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Couscous und Gummibärchen

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Meine Kabine lag auf dem untersten Deck, tief im Bauch der Iuventa, neben dem Maschinenraum. Obwohl ich keine Platzangst habe, reiße ich mich nicht darum, in einem fensterlosen Raum zu übernachten. Aber an diesem langen Tag, nachdem wir gefühlt über zehn Boote gerettet hatten, genoss ich es, in der stillen und dunklen Kammer meine Beine auszustrecken. Mateo und ich durften eine Pause einlegen, bevor der nächste Rettungsalarm losging. Denn die Sonne war noch lange nicht untergegangen.

Ich musste eingedöst sein, als mich ein sanftes Klopfen auf die Schulter weckte. Es war Lena: »Wir brauchen ein paar helfende Hände in der Küche.«

Wahrscheinlich war das Rhib noch dabei, die Geretteten auf andere Schiffe zu verteilen. Ich rechnete damit, dass wir für höchstens dreißig bis vierzig Übriggebliebene Essen zubereiten mussten.

Als ich auf das offene Deck hinaustrat, wurde ich vom Sonnenuntergang geblendet. Ich blinzelte – erst beim zweiten Hin­sehen begriff ich, dass es die golden schimmernden Rettungsdecken waren, die das Licht reflektierten. Wohin mein Blick auch reichte – Körper neben Körper auf dem nackten Deck, notdürftig gewärmt von den glänzenden Rettungsfolien.

Die Hitze hatte abgenommen und eine auffrischende Abendbrise wehte mir entgegen. Hatte ich so lange geschlafen, dass noch mehr Boote gerettet wurden, und zwar ohne die Lilly? Wieso waren hier so viele Menschen?

»Sind viele neue Flüchtlinge dazugekommen?«, fragte ich Lena.

»Nein, sieht nur so aus. Es haben sich noch keine Schiffe gemeldet, die unsere Leute nehmen können. Erst wenn unsere Schiffsgäste länger als ein paar Stunden bei uns an Bord bleiben, müssen wir kochen. Alles andere wäre viel zu aufwendig. Wir sind nur ein Erstversorgungsschiff.« Es gefiel mir, dass Lena die geretteten Flüchtlinge als Schiffsgäste bezeichnete. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass ich auch nach zwei Tagen auf der Iuventa immer noch nicht wusste, dass jeder Mensch, der in friedlicher Absicht unser Schiff betritt, den Status eines Gastes hat. In Deutschland war nur der Begriff »Flüchtling« geläufig, fast wie in Stein gemeißelt wurde er verwendet – ob ich das für mich ändern konnte?

Die Schiffsküche lag ein Stockwerk tiefer als die Brücke, aber auf der gleichen Ebene des Hauptdecks. Um zu ihr zu gelangen, mussten wir einmal das Deck überqueren. Aber wo trat man hin? Überall saßen oder lagen Frauen, Kinder, Männer, erschöpfte Menschen mit ausgestreckten Armen und Beinen, dicht nebeneinander. Lena merkte mein Zögern und flüsterte mir zu: »Komm, ich gehe vor.«

»Hallo! Hi! Wie geht’s euch?«, bahnte sie sich lächelnd den Weg, und siehe da – die Menschen lächelten müde zurück und machten Platz, wir kamen vorwärts. Während ich zwischen abgestützten Händen, nackten Füßen und angewinkelten Beinen balancierte, versuchte ich, irgendein Gesicht wiederzuerkennen. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass mir das nicht gelang. Dabei hatte ich doch bei allen Booten höllisch aufgepasst, dass keiner ertrinkt, und auch beim Umsteigen aufs Schiff habe ich vielen der Personen, die jetzt hier saßen, die Hand hingehalten. Wieso erkannte ich keinen einzigen Gesichtszug? Hatte ich etwa einen eurozentrischen Blick, sahen für mich alle Menschen aus Afrika gleich aus? Das beunruhigte mich.

»Das geht vielen so!«, erklärte mir Lena, als ich ihr beim Kochen davon erzählte. »Das ist eine normale Reaktion. Unser Gehirn ist darauf getrimmt, in extremen Situationen nur das wahrzunehmen, was Vorrang hat. Das ist unsere Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.« Eine plausible Erklärung, die mich entlastete. Man sah, dass meine Mitbewohnerin viel Erfahrung in der freiwilligen Rettungsarbeit hatte. Sobald Zeit wäre, würde ich sie fragen, wo sie schon überall gearbeitet hat. Ich wusste nur, dass sie keine Erfahrung mit Schiffen hatte und dies ihre erste Mission auf der Iuventa war.

