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Kapitel 8

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Bern, Waisenhausplatz, 17. November 2019, 12:30

Die Nacht war niederschmetternd gewesen, ebenso der Morgen. Es gab einen Abschiedsbrief, der auf einen Selbstmord hindeutete, und es gab einen Leichenfundort, welcher diese Hypothese ebenfalls stützte.

Hatte Trachsel doch die richtigen Schlüsse gezogen?, musste sich Lisa eingestehen.

»Hallo, Lisa, wie stehen die Ermittlungen?«, platzte Zigerli in Lisas Mittagsmeditation. Ein kurzer Blick von ihr genügte, und Zigerli bereute seine unterschwellige Provokation.

»War nicht so gemeint«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

»Setz dich und lass uns noch einmal alles im Detail durchgehen«, entgegnete Lisa gereizt.

Zusammen gingen Lisa und Zigerli nochmals chronologisch alle Geschehnisse und Indizien durch. Sie merkten gar nicht, dass die Mittagspause eigentlich längst vorüber war. Schließlich war es Lisa, welche eine entscheidende Eingebung hatte.

»Ein Puzzleteil haben wir noch nicht im Detail geprüft: die Leiche.«

Außer dem kurzen Augenblick bei der Identifizierung von Siris Leiche, hatte Lisa die sterblichen Überreste ihrer Schwester nicht zu Gesicht bekommen. Würde dort vielleicht ein entscheidender Hinweis zu finden sein? Morgen war die Abschiedsfeier geplant und übermorgen bereits die Kremation. Von ihren Eltern wusste Lisa, dass der Leichnam von Siri in der Rechtsmedizin direkt in den Sarg gelegt und dieser anschließend endgültig verschlossen wurde. Das alles hieß, die Leiche war längstens bis morgen früh noch auf der Rechtsmedizin. Auch wenn sie die Schwester von Siri war, würde es verdammt schwierig werden, in der Rechtsmedizin Zugang zur Leiche zu erhalten, es sei denn, die Kriminalpolizei hätte ein entsprechendes Gesuch ausgestellt.

»Trachsel muss mir ein solches Gesuch zur Leichenschau und zur Einsicht in den Obduktionsbericht unterzeichnen«, murmelte Lisa mehr zu sich als zu ihrem Partner.

»Das wird er dir nie im Leben unterschreiben«, entgegnete Zigerli.

Er mochte recht haben. Zum einen hatte Trachsel den Fall bereits abgeschlossen, und zum anderen hatte er mit Lisa noch eine Rechnung offen. Der Oberkommissar hatte am letztjährigen Weihnachtsessen der Kriminalpolizei spätabends einen eindeutigen Flirtversuch bei Lisa gelandet. Flirtversuch war allerdings etwas untertrieben. Er hatte versucht, Lisa vor der Damentoilette zu küssen. Genau wie Zigerli musste der stark angetrunkene Trachsel auf äußerst schmerzhafte Weise mit der Wehrhaftigkeit der ältesten Manaresi-Tochter Bekanntschaft machen. Resultat seines stümperhaften Annäherungsversuchs waren ein blaues Auge und ein zerrissenes Hemd. Das Schlimmste aber waren Spott und Hohn der Arbeitskollegen. Noch Wochen nach der Feier hatte Trachsel das Gefühl, dass ein schadenfrohes Lächeln über die Gesichtszüge seiner Arbeitskollegen huschte, wenn er diesen im Büro begegnete. Obwohl seit dem Fiasko schon fast ein Jahr vergangen war, hatte sich bis anhin leider noch keine gute Gelegenheit ergeben, um an dieser hochnäsigen Praktikantin Rache zu nehmen. Zwar war Lisa als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt, Trachsel bezeichnete sie aber absichtlich und despektierlich als Praktikantin. Wegen der offenen Rechnung wartete Lisa täglich darauf, dass er ihr einen gehörigen Stock zwischen die Räder werfen würde.

Einen Gefallen von ihm zu verlangen und auch zu erhalten, dürfte ein schwieriges Unterfangen werden. Nahezu hoffnungslos. Es sei denn, man kannte die Schwächen seines Widersachers und drehte den Spieß um. Lisa hatte eine Idee, wie sie den Groll Trachsels möglicherweise in eine Gefälligkeit umwandeln konnte. In wenigen Worten schilderte sie Zigerli ihren Plan.

»Bist du wahnsinnig? Das wird niemals klappen. Willst du dir das wirklich antun? Mit diesem Ekel?«, meldete Zigerli seine Zweifel an.

»Thomas, du kennst mich inzwischen gut. Wenn ich ein Ziel habe, dann erreiche ich dieses auch«, posaunte Lisa selbstbewusster, als ihr zumute war.

Es war inzwischen fast 15 Uhr– die Zeit drängte. Lisa und Zigerli verließen den kleinen Pausenraum und hofften, dass niemand etwas von ihrer überlangen Mittagspause mitbekommen hatte. Unbemerkt erreichte Lisa ihr kleines Büro. Vielleicht würde heute doch noch ihr Glückstag werden. Die Wache war wie ausgestorben, sodass Lisa unbemerkt ihre Sporttasche schnappen und sich zum Umkleideraum im ersten Untergeschoss aufmachen konnte. Lisa wusste, dass Trachsel trotz der happigen Abfuhr jederzeit und ohne zu zögern für ein Schäferstündchen mit ihr alles fallen und liegen lassen würde. Je sichtbarer sie ihre weiblichen Formen zur Schau stellte, desto einfacher würde es werden. Deshalb stürzte sich Lisa in ihre hautengen Lauftights und streifte sich ein pinkfarbenes Laufshirt über. Ab jetzt half nur noch gute Schauspielkunst und Beten.

Ab in die Höhle des Löwen.

Zuerst schien es, als ob ihre Glückssträhne weiter anhalten würde. Trachsel war in seinem Büro alleine und gerade damit beschäftigt, einen Schokoladeriegel in sechs gleichgroße Bissen zu zerschneiden. In der nächsten Stunde würde er sich alle zehn Minuten eine verdiente Stärkung gönnen. Er betrachtete gerade zufrieden sein Werk, als eine schlimm humpelnde Lisa in sein Büro platzte.

»Herr Trachsel, es tut mir leid, dass ich einfach so bei Ihnen hereinschneie. Ich wollte heute ein bisschen früher Feierabend machen und noch bei Tageslicht eine Joggingrunde an der Aare drehen. Beim Hinausgehen bin ich unten an der Treppe gestolpert und habe mir den Knöchel verdreht. Es tut höllisch weh«, mimte Lisa mit schmerzverzerrtem Gesicht den sterbenden Schwan. Sie spielte ihre Rolle perfekt.

»Dann wird es wohl nichts mit dem Rumrennen«, blaffte Trachsel. Er konnte ohnehin nicht verstehen, wie sich jemand freiwillig mehrmals pro Woche bei Wind und Wetter durch die Gegend kämpfte.

»Sie sind doch quasi unser Arzt hier auf der Wache. Ihre Kollegen nennen Sie nicht ohne Grund Doktor Trachsel.« Er hatte zwar die obligatorischen Samariter- und Reanimationskurse besucht. Mehr aber nicht. Das Zertifikat für den Reanimationskurs hatte er sogar verpasst, da er beim Schlusstest die geforderten 80 Prozent an richtigen Antworten mit 47 Prozent knapp verfehlt hatte. Von Arzt konnte keine Rede sein. Von Medizinbanause hingegen schon.

»Ich soll der Dame also den Fuß untersuchen? Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie eng der Terminplan eines Dezernatsleiters aussieht? Ich stelle fest, Sie haben keinen blassen Schimmer, unter welchem Druck ich tagtäglich hier den Laden am Leben erhalte.«

Die Arroganz von Trachsel erstaunte Lisa immer wieder von Neuem. Das Ausmaß an Selbstüberschätzung schien kaum mehr übertreffbar. Dennoch schaffte es Trachsel, sich diesbezüglich immer wieder auf eine neue unrühmliche Ebene zu hieven.

»Natürlich ist mir klar, wie viel Sie zu tun haben. Ich bin gerade ein bisschen verzweifelt, weil ich mit meinem verletzten Fuß nicht einmal Fahrrad fahren kann und nicht weiß, an wen ich mich wenden soll.« Diese Worte hauchte Lisa förmlich über Trachsels Pult, nicht ohne dabei ihre Reize ins beste Licht zu rücken. Für einen Moment konnte Lisa ein lüsternes Flackern in seinen Augen erkennen, und Trachsels Zunge strich kurz über seine Lippen.

