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Ein Tag wie jeder andere

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Der Tag meiner Abreise war ein gewöhnlicher Sommertag. Von 7 bis 16 Uhr würde ich in der Werft mein Tagespensum verrichten, danach meinen Arbeitsplatz aufräumen, so gut es ging, damit mein Ausbilder in den Wochen meiner Abwesenheit nichts weiter zu bemängeln hatte. Dann würde ich zu meiner Wohnung zurückradeln, Gepäck überprüfen, meine Checkliste durchgehen und dann den Nachtbus nehmen, denn der Flieger nach Malta flog von München ab. Es war fast wie in den Urlaub fahren, nur dass mich kein Strand unter Palmen erwartete, sondern mein erster Einsatz auf einem Such- und Rettungsschiff vor der libyschen Küste.

Es war zwar ein Tag wie jeder andere, und dennoch kann ich mich an vieles erinnern. Morgens radelte ich in meinem alten T-Shirt und meiner mit Farbflecken übersäten kurzen Arbeitshose den Berg hinunter zur Bootswerft und versuchte, den kalten Fahrtwind zu genießen, denn ich wusste: Heute werde ich noch genug bei der Arbeit schwitzen. Meine Füße steckten in viel zu klobigen, mit Stahlkappen versehenen Arbeitsschuhen, die die Pedale komplett bedeckten. Mein gutes, altes Fahrrad! Man konnte die Farbe des Rahmens nur noch an den vereinzelten Lackspuren erkennen, trotzdem hatte es mir bis heute treue Dienste geleistet!

Meine Arbeitshose, blau wie das Meer, das ich bald sehen würde, hatte offene, riesengroße Taschen, in denen jede Menge Krimskrams steckte, wie mein Bleistift und ein Meterstab. Jedes Mal, wenn sich beim Treten die Knie nach oben bewegten, musste ich aufpassen, dass nichts aus den Seitentaschen rutschte.

Auf meinem Rücken trug ich meinen Rucksack, mit etwas Holzstaub bedeckt. Darin klapperten wie immer meine Wasserflasche aus Edelstahl und meine zwei Tupperdosen aus Glas. Die kleinere Dose war mit Müsli gefüllt, die größere mit dem Mittagessen, das ich mir meistens am Vorabend kochte, damit ich morgens pünktlich zur Arbeit kam. Mein »Vogelfutter«, wie es wegen der vielen Körner und Nüsse von einigen Kollegen betitelt wurde, wurde gern belächelt. Offenbar hatte eine angehende Bootsbauerin vorwiegend »Fleischkäs-Weckle« zu essen! Ob man auf der Iuventa überhaupt Frühstückspausen haben würde? Vorsichtshalber hatte ich schon eine Packung »Bircher Müsli« in meinen Seesack gesteckt. Hoffentlich gab es auf dem Schiff ein paar Veganer oder mindestens Vegetarier, denn ich nahm meinen Kaffee und mein Müsli mit Hafer- oder Reismilch, was von den Kollegen kritisch beäugt wurde. Am Tag meiner Abreise ahnte ich nicht, dass mein Chef mich ein Jahr später fragen würde: »Zoe, darf ich etwas von deiner Hafermilch in meinen Kaffee tun?«

Die letzte Kurve vor der Werft war immer die heikelste, weil sie viel zu eng war und voller kleiner Steinchen, auf denen man leicht ausrutschen konnte. An dem »Fahrradfahrer-bitte-absteigen!«-Schild fuhr ich meistens so schnell vorbei, dass ich es gar nicht lesen konnte – vor allem weil es anscheinend nicht an mich gerichtet war: Denn ich war eine Fahrradfahrerin und kein Fahrradfahrer. Genauso wenig war die Bezeichnung »Landesberufsschule für Bootsbauer« in Lübeck-Travemünde auf mich als Frau zugeschnitten, was mich nicht davon abhielt, diese knochenharte Ausbildung auf mich zu nehmen und diese Berufsschule zu besuchen.

Ich fuhr weiter auf einem geteerten Weg, im Winter umsäumt von Schiffen, jetzt im Sommer umgeben von Wiesen mit einzelnen Bootstrailern darauf. Der Weg endete vor den blaugrauen Toren der Werft und des Winterlagers. Unter dem Dach sah man die Fenster mit ihren zersprungenen Scheiben, die notdürftig mit Folie zugeklebt waren. Der Lack der Hallen platzte ab, und in den Rissen des Asphalts kämpfte sich das eine oder andere Blümchen in Richtung Himmel. Ja, die Gebäude waren definitiv in die Jahre gekommen, aber hatten dadurch einen besonderen Charme. Vor allem weil man wusste, dass sich dahinter die wunderschönsten Boote befanden.

Ich stellte mein Fahrrad vor dem Büro ab und öffnete mit einem starken Ruck die alte Holztür zur Halle. Sofort strömte einem der heimelige Geruch nach Holz und Leim entgegen, der aber auch nach Arbeit, Kreativität und »etwas mit den eigenen Händen erschaffen« roch. Wie es wohl auf der Iuventa, einem ehemaligen Fischkutter, riechen würde?

Schnell lief ich weiter zur großen Stempeluhr vor dem Pausenraum und drückte den Hebel nach unten. Das laute Klacken durchbrach die Stille in der Arbeitshalle: Ich war wie immer pünktlich. Ich stellte meinen Rucksack in meinen Spind ab und lief zu meiner Baustelle, also dem Schiff, an dem ich gerade arbeitete. Der Chef war noch nicht da, also konnte ich es etwas ruhiger angehen.

