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Der Duft von heißem Kakao

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Es war bereits dunkel geworden. Mateo und ich waren fast fertig mit dem Einsortieren der Rettungswesten in die großen roten Säcke aus reißfestem Kunststoff. Wie meistens half uns Lucia bei dieser eintönigen Prozedur, die wir nach jeder Bootsrettung hinter uns bringen mussten: Schwimmwesten nach Größen sortieren, zusammenfalten und in eine bestimmte Reihenfolge in die riesigen Taschen legen. Denn wenn beim nächsten Einsatz wieder die Rettungswesten verteilt werden mussten, war Eile angesagt. Gleich würden wir die schweren Säcke an den vorgesehenen Platz auf dem Deck wuchten, und dann blieb die hoffentlich letzte Aufgabe für heute – den Motor mit Süßwasser durchspülen und schauen, ob genug Druck in den Schläuchen ist. Danach nur noch das Boot auftanken, und fertig.

»Hey, Leute«, sagte Lucia. »Habt ihr Lust auf eine heiße Schokolade? Ich kann schon mal eine kochen gehen.«

»Hipp, hipp, hurra!«, klatschte Mateo wie ein Kind in die Hände und wirbelte Lucia durch die Luft. Die beiden waren wirklich ein tolles Paar. Zwei, die sich liebten, die gleichen Ideale teilten und dafür auch die gleichen Strapazen auf sich nahmen, denn sie waren nicht zum ersten Mal zusammen auf einer Rettungsmission.

Als Mateo und ich nach getaner Arbeit in die Schiffsmesse kamen, duftete es schon nach heißem Kakao und nach etwas lecker Gebratenem dazu.

»Santa Maria!«, rief Mateo, »Churros! Ich liebe diese Teile!«

Während wir uns auf die Eckbank um einen der Tische gruppierten, kamen andere aus der Crew dazu. Der Duft von gebratenem Gebäck mit Kakao hatte eine magische Anziehungskraft nach dem anstrengenden Tag. Als Lucia den Teller mit den heißen, vor Fett triefenden Teilchen hervorzauberte, jubelten alle. Besonders laut war Ötzi:

»Wieso kann Lucia so gute Churros machen? Ich dachte, Churros kommen aus Spanien und nicht aus Portugal.«

»Und ich dachte, dass alle Ötzis eher aus den italienischen Alpen und nicht aus Österreich stammen?«, konterte Mateo.

»Der war gut«, sagte Ötzi. »Jetzt kapiere ich endlich, warum ich so gut Italienisch kann, obwohl ich es nie gelernt habe!«, und alle lachten mit.

Mir gefiel das, nach diesem anstrengenden Tag zusammen mit diesen sympathischen jungen Menschen hier herumzualbern. Vor drei Tagen wusste ich nicht mal, dass es sie gab, und jetzt freute ich mich auf all die Gespräche, die wir führen würden, und auf all die schwierigen Situationen, die wir zusammen meistern würden. Die heiße Schokolade mit den knusprigen, heißen Kringeln dazu schmeckte mir fast so gut wie der Kakao bei uns im Schwarzwald.

In solchen Momenten musste ich an den Schluchsee und die Seglergemeinschaft denken und natürlich an die Erfahrungen aus meiner Schulzeit.

An den Wochenenden zog es mich immer öfter an den See hoch in den Schwarzwald, wo ich mich in der Gruppe »Jung & Alt« sehr wohl fühlte. Dort, bei den Seglern, durfte man das ausleben, was in den Schulen meistens nicht sein durfte: anders sein, »ich selbst sein«, nicht mit dem Strom schwimmen. Unten in der Stadt fiel es mir nicht leicht, mich in die Gemeinschaft einzufügen: Ich tat mich schwer damit, Abend für Abend feiern zu gehen und Alkohol zu trinken, wie dies viele meiner Klassenkameraden taten. Oder dauernd darüber zu reden, wer mit wem was hat oder wer was auf Instagram oder Facebook gepostet hat. Irgendwie war ich nicht konform und eckte daher auch immer wieder an. Ich wollte in der Natur sein, mit Menschen, die einen so nehmen, wie man ist, zusammen Spaß haben, aber auch gemeinsam Ziele erreichen. Ich hatte Lust, Dinge zu lernen und Dinge zu erschaffen. Ich konnte und kann mich nicht damit abfinden, nur vor mich hin zu träumen. Wenn man von Sachen schwärmt, die man gut findet, muss man dann nicht alles daransetzen, um sie zu verwirklichen?

Wenn ich im Nachhinein meine Schulzeit reflektiere, sehe ich mich durch alle Jahre und Schulen hindurch die gleiche Frage mit mir herumtragen: Bin ich anders, und wenn ja – wie? Heute bin ich überzeugt davon, dass es eine Art Stärke war, eine Art individueller, kreativer »Tatendrang«, die ich damals noch nicht fassen konnte – es unterschied mich einfach von vielen meiner Altersgenossen. Ich hatte auf jeden Fall nach einer gewissen Zeit auf jeder Schule das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören. Wohl auch ein Grund, warum ich immer öfter in den Schwarzwald »flüchtete«, in die Gemeinschaft der Seglerinnen. Im Seglerheim, mit seinem muffig alten Holzgeruch, mit dem Ausblick aufs dunkle Wasser des Schluchsees, umrandet von den sanften Hügeln aus Tannenwipfeln – dort fühlte ich mich geborgen und willkommen.