Der Fisch hatte angebissen.

»Ich bin einfach zu hilfsbereit. Wenn ich Sie hier jetzt verarzte, heißt es für mich wieder Überstunden schieben. Aber kommen Sie schon, zeigen Sie Ihr Pfötchen mal her.«

Lisa humpelte zu seinem Schreibtisch und setzte sich direkt vor ihm auf den Tisch. Die plötzliche Nähe machte Trachsels Mund ganz trocken. Zufrieden stellte Lisa fest, dass bis jetzt alles nach Plan lief. Lisa hob nun leicht ihr rechtes Bein und hielt Trachsel ihren Fuß mit einem leidenden Blick direkt vor seine Nase. Trachsel seinerseits hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte – medizinisch gesehen. Diesen Verdacht hatte auch Lisa.

»Können Sie sich bitte meinen Knöchel und das Sprunggelenk ansehen. Sie werden mir dann sicherlich sagen können, was am besten zu tun ist.« Um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen berührte Lisa mit ihrer großen Zehe ganz kurz die Nasenspitze von Trachsel. Genau in dem Augenblick, als er aufstand, um sich den Fuß doch anzusehen, ließ sich Lisa rücklings auf den Schreibtisch fallen. Sie lag nun auf Trachsels Schreibtisch, das rechte Bein in Richtung Trachsel ausgestreckt.

»Herr Trachsel, bevor Sie mit der Untersuchung beginnen. Mir ist da gerade noch etwas anderes, Dringendes eingefallen. Morgen wird meine verstorbene Schwester auf der Rechtsmedizin eingesargt. Für mich wäre es sehr wichtig, dass ich sie noch einmal sehen und mich persönlich von ihr verabschieden kann. Ich habe diese Art, sich von einem Verstorbenen zu verabschieden, von meinen Eltern als Kind mitbekommen, und wir haben dies als Familie stets so gelebt. Meine Eltern konnten Siri heute Morgen nochmals sehen. Verstehen Sie mich?«

Trachsel konnte nicht. Trachsel war inzwischen auf Betriebstemperatur und hatte seine eigenen, völlig andersartigen Ziele.

»Können Sie mir eine entsprechende Bewilligung ausstellen, damit ich heute Abend oder morgen in der Früh nochmals zu meiner Schwester kann?«

Im Grunde hatte Trachsel ganz und gar keine Lust, Lisa dieses Schreiben auszustellen. Eigentlich wäre dies eine perfekte Chance, um mich bei dieser arroganten Dame, zumindest ein erstes Mal, für die erlittene Schmach zu revanchieren, sinnierte Trachsel.

Die Aussicht auf ein bevorstehendes Abenteuer, welches sich im Grunde pfannenfertig auf seinem Schreibtisch präsentierte, trübte Trachsels Sinne.

»Also gut, ich unterschreibe Ihnen den Wisch. Das ist aber eine einmalige Ausnahme, die Sie ausschließlich meiner Gutmütigkeit und meinem Altruismus zu verdanken haben.«

Lisa konnte ihr Glück kaum fassen. Sie war am Ziel. Fast.

»Zuerst schauen wir uns aber das verletzte Füßchen an«, zwitscherte Trachsel und schnappte sich Lisas rechten Fuß. Bevor sich Trachsel weiter mit Lisas Bein beschäftigen konnte, war diese mit einem lauten Schmerzensschrei wie ein unter Spannung stehender Bogen aufgeschnellt und stand jetzt mit leidendem Blick direkt vor Trachsel.

»Himmelherrgott, wie soll ich Sie so untersuchen? Sie müssen schon ein bisschen stillhalten«, wetterte Trachsel.

»Es tut mir leid, aber der Fuß schmerzt schrecklich«, versuchte ihn Lisa zu beruhigen. Langsam begann sich bei ihr Panik breitzumachen. Sie hatte sich in eine ausweglose Situation geritten. Die Aussicht, was in den nächsten Minuten folgen konnte, wollte sich Lisa nicht weiter ausmalen. Ihr Hirn arbeitete fieberhaft.

Trachsel setzte zu einem nächsten Untersuchungsversuch an. Er stieß die überraschte Lisa gleichzeitig an beide Schultern, sodass diese nach hinten auf die Schreibtischplatte kippte und dort unsanft mit dem Kopf aufschlug. Trachsel schien dies nicht zu bemerken, und wenn, dann ignorierte er es. Er war wie ein wilder Stier nur noch mit sich und seinen Trieben beschäftigt. Er nestelte ungelenk an seinem Polizeigurt. Exakt in dem Moment, als Trachsels Diensthose auf den sauber gescheuerten Linoleumboden hinunterrauschte, tauchte Zigerlis Kopf im Türrahmen von Trachsels Büro auf. Ihm bot sich ein filmreifes Bild. Eine attraktive Brünette in einem sexy Sportdress lag auf dem Rücken auf einem Schreibtisch. Dahinter befand sich ein Polizist in Diensthemd und Unterhosen, welcher gerade im Begriff war, über seine heruntergelassenen Hosen zu stolpern.

»Entschuldigung, Herr Trachsel. Ich wollte Sie bloß kurz fragen, ob der Termin für mein Mitarbeitergespräch mit Ihnen morgen um 9 Uhr für Sie passt. Sie haben mir den Termin nämlich noch nicht bestätigt.« Ein besserer Vorwand war Zigerli nicht eingefallen.

»Zigerli, Sie Vollidiot! Raus aus meinem Büro! Raus!« Es herrschte plötzlich dicke Luft.

Unter entschuldigendem Gemurmel verschwand Zigerli so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Lisa war inzwischen wieder vom Tisch aufgestanden. Ihr brummte noch leicht der Kopf, aber sie war unendlich froh über Zigerlis Kurzbesuch. Weshalb Zigerli genau im richtigen Moment als Erlöser auftauchte, war Lisa ein Rätsel, einen Verdacht hatte sie allerdings. Egal.

Trachsel hatte seine Kleidung in der Zwischenzeit wieder den Dienstvorschriften angepasst – zumindest beinahe. Außer dem Zipfel seines hellblauen Diensthemdes, welcher keck aus dem noch immer offenen Hosenladen lugte, saß die Dienstmontur perfekt. Seine Abenteuerlust hingegen war am Boden.

Statt ein erfolgreicher Racheengel, war er wieder der Blödmann. Es ging jetzt nur noch darum, ohne weiteren Gesichtsverlust aus der Sache rauszukommen. Einer seiner brillanten Einfälle würde ihn retten. Es kam aber kein Einfall – zumindest nicht von ihm.

»Herr Trachsel, wenn Sie mir jetzt gleich die Bewilligung für die Rechtsmedizin ausstellen, bin ich in zwei Minuten weg und habe alles Geschehene für immer vergessen. Ich werde Thomas Zigerli bitten, mich in den Notfall eines der Berner Spitäler zu fahren.«

»Und wenn Sie es sich morgen doch anders überlegen?«, entgegnete der zweifelnde Trachsel.

»Bewilligung mit Unterschrift oder Anzeige wegen … Sie wissen was ich meine. Das ist mein Deal. Unverhandelbar.«

Keine zehn Minuten später tauchte Lisa, frisch umgezogen, in Zigerlis Büro mit Sporttasche und unterschriebener Bewilligung für die Rechtsmedizin auf.

»Thomas, kannst du mich sofort zur Rechtsmedizin fahren? In etwas mehr als einer Stunde machen die den Laden dicht. Ich muss um alles in der Welt vorher die Leiche meiner Schwester noch einmal sehen.«

»Die Worte Danke und Bitte scheinst du nicht zu kennen. Ich habe dir doch gesagt, dass es mit der Bewilligung bei Trachsel nie klappen wird«, entgegnete Zigerli leicht verschnupft.

»Habe ich die Bewilligung oder habe ich sie nicht?«, konterte Lisa gereizt.

»Wenn ich nicht mein Leben riskiert hätte, hättest du …«

»Ist ja gut, ich will mir gar nicht ausmalen, was hätte sein können, wenn du nicht den Termin für dein Mitarbeitergespräch vorhin mit Trachsel geklärt hättest. Danke, Thomas. Du warst echt ein Engel. Lass uns nun aber aufbrechen, wir können die Zeit in der Rechtsmedizin besser nützen, als uns hier zu streiten.«

Die übel gelaunte Dame an der Loge am Institut für Rechtsmedizin warf nur einen flüchtigen Blick auf das Gesuch. Dienststempel und Unterschrift von Kommissar Trachsel wurden gar nicht geprüft. Kurz ging Lisa durch den Kopf, dass sie sich den ganzen Zirkus hätte sparen können. Aber wer konnte schon wissen, dass mittlerweile auch in der Behördenstadt Bern einige Beamte eine ziemlich lasche Arbeitsmoral an den Tag legten.

Am Institut für Rechtsmedizin in Bern gab es acht Abteilungen. Die sterblichen Überreste von Siri befanden sich auf der Abteilung für forensische Medizin und Bildgebung. Mittlerweile war es bereits fast 16.30 Uhr. Lisa hoffte, dass die Mitarbeiter auf der forensischen Medizin eine bessere Arbeitsdisziplin zeigten als ihre Kollegin an der Loge. Die nüchternen Buchstaben »Forensische Medizin und Bildgebung« an der gelblich-braun verfärbten Glastür passten zu den hier stattfindenden Tätigkeiten. Obduktionen, histopathologische Untersuchungen, aber auch Abklärungen mit modernster Technik wie zum Beispiel die Dokumentation von Körper- und Objektbefunden mittels 3D optischem Oberflächenscanning oder Computertomographie. Zigerli lief ein Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre er einfach abgehauen. Lisa schien seine Gedanken zu lesen.

»Komm, Thomas, lass uns endlich reingehen.«

Lisa drückte die Klinke der Abteilungstür und betete, dass sie nicht bereits verschlossen war. Die Tür war noch offen. Lisa und Zigerli schlüpften in den armselig beleuchteten Gang und hofften, auf einen Mitarbeitenden der Abteilung zu treffen. Weit und breit niemand. Totenstille.

»Es scheint, dass wir Tür für Tür abklappern und darauf hoffen müssen, noch einen pflichtbewussten Angestellten beim Leichenwaschen anzutreffen«, stellte Lisa lapidar fest. Die Bemerkung raubte Zigerli das letzte bisschen Motivation. Gerade als Lisa bei der ersten Tür ansetzen wollte, ging zwei Räume weiter eine solche auf. Auf den Gang trat eine vollständig in Weiß gekleidete Frau im mittleren Alter. Bei genauerem Hinsehen erkannten Lisa und Zigerli, dass die Kleidung doch nicht ganz weiß war. Überall befanden sich rote Spritzer. Es war davon auszugehen, dass es sich um Blutspritzer handelte.

»Was suchen Sie hier?«, raunte die Frau. Sie sprach mit einem starken slawischen Akzent. Ihre Körpersprache und ihr Tonfall sagten indessen: »Raus hier.«

»Das wird nicht einfach, auch mit Trachsels Bewilligung«, konstatierte Lisa.

»Wir kommen von der Berner Kriminalpolizei, Dezernat Leib und Leben. Hier ist ein Schreiben von Oberkommissar Trachsel. Wir wollen uns nochmals die Leiche der heute eingelieferten jungen Frau von der Kirchenfeldbrücke ansehen.«

»Da gibt es nichts mehr zu sehen«, blaffte die Frau in Rot-Weiß. »Die Leiche war mehr ein Fleischhaufen als ein Personenkörper. Sie ist bereits eingesargt. Der Sarg ist verschlossen.«

»Jälva skit!1 Die Einsargung war erst für morgen früh geplant. Haben Sie denn keine Dienstvorschriften?«

»Bleiben Sie schön auf dem Boden. An der Leiche gibt es nichts mehr zu untersuchen. Die Todesursache steht eindeutig fest: Sturz aus großer Höhe. Ich würde sagen, mindestens 50 Meter ist die gute Frau runtergesaust.«

»Die gute Frau war meine Schwester. Danke, dass Sie so respektvoll von ihr sprechen.«

»Oh, das tut mir leid«, stammelte die sichtlich beschämte Rechtsmedizinerin.

»Machen Sie sich keinen Kopf. Sie können mir helfen, indem Sie den Sarg nochmals öffnen.«

»Das geht nicht. Den Sarg könnte höchstens mein Vorgesetzter, Professor Entomon, öffnen. Der ist aber vor knapp zwei Stunden in den Zug nach Zürich gestