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Einsatz für Lilly

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Um »Lilly« zu Wasser zu lassen, brauchte man mehrere starke Hände, aber jetzt, wo sie unten im Meer schaukelte, wirkte sie recht klein. Da war es, unser Festrumpf-Schlauchboot – auch ein Rhib, aber kleiner als das große Iuventa-Rettungsboot, höchstens zweieinhalb Meter lang –, das ich in den nächsten Wochen steuern würde. Möge es uns gut durch das Mittelmeer führen!

Mein Bootspartner Mateo sprang als Erster darauf. Ich blieb auf dem tiefen Austritt der Iuventa kurz stehen und beobachtete, wie der Wasserspalt zwischen unserer Lilly und dem Schiff mal kleiner, mal größer wurde und wie das zierliche Boot an die Außenhaut der großen Iuventa klatschte – ein Spiel der Wellen.

»Brauchst du Hilfe?«, rief Mateo mit seinem weichen portugiesischen Akzent. Er dachte wahrscheinlich, dass ich Angst habe. Instinktiv streckte er die Hand aus, um mir zu helfen, zog sie aber schnell zurück. Schließlich war ich die Bootsführerin, auch wenn ich die Jüngste an Bord des Rettungsschiffes war.

»Passt schon!«, rief ich und sprang flink auf die Lilly.

Wir hatten bisher keine Zeit gehabt, groß miteinander zu reden. Er konnte nicht wissen, dass ich jahrelang Regatta gesegelt und wie ein Äffchen an den Masten gehangen habe. Mateo hob den Tank an, dieser war, wie erhofft, voll befüllt. Von nun an würde es seine Aufgabe sein, nach dem Benzin zu schauen. Und für gute Laune zu sorgen – auch inmitten der größten Anspannung!

Bei der Rettung des Holzbootes wurden wir kaum benötigt, aber nun kamen per Funk die Anweisungen für den nächsten Rettungseinsatz. Also durfte ich endlich Gas geben.

»Hilfe!«, rief Mateo und hielt sich demonstrativ und zugleich schmunzelnd mit beiden Händen am Bug fest. Er wusste offenbar, wie viel Power selbst so ein kleines Rhib hat. Obwohl ich ein derart kleines, aber schnittiges Motorboot zum ersten Mal steuerte, glitt ich ohne Scheu übers Wasser. Lilly hob und senkte den Bug wie ein verspieltes Pferd, das seinen neuen Reiter herausfordert. Wir bekamen von unserem Einsatzleiter auf der Brücke der Iuventa per Funk die Anweisung, die sogenannten Centifloats, zwei lange orange Schwimmkörper, die in etwa so lang wie ein großes Flüchtlingsschlauchboot waren, an die Lilly anzuhängen. Ich fuhr im Halbkreis zurück zur Iuventa und wartete ab, bis Lena mit Hilfe von ein paar anderen Crew-Mitgliedern die Centifloats von der Reling löste und ins Wasser warf. Dann fuhr ich zu den nun im Wasser schwimmenden Schläuchen und hängte sie mit Hilfe eines Karabiners in das Abschleppseil der Lilly. Mateo funkte der Brücke der Iuventa zu, dass wir nun zum Ziel unterwegs seien. Er sprach ein wirklich gutes Englisch, viel besser als meins. Er rief mir die Position unseres Ziels zu – und mittlerweile sah man tatsächlich einen kleinen Punkt am Horizont.

Auf diesen Punkt bewegte sich auch das große Rhib der Iuventa zu, das die roten Säcke, die sogenannten Bags, mit den Schwimmwesten transportierte, die gleich verteilt werden mussten, so schnell wie möglich.

Erst jetzt nahm ich die Aussicht wahr. Mittlerweile hatte die Sonne den Dunstschleier durchbrochen und tauchte das Meer in ein oranges Licht. Es gibt keine Worte dafür, wie es sich anfühlt, über das glänzende Wasser zu fahren, das in den Morgenstunden so friedlich und wunderschön aussieht. Wenn man allerdings ohne Navigationsgeräte unterwegs ist und seinen Bestimmungsort nicht erreichen kann, wenn man nicht genug zum Trinken und Essen dabeihat und in völlig überfüllten, seeuntauglichen Booten zusammengepfercht ist – dann verwandelt sich diese friedliche Kulisse in eine Todesfalle. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Luft aus den Schlauchbooten entweicht oder deren Boden durchbricht. Vielleicht kamen wir bei diesem Boot rechtzeitig an – vielleicht auch nicht. Noch wussten wir nicht, ob ein altes Holzschiff vor uns trieb oder ein heruntergekommenes Schlauchboot. Wir ahnten nur, dass tief unter uns Tausende Leichen lagen – verschluckt von genau diesem Meer, ohne dass jemand es mitbekommen hat.

Der kleine schwarze Punkt wurde immer größer. Wir gaben per Funk der Brücke Bescheid, dass wir gleich am Ziel waren, auf Englisch »target« – ein merkwürdiger Fachausdruck. Beim Militär werden die Ziele, die zum Abschießen freigegeben werden, auch »target« genannt.

Der schwarze Fleck auf dem Wasser war immer deutlicher zu erkennen – oben eine schwarze Masse, unten ein dünner Strich helles Gummi – ein Schlauchboot also. Die dunklen Köpfe hoben sich allmählich von der Umgebung ab – ich hatte ja schon viele Bilder von solchen Booten gesehen, aber jetzt in der Realität sah das komplett unwirklich aus. Dieses irreale Gefühl kam in mir jedes Mal auf, wenn wir uns einem überfüllten, seeuntüchtigen Boot näherten. So viele Menschen auf engstem Raum, mitten auf diesem endlosen Meer!

Hunderte Augen fixierten uns, als wir auf das Boot zufuhren. Es war ganz still – man hörte nur die Wellen gegen den Rumpf schlagen. Wir mussten uns beeilen. Mussten so schnell wie möglich Schwimmwesten austeilen und aufpassen, dass keine Panik ausbrach. Denn das wäre fatal, die Menschen könnten ins Wasser rutschen. Und es hieß, dass die meisten nicht schwimmen können, wir würden es wahrscheinlich nicht schaffen, alle rechtzeitig zu erreichen und herauszuziehen.

Mittlerweile hatte das große Rhib das Heck des Schlauchboots erreicht, und unsere Kontaktperson, Sophie, rief laut und deutlich »Hallo!« und dass wir gekommen wären, um ihnen zu helfen. Ganz wichtig war immer die Information, dass wir von einem europäischen Schiff kamen. Man musste den Leuten vor allem klarmachen, dass wir nicht zur sogenannten »Libyschen Küstenwache« gehörten. Denn bevor die Geflüchteten sich in ein Land zurückschicken ließen, in dem sie gefoltert und versklavt werden, sprangen manche lieber ins Meer.

Während Sophie sprach, erfüllten Mateo und ich unseren Auftrag: die Sicherung des zu rettenden Bootes. Wir sollten alle Passagiere aufmerksam im Blick behalten und sofort handeln, falls einer ins Wasser rutschte oder Unruhe entstand. Gleichzeitig mussten wir unsere »Centifloats« möglichst dicht in die Nähe des Schlauchbootes bringen – für den Fall der Fälle. Wenn das sogenannte »Shuttlen« begann, mussten wir so lange die Lage bewachen, bis auch der letzte Bootsinsasse auf die Iuventa gebracht wurde oder gegebenenfalls auf ein anderes Schiff.

Wie sollte ein von den Strapazen der Flucht ausgelaugter Flüchtling oder ein Kind die Kraft aufbringen, sich im Wasser an den Haltegriffen der Centifloats festzuhalten?, fragte ich mich besorgt. Und was war mit den Babys?

