen, was sich als schwierig erwies. Dennoch gelang es ihm, die Zuhörer in seinen Bann zu schlagen. Die wiederum wichen keinen Meter vom Pianisten zurück und genossen offensichtlich dieses Intermezzo. Die Masse Gast versuchte sogar, sich einen Takt zu erklatschen, den sie sich aus einer Fernsehshow mit Peter Frankenfeld geborgt hatte, doch wo er da passte, passte er hier nicht. Nach einigen Sekunden gaben sie auf, wohl wissend, dass Alle meine Entchen inzwischen einer offenherzigen Version von Alle meine Klavierstunden gewichen war.

Um den Zenit seiner musikalischen Entwicklung zu dokumentieren, schob Theo zielsicher ein paar Takte Around And Around von den Stones ein. Es klang zwar ein wenig nach Drunter And Drüber, aber für einen Erstversuch stimmte es ihn irgendwie optimistisch. Seine Version hatte Schmackes.

Zum Finale ließ er speziell die Tasten tanzen, an die er sich sonst nicht herangetraut hatte. Das waren die mit den ganz hohen Tönen, die sogar noch gut klingen, wenn man sie mit dem Ellenbogen verhaut.

Plötzlich, nach nur sechs wilden Ritten über die Tastatur, schlug sein Vater den Deckel zu. »Schluss jetzt!«, brüllte er in Theos rechtes Ohr.

Tosender Applaus.

»Danke«, floss es ergriffen von den Lippen des Virtuosen. Er verbeugte sich dreimal und bereitete seinen Abgang vor. »Schönen Tach noch! Und immer daran denken: Die Stones rocken – nicht Peter Kraus!«

Eines war ihm klar: Im nächsten Jahr würden sie ihn hier nicht mehr auftreten lassen.

Die Stones sind wir selber

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