Der Seglerhof war von außen mit Holzschindeln verkleidet, hatte ein breites, beschützendes Dach und kleine Fenster, unter denen große Blumenkästen hingen, die jedes Jahr mit roten Geranien bepflanzt werden. Vor der Tür stand eine lange, mächtige Bank, vor deren Füßen sich ein großes, buntes Staudenbeet erstreckte. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte und durch eines der Fenster hineinlugte, fiel der erste Blick auf den riesigen, grünen Schwarzwald-Kachelofen, um den sich mehrere Tische gruppierten. Das Schönste war aber die hölzerne Sitzbank, die den Kachelofen umrundete, damit man sich den Rücken daran wärmen konnte. Wenn wir, durchgefroren von Wind und Wetter, in die warme Stube traten, wussten wir genau, dass wir auf dieser Bank sitzen und unseren Kakao trinken würden. Denn die liebevolle Wirtin vom Seglerhof hatte immer einen dampfenden Kakao mit ganz viel Sahne für uns bereit. Und stets ein offenes Ohr für unsere Sorgen, Gedanken und Wünsche.

Wenn ich nach einem schönen Wochenende oben am See wieder mit dem roten Zug, unserer »Höllentalbahn«, zurück nach Freiburg fuhr, freute ich mich natürlich auf meine Familie. Ich wusste, dass noch etwas zu essen auf dem Herd stand, wenn ich abends heimkam, dass man sich auf mich freute und wir noch eine Weile zusammen am Tisch sitzen und erzählen würden. Aber danach kam schon wieder Montag, und mit ihm das altbekannte Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören.

Schon in der Grundschule und vor allem auf dem Gymnasium hatte ich meine Schwierigkeiten mit der Gruppendynamik in den Mädchencliquen: Wer war mit wem befreundet, wer stritt mit wem aus welchem banalen Grund, wer stand auf welcher Seite? Oft versuchte ich zu vermitteln und saß daher meistens »zwischen den Stühlen«.

Ich hatte mit den Mädels echt viele schöne Zeiten, ich fand auch gute Freundinnen, aber je mehr ich mich dem Segeln widmete, desto weniger passte ich in die Gruppe.

Heute würde ich sagen, dass das Segeln mich geformt hat und mir geholfen hat, mich zu finden. Dadurch, dass ich immer intensiver segelte, eine Trainerlizenz machte und auch noch mit dem Regatta-Segeln anfing, bekam ich viele Schulbefreiungen. Ich entschloss mich dazu, das Abitur nicht in zwei, sondern in drei Jahren zu machen. Nach der zehnten Klasse wechselte ich auf ein sozialwissenschaftliches Gymnasium. Das war für mich nicht nur ein Tapetenwechsel, ich hatte auch mehr Zeit zum Segeln und belegte Fächer, die mich wirklich interessierten. Da ich jetzt auch als Trainerin tätig war, fand ich Psychologie und Pädagogik sehr spannend, und so wurden das auch meine Hauptfächer.

Dieser sozialwissenschaftliche Schwerpunkt war prägend für meine weitere Entwicklung, und ich habe davon viel profitiert: Ich habe ein stärkeres Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit entwickelt und dafür, wie wichtig Bildung ist. Auf diesem Gymnasium habe ich begriffen, warum das physische und psychische Wohlbefinden jedes Einzelnen für das Gemeinwohl unerlässlich sind. Gleichzeitig wurde mir klarer, dass jedes Handeln, auch das, was als »schlecht« bewertet wird, tief im Inneren jedes Menschen einen Grund hat.

Mit dieser Schulwahl hatte ich unbewusst eine Tradition in meiner Familie weitergeführt: Sowohl meine Großeltern mütterlicherseits als auch meine Eltern selbst haben soziale Berufe gewählt, die sie begeistert ausübten beziehungsweise noch ausüben.

Dass mein Großvater beruflich mit ehemaligen Gefangenen zu tun hatte, die er bei ihrer »Resozialisierung« begleitete, beeindruckte mich als Kind sehr. Allein durch seine wertschätzende Art, wie er von den Kontakten mit den gefürchteten »Verbrechern« berichtete, lernte ich, dass das reale Leben komplizierter ist, als manche Massenmedien es darstellen.

Auch meine Eltern brachten ihre besonderen beruflichen Themen mit nach Hause. Dadurch, dass sie täglich mit psychisch labilen und psychisch kranken Menschen zu tun haben, begriff ich früh, dass es zum Leben dazugehört, dass Menschen in psychische Krisen geraten oder psychisch schwer erkranken können.

Ich kann mich an zahllose Situationen erinnern, in denen ich mit meinem Vater und meiner Mutter zusammensaß und diskutierte, aber auf eine Art und Weise, die weiter ging als das übliche »Wie war es heute der Schule?« oder »Wohin geht es nächsten Sommer in den Urlaub?«. Wir tauschten uns intensiv über unseren Alltag und unsere Aufgaben aus, aber wir Kinder wurden auch ermutigt, von unseren Träumen und Zielen zu erzählen und davon, wie wir diese Ziele in die Tat umsetzen wollten.

Würde ich jetzt hier auf der Iuventa Kakao trinken mit diesen Idealisten aus den verschiedensten Ländern Europas, wenn ich eine andere Familie, eine andere Vorgeschichte gehabt hätte?

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