Sophie sprach langsam und deutlich, obwohl sie aus Irland kam. Sie gab sich richtig Mühe, verständlich Englisch zu reden. Mittlerweile hatte sich im Boot ein junger Mann gefunden, der einigermaßen Englisch sprach und übersetzen konnte. Es war enorm wichtig, nur einen Ansprechpartner auf den Booten zu haben, um Aufregung und Stimmengewirr zu vermeiden. Sophie fragte, wie viele Frauen und Kinder an Bord seien und ob es schon Tote oder Schwerverletzte gab. Die Antwort wurde sofort an die Iuventa-Brücke weitergeleitet, damit die Crew an Deck sich vorbereiten konnte. Sophie erklärte, wie man eine Schwimmweste anzog, und fing anschließend an, so schnell sie konnte, Rettungswesten aus den großen roten Bags hervorzuholen und auszuteilen.

Ich hatte es inzwischen geschafft, die langen Centifloats parallel zum Flüchtlingsboot zu positionieren, jetzt scannten meine Augen das Schlauchboot ab. Es war höchstens zehn Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Unter normalen Umständen würden damit nur wenige Leute fahren dürfen. Hier quetschten sich über hundert Menschen dicht aneinander. Würden sie alle ins Wasser fallen, wüsste ich nicht, ob die Centifloats für alle reichen würden. Ich zählte schnell durch: 120 Personen – es waren so viele wie fünf Schulklassen, eine ganze Jahrgangsstufe auf meiner alten Schule.

Kurz vor meiner Geburt hatten sich meine Eltern auf zwei Vornamen geeinigt: Am liebsten hätten sie mich Katharina genannt, wie Katharina die Große und Starke. Aber das Mädchen, das an einem Julitag etwas zu früh den Bauch seiner Mama verließ, war zu schmächtig und zart für diesen mächtigen Vornamen. Also wurde ich Zoe genannt, griechisch für »Leben«.

Nun stand ich breitbeinig auf diesem schaukelnden Motorboot mitten im Mittelmeer, kurz vor meinem 21. Geburtstag, und sicherte Schlauchboote von in Not geratenen Menschen. Was mich wohl in den kommenden Tagen noch erwartete?

Bis ein Boot mit achtzig oder hundert Insassen fertig »geshuttlet« ist, können bis zu zwei Stunden vergehen. Doch während meiner ersten Einsätze verging die Zeit wie im Flug. Als die letzte Fuhre mit Geretteten Kurs auf die Iuventa nahm, rief mir Mateo etwas zu, was ich nicht sofort verstand.

»Zeit zum Trinken!«, wiederholte er, öffnete weit den Mund und setzte als ein Zeichen den Daumen an. Er erinnerte mich, dass wir Flüssigkeit zu uns nehmen sollten, wie aufmerksam von ihm! Bei den Vorbereitungstrainings wurden wir ausdrücklich gewarnt, weder zu trinken oder zu essen, wenn die Flüchtlinge auf den Booten saßen und uns sehen konnten – aus Rücksicht, aber auch zur eigenen Sicherheit. Erst jetzt merkte ich, wie aufgeheizt mein Helm und wie ausgetrocknet meine Kehle war. Die Sonne hatte richtig Power, obwohl es nicht mal 10 Uhr morgens war.

»Gute Idee, das mit dem Trinken!«, rief ich zurück und hob ebenfalls meinen Daumen zum Mund. Wir holten jeder unsere Wasserflasche aus dem wasserdichten Rucksack, den man stets bei sich hatte.

Wie oft wir uns das Trink-Zeichen an diesem Tag noch gaben, kann ich nicht sagen. Irgendwann hört man auf, die Einsätze zu zählen. Wir hatten reichlich zu tun, sowohl an diesem ersten Tag wie auch in den verbleibenden zweieinhalb Wochen, in denen Tausende Flüchtende gerettet werden konnten, bevor sie von anderen Schiffen an einen sicheren europäischen Hafen gebracht wurden.

So jedenfalls sah unsere Hoffnung aus.

Zoe heißt Leben

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