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BELLA FIGURA MIT SCHLOTTERNDEN KNIEN
ОглавлениеSeit der Spätphase der Industriegesellschaft spielen Spezialisierung und Expertentum eine so zunehmend große Rolle, dass an der Kulturtechnik des Fakes kaum noch jemand vorbeikommt. Es gibt nur noch wenige Wirtschaftszweige, in denen Einsteiger Fuß fassen könnten, ohne zumindest ein wenig zu faken. Im Kundenkontakt ist der Fake ohnehin längst Pflicht. Der Kunde erwartet überall den Experten, den Profi, den kompetenten Berater. Je unübersichtlicher das Angebot, desto mehr zählt Beratung zur Kernleistung. Mehr noch: Die Kombination aus Dienstleistung und tangiblem Produkt wird zum Standardfall. Doch wer kann mit 18 oder 20 Jahren schon ein mit allen Wassern gewaschener Branchenguru sein? Zumal, wenn das Wissen in fast jeder Branche immer schneller veraltet und das in der Ausbildung Gelernte bereits nach wenigen Jahren wertlos ist? Der Markt verlangt heute von den Repräsentanten eines jeden Unternehmens, dass sie gegenüber dem Kunden Bella Figura machen – und sei es mit schlotternden Knien.
Vielleicht hatten Sie ja nach der Lektüre der ersten drei Faker-Geschichten in diesem Buch den Eindruck, dass der Fake das Erfolgsgeheimnis einer Clique der Supererfolgreichen ist: der Weltunternehmer, der Sportstars, der Paradiesvögel der High Society. Das ist der Fake ganz sicher auch. Doch längst ist er eine unerlässliche Kernkompetenz für alle, die in einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt überhaupt einen Job haben und produktiv sein wollen. Für einen Johannes Stangl, seinerzeit Lehrling in einem Autohaus in Oberösterreich, gelten genau die gleichen Erfolgsprinzipien wie für einen Elon Musk, den Gründer von Tesla Motors, der wie aus dem Nichts mit Elektroautos reüssierte und damit eine ganze Branche das Fürchten lehrte.
In meinem früheren Buch „Make the Fake: Warum Erfolg die Täuschung braucht“ erkläre ich diese Zusammenhänge ausführlich. Darin erzähle ich auch die Geschichte, wie der 17-jährige Krankenpflegeschüler Christoph Zulehner einst zum Faker wurde: Während meiner ersten Nachtwache im Krankenhaus, bei der ich allein für 35 Patienten zuständig war, kollabierte prompt eine Patientin – und mir blieb nichts anderes übrig als der Fake. Ich tat so, als ob Reanimation für mich eine tägliche Routine sei. Ähnlich wie Butter aufs Brot streichen oder Kamillentee in Schnabeltassen gießen. Ich gebe zu, dass meine Sympathie für den Lehrling Johannes Stangl auch etwas mit dieser biografischen Parallele zu tun haben könnte. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen den jugendlichen Fakern Stangl und Zulehner: So etwas wie meine damalige Aktion bezeichne ich heute als einen „unbewussten Fake“. Stangl war hingegen schon sehr viel näher am „bewussten Fake“.
Ein unbewusster Faker hat Vertrauen in sich selbst; ein bewusster Faker gibt zusätzlich ein Versprechen an sich selbst ab. Als während meiner ersten Nachtwache eine sehr nette ältere Dame beschloss, ihre Herztätigkeit einzustellen, rutschte mir nicht nur das Herz in die Hose, sondern mir blieb auch kaum eine andere Wahl, als beherzt zu handeln. Ich traute mir das zu und tat etwas, das ich als Lehrling eigentlich noch nicht durfte. Das war bei Johannes Stangl genauso. Mit dem Unterschied, dass er leichter hätte kneifen können. Er hätte zum Beispiel das tun können, was in vielen Autohäusern ohnehin geschieht: den potenziellen Kunden, der da ohne Termin hereinschneit und um die ausgestellten Fahrzeuge schleicht, einfach ignorieren. Selbst wenn ich ihn angesprochen hätte, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, den Fake zu vermeiden. Er hätte sagen können, dass die Verkäufer zu Tisch seien und ich mich bitte gedulden solle, bis sie zurück sind. Selbst wenn er mir eine Tasse Kaffee angeboten und mir ein paar Prospekte gereicht hätte, wäre er auf dem sicheren Boden dessen geblieben, was er als Auszubildender sollte und durfte. Aber Herr Stangl wollte es wissen. Sein Versprechen an sich selbst lautete: Ich zeige dem Kunden jetzt schon, was ich einmal können möchte. So gut es geht. Obwohl ich es noch nicht darf. Nicht um den Kunden zu täuschen, sondern weil ich es sonst vielleicht nie lerne.