Langsam trödelten auch die anderen Azubis ein, aber wo blieb Hannah, meine Lieblingskollegin und sehr gute Freundin? Wir waren drei Mädels von insgesamt sieben Auszubildenden. Das war relativ viel für eine deutsche Werft – in der Berufsschule hatten wir dagegen eine Frauenquote von nur 11 Prozent. Hannah war die Einzige aus dem Team, die seit Monaten in meine Pläne eingeweiht war und mitfieberte, ob und wann mein Rettungseinsatz losgehen würde. Und ob ich überhaupt drei Wochen am Stück freibekam. Hoffentlich war Hannah nicht krank geworden, ich wollte mich doch gerne von ihr verabschieden. Zwar wussten mittlerweile auch die anderen Kollegen und der Chef, wo ich meinen »Urlaub« verbringen würde, aber ich war zurückhaltend bei diesem Thema. Meine Intuition warnte mich, nicht zu großzügig von der bevorstehenden Mission zu erzählen. Ich hatte in den letzten Wochen den einen oder anderen skeptischen Kommentar mitbekommen müssen und wollte mir im letzten Moment nicht den Wind aus den Segeln nehmen lassen. Sogar meinen Großeltern, zu denen ich einen engen Kontakt habe, hatte ich verschwiegen, wohin meine Reise ging. Ich hoffte, dass meine Eltern und mein Bruder sich nicht verplapperten, denn ich wollte Oma und Opa nicht unnötig beunruhigen. Schließlich mussten sie zum Ende des Zweiten Weltkriegs selbst fliehen und waren schnell aufgewühlt von allem, was das Thema »Flucht« betraf. Aber tief in mir wusste ich, dass sie es gutheißen würden, wenn ich ihnen später davon erzählen würde.

Das Schiff, an dem ich arbeitete, stand rechts hinten am Fenster, aufgebockt auf einem Metallgestell und umrundet von einem Gerüst aus hohen Böcken mit daran befestigten Brettern. Auf diesen Brettern stand ich oft, während ich am Boot arbeitete. Das war ein Projekt, mit dem ich immer wieder zu tun hatte: Gerade half ich dem Meister, ein Teakdeck zu legen. Es war ein bisschen wie ein Puzzle: Man musste die Teakstäbe so aneinanderlegen, dass alle Fugen gleich breit wurden. Eingerahmt wurde es innen durch die Leibhölzer und außen durch das Schandeck, beides aus lackiertem Mahagoni. Die einzelnen Stäbe liefen vorne am Bug zusammen, in einem sogenannten »Fisch«, auch aus Mahagoni – das Ganze ähnelte im weitesten Sinne einem Fischskelett. Für mich als Veganerin sah der Fisch eher wie ein Tannenbaum aus. Egal ob Fisch oder Tannenbaum: Man brauchte viel Präzision und Geduld, um ein gleichmäßiges Bild hinzubekommen.

Nein, diese Ausbildung war beileibe kein Zuckerschlecken, trotzdem spürte ich einen Stich im Herzen bei der Vorstellung, drei Wochen lang diese Boote nicht zu sehen, nicht zu erleben, welche Verwandlung sie durchmachten. Denn jeder Arbeitsschritt ist etwas Besonderes, jeder Fortschritt ist wichtig für ein schönes, seetaugliches Boot.

Ich trug gerade eine Leimschicht auf, als jemand von unten an das Gerüst klopfte. Es war Hannah.

»Hi! Ich habe dir etwas zum Abschied mitgebracht. Kriegst du in der Pause.« Ihre frechen, kräuseligen Haare sahen von oben noch wilder aus als sonst, und obwohl sie spät dran war, wirkte sie zufrieden. Jetzt war ich neugierig, was sie mir gebastelt hatte, aber vor allem war ich froh, dass ich während meiner letzten Frühstückspause eine vertraute Person an meiner Seite haben würde. Denn wer weiß, was für Kommentare vom Chef oder von den anderen noch kommen würden.

Mein Ausbilder hielt sich zum Glück mit schlauen Sprüchen zurück. »Was du in deiner freien Zeit machst, soll mir egal sein. Hauptsache, du erholst dich dabei!«, sagte er nur beim Abschied.

Dafür gab mir Marten, mit dem ich mich ansonsten ganz gut verstand, etwas mit auf dem Weg. Nach dem Kaffeetrinken nachmittags, als wir unsere Becher abspülten, flüsterte er mir zu: »Äh, Zoe, dir ist schon bewusst, dass du dort Leichen sehen könntest?«

»Ja, ich habe schon mal davon gehört!«, versuchte ich witzig zu sein.

Innerlich kochte ich jedoch. Wieso dachten einige Menschen, dass man sich völlig ahnungslos und aus lauter Abenteuerlust auf eine Rettungsmission begibt? Und dass auf uns freiwillige Seenotretter die lukrativsten Geschäfte mit den fiesesten Menschenschleppern warten?

Umso mehr freute ich mich über die Musik, die mir Hannah auf einen USB-Stick kopiert hatte und die ich schon während des Radelns nach Hause zu hören begann. Es hatte sie bestimmt Stunden gekostet, die ganzen Songs daraufzuziehen, vielleicht war sie deswegen heute zu spät zur Arbeit gekommen. Der USB-Stick selbst war umhüllt von einem gefilzten roten Etui. Hannah wusste, dass ich Rot mag! Ich hatte offenbar hier auf der Werft eine echte Freundin gewonnen. Was ich wohl für neue Menschen auf der Iuventa kennenlernen würde? An meine sehr wahrscheinlich bevorstehende Begegnung mit dem Tod versuchte ich lieber nicht zu denken.

Zoe heißt Leben

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