Trotz ihrer Erklärung fühlte ich mich unwohl. Ich sah zwar ein, dass es unmöglich war, auf das Gesamtwohl von hundert Schiffbrüchigen zu achten und sich dabei jedes einzelne Gesicht zu merken. Aber es erschreckte mich, dass in der kollektiven Not das Individuelle derart verschwand.

War es damals meiner Oma auch so ergangen, als sie im Herbst 1945 zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus ihrer Heimat fliehen musste? Waren die drei mit ihren geflochtenen Zöpfen und ihrem einzigen Fluchtrucksack ebenfalls in der namenlose Masse der Flüchtlinge untergegangen? Wenn ich wieder in Deutschland war, musste ich sie danach fragen.

Lena hatte in der Zwischenzeit einen großen Pappkarton geöffnet, in dem mindestens zwanzig Packungen Couscous waren. Erst jetzt realisierte ich, dass diese Unmengen an Weizengrieß darauf warteten, von uns zubereitet zu werden. Hatten wir überhaupt so große Töpfe? Und würden wir das alles auf einmal kochen? Später wurde mir klar, warum Couscous auf den Rettungsschiffen so gern zubereitet wird – weil es in diesen Breitengraden ein sehr beliebtes Gericht ist, das schnell satt macht und gut verdaulich ist. Wir wollten den geretteten Menschen wenigstens ein kleines Stück Normalität ermöglichen.

»Servus!«, ertönte hinter uns eine Männerstimme. Das war der Zweite Maschinist, unser Österreicher, der gerade zur rechten Zeit aufgetaucht war, einen großen Emaille-Topf in jeder Hand. Er war in Malta erst kurz vorm Ablegen des Schiffs zur Crew gestoßen, deswegen hatten wir noch keine Gelegenheit gehabt, uns persönlich kennenzulernen.

»Die Töpfe findest du in der Vorratskammer da hinten«, erklärte er mir. »Die holen wir nur an solchen Tagen wie diesem hervor.« Er stellte die Töpfe in die große Spüle, füllte sie mit Wasser und wuchtete sie auf den Herd. »Ich bin übrigens der Ötzi, ja genau, wie der Mann aus dem Eis. Keine Sorge, im Pass steht was anderes. Und du bist?«

»Zoe! Servus!«

»Des is deine erste Mission, oder? Ich bin jetzt das dritte Mal auf der Iuventa.«

Ich mochte seine unkomplizierte, offene Art sofort.

Allmählich lernte ich die einzelnen Leute der Crew kennen, es war eine echte Herausforderung, sich auf die Schnelle so viele neue Namen zu merken.

Wenn man vor dem Herd stand, sah man durch die Bullaugen hinaus. Während ich den Couscous ins kochende Wasser tat, blickte ich auf lauter nackte Füße, die vom Achterdeck herunterbaumelten. Die Füße unserer Gäste. Nach jedem Topf beschlugen aber die Bullaugen mehr und mehr. Über unseren Köpfen befand sich jedoch ein Abzug.

»Können wir nicht den Abzug anmachen?«, fragte ich Lena.

»Nein, wenn Gäste an Bord sind, bleibt der zu. Es ist nicht fair, wenn sie das Essen riechen, sie wissen ja nicht, dass sie gleich etwas bekommen. Wer weiß, wann sie das letzte Mal was gegessen haben.«

Die Pappbecher, in denen der Couscous serviert wurde, waren nicht gerade groß.

»Davon soll man satt werden?«, wunderte ich mich. »Die Leute haben bestimmt riesigen Hunger!«

»Es ist besser, wenn sie erst mal kleinere Mengen Essen zu sich nehmen. Man weiß nicht, wann sie zuletzt was im Magen hatten«, erklärte Lena.

Ötzi, der gerade ein Tablett mit Essen zu unseren Gästen hinaustragen wollte, machte ein gequältes Gesicht:

»Mehr könnte ich auch gar nicht tragen, auch wenn ich der Ötzi bin.« Er tat, als ob er unter der Last der karg befüllten Becher zusammenbrechen würde. Ich freute mich über die Leichtigkeit seiner Sprüche – nahmen sie der Situation doch ein bisschen die Tragik …

In der Küche wurde es immer nebliger und heißer. Als ein Tablett zum Austeilen bereitstand, ergriff ich die Gelegenheit, um an Deck zu gehen, raus aus der stickigen Küchenluft.

Die Treppe hoch, an der Brücke vorbei und dann links, viel weiter kam ich nicht. Das Achterdeck war so überfüllt, dass sich mein Tablett im Nu leerte.

