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Kapitel 4

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Bern, Schwellenmätteli, 15. November 2019, 17:30

Lisa saß hinter der Glasfront im Restaurant Schwellenmätteli und wartete auf ihren Kollegen Thomas Zigerli. Vom eindrücklichen Rauschen der Aare, die sich weiter unten über die gewaltige Mattenschwelle wälzte, war nichts zu hören. Es schien, als wäre der Fluss verstummt.

Thomas Zigerli war in Schwarzenburg, einer Kleinstadt im Kanton Bern, aufgewachsen. Seine Eltern führten dort seit Jahrzehnten ein kleines Kleidergeschäft. Zigerli war ursprünglich ausgebildeter Bankkaufmann. Mittlerweile arbeitete er seit einigen Jahren bei der Kriminalpolizei. Bereits kurz nach Lisas Stellenantritt wurde er zu ihrem besten Arbeitskollegen. Thomas und Lisa waren ziemliche Gegensätze. Gemeinsam war ihre Schwäche für gutes Essen. Lisa war zwar nicht die geborene Sportskanone – aber man traf sie einmal in der Woche beim Indoor-Klettern. Zigerli hingegen war der Inbegriff eines Antisportlers. »Sport ist Mord«, lautete seine Devise. Er war jemand, der alle Dinge hinterfragte. Entsprechend war er häufig am Grübeln und hatte manchmal Mühe, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren.

Erst gegen 18 Uhr setzte sich der völlig durchnässte Zigerli an den Tisch von Lisa. Draußen hatte es im Verlauf des Nachmittags begonnen, wieder wie aus Kübeln zu schütten. Ganz so, als ob der liebe Gott die Spuren des Sturzes von Siri so rasch und so endgültig wie möglich aus der Welt schaffen wollte. In wenigen Sätzen schilderte Lisa Thomas, was sie bis anhin über den vermeintlichen Selbstmord ihrer Schwester wusste. Sie schloss mit der Bemerkung, dass sie nicht an einen Suizid glaubte.

»Und du bist dir absolut sicher, dass Siri nicht doch ein schwerwiegendes, belastendes Problem hatte?«, entgegnete Thomas.

»Ja, ich kenne Siri. Sie war nicht jemand, der Probleme mit sich herumtrug. Wenn sie etwas derart tief beschäftigt hätte, hätte sie dies mit mir geteilt. Da bin ich mir zu 100 Prozent sicher.«

»Jeder Mensch hat Geheimnisse. Vielleicht wollte Siri der eigenen Familie einfach nicht zur Last fallen, gerade weil die Probleme sehr ernst waren. Sie wusste, dass so etwas die anderen Familienmitglieder stark belasten würde.«

»Du tönst, als ob du bei der Polizei arbeiten würdest. Es gibt einen vermeintlich einfachen Lösungsweg. Dieser wird von ein paar Indizien gestützt, und schon ist der Fall ohne großen Aufwand gelöst.« Lisa redete sich allmählich in Rage.

»Jetzt beruhige dich doch«, versuchte Zigerli, sie zu beschwichtigen. »Es deutet einfach alles auf einen Suizid hin. Ich verstehe ja auch, dass dies schwer zu akzeptieren ist. Und überhaupt – ja ich arbeite bei der Polizei – du übrigens auch …«

Es war diese letzte Bemerkung, welche Lisa zur Explosion brachte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatte sie in weniger als zehn Sekunden das Lokal verlassen. Die Zeit hatte allerdings gereicht, um dem verdutzten Zigerli den kalt gewordenen Latte Macchiato über seine beginnende Glatze zu kippen.

Auch der kalte Novemberregen konnte Lisa vorerst nicht beruhigen. Ihr italienisches Temperament, welches sie von ihrem Vater geerbt hatte, brachte sie des Öfteren in Schwierigkeiten. In der Regel waren diese Emotionen aber positiv. Sie halfen Lisa, Geschehenes zu verarbeiten. Und sie machten Lisa auch zu einer Person, welche bei allen Leuten sehr beliebt war, da sie ihre Gefühle wie ein offenes Buch mit sich herumtrug.

»Ich werde den Fall alleine aufklären«, murmelte Lisa gedankenverloren zu sich selbst. Sie beschloss, trotz des immer stärker werdenden Regens und der Dunkelheit, sich nochmals den nahen Fundort der Leiche unter der Kirchenfeldbrücke anzuschauen. Mittlerweile waren bereits alle Absperrbänder entfernt. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor ein paar Stunden eine junge Frau zu Tode gekommen war. Wie jede Nacht verwandelte die majestätische Aare die sich spiegelnden Lichter der Stadt in glitzernde Sterne.

War Siri überhaupt durch den Sturz von der Brücke gestorben? War sie vielleicht schon vorher tot und erst danach von der Brücke geworfen worden?, ging es Lisa plötzlich durch den Kopf. Sie überlegte sich, dass es nicht schaden könnte, auf die Kirchenfeldbrücke zu steigen und sich die vermeintliche Absprungstelle genauer anzusehen. Gedacht, getan. 15 Minuten später inspizierte die bereits bis auf die Unterwäsche durchnässte Lisa den Abschnitt auf der Brücke, welcher für einen Absprung hätte infrage kommen können. Sie war erstaunt, wie breit das Fangnetz an jeder Stelle gespannt war. Es war unmöglich, direkt vom Brückengeländer über das Fangnetz in die Tiefe zu springen. Das heißt, man musste zuerst auf das Fangnetz springen, anschließend bis zu dessen Ende kraxeln und sich im Anschluss in die Tiefe stürzen. Nicht gerade die Selbstmordvariante »kurz und schmerzlos«. Da gab es in der Umgebung von Bern passendere Brücken.

Lisa leuchtete nochmals das Fangnetz mit ihrer kleinen Taschenlampe ab. Vielleicht gab es irgendwo einen Hinweis, dass hier kürzlich jemand über das Netz gerobbt war. Nichts. Lisa beschloss, das Bad im Regen zu beenden und in ihre kleine warme Studiowohnung zurückzukehren. Grübelnd machte sie sich auf den Weg Richtung Innenstadt.

Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ein dunkles Augenpaar interessiert ihre Nachforschungen beim Fangnetz beobachtet hatte. Die Gestalt, zu welcher das Augenpaar gehörte, folgte Lisa in ungefähr 50 Metern Abstand. Ahnungslos erreichte Lisa ihre Wohnung in der Länggasse. Der Unbekannte war ihr bis kurz vor die Wohnungstür gefolgt. Dann verschwand er zufrieden in der Dunkelheit.

Das Schweigen der Aare

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