»Ich bin gleich wieder da«, erklärte ich denjenigen, die erwartungsvoll die Hand ausgestreckt hatten und nun leer ausgehen mussten. Die Enttäuschung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, aber keiner murrte auf. Diese Menschen waren Meister­innen des geduldigen Wartens, das beeindruckte mich, da Geduld nicht meine Stärke ist.

Als ich mit einem gefüllten Tablett wiederkam, wurde ich von einem korpulenten Mann mit einem gestreiften T-Shirt aufdringlich nach Essen gefragt. Er saß auf den Knien und reckte beide Hände zu mir hoch. »Ich habe Hunger!«, sagte er immer wieder auf Englisch. Vor seinen Füßen stand aber ein leerer Becher, er hatte schon seine Ration Couscous gehabt.

»Tut mir leid, aber du hast schon etwas bekommen, ich hoffe, es reicht für alle«, antwortete ich ihm.

Er ließ nicht locker. Weiterhin streckte er seine breiten Hände zu mir aus und wiederholte seinen Satz immer lauter. Ich wurde ärgerlich. Dieser Mensch war in einem besseren Zustand als die meisten unserer Gäste. Sah er denn nicht ein, dass andere, die viel schwächer waren, auch Hunger hatten?

»Es geht nicht!«, sagte ich gereizt und ging weiter.

Als alle unserer Gäste versorgt waren, überkam mich plötzlich ein Heißhunger nach etwas Süßem. Ich lief zu meiner Kabine und kam mit einer Tüte Gummibärchen zurück, die ich auch den anderen in der Küche anbot.

»Sind die auch vegan?«, hob Ötzi skeptisch seine rechte Augenbraue.

»Ja, und auch noch sauer, die besten, die es gibt!«, erwiderte ich erfreut. Endlich einer aus der Crew, der sich als Veganer outete.

Während ich die prickelnde Süße auf der Zunge spürte, hatte ich auf einmal ein schlechtes Gewissen. Am liebsten hätte ich die restlichen Gummibärchen draußen an unsere hungrigen Gäste verteilt, aber wo sollte ich anfangen und wo aufhören? Dann fiel mir der korpulente Mann im gestreiften T-Shirt ein. Ich hätte ihm ruhig eine zweite Portion Couscous geben können, wir hatten heute genug Essen. Warum war ich so sauer geworden?, fragte ich mich. Er war offenbar an größere Mengen Nahrung gewöhnt. Aber mir ging es ums Prinzip: Ich kann es einfach nicht ausstehen, wenn jemand ohne Rücksicht auf die anderen auf seinen Vorteil bedacht ist.

Und ich fragte mich, warum er im Vergleich mit den anderen Geflüchteten von so stattlicher Natur war. Und warum er glaubte, dass ihm mehr zustehen würde als den anderen. Was für eine Vorgeschichte hatte er? Ich erinnerte mich an Zeitungsnachrichten, in denen es hieß, dass es auf Rettungsschiffen und auf dem europäischen Festland Fälle gab, wo Folterer erkannt wurden. Aber es stand ja unseren Gästen nicht auf die Stirn geschrieben, ob sie Opfer oder Täter sind. Andererseits: Würde ich wirklich jemanden nicht vor dem Ertrinken retten, wenn ich wüsste, dass er andere gefoltert oder getötet hat? Wie kam ich überhaupt darauf, mir solche Gedanken zu machen? Könnte ich einen brutalen Mörder ertrinken lassen, wenn ich die Wahl hätte?

Würde ich nicht unrecht tun, überließe ich ihn einfach seinem Schicksal?

Dieser Gewissenskonflikt wurde sowohl vom Grundgesetz meines Landes (in Artikel 3) als auch von der Menschenrechts­charta der Vereinten Nationen aufgenommen, wo es im Artikel 1 heißt, dass »alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren« sind. Die UN-Menschenrechtscharta und unser Grundgesetz wurden nach den schrecklichen Kriegserfahrungen seitens der Staatengemeinschaft verfasst, um ein ziviles, humanitäres Miteinander auch in Kriegs- und Krisenzeiten einzufordern.

Mit diesen Inhalten bin ich groß geworden. Auch wenn mich in der Schule die endlosen Debatten in den Fächern Politik und Geschichte genervt hatten, erkenne ich heute, wie wertvoll und bedeutsam diese Menschenrechte für ein humanes und zivilisiertes Miteinander sind.

Die identifizierten Folterer, von denen ich in den Nachrichten gelesen hatte, stehen vor Gericht. Aber ich bin nicht in der Position einer Richterin, ich entscheide nicht über Täter und Opfer, denn das Recht auf Leben haben beide – auf der Lilly rette ich Menschen aus Seenot.

Zoe heißt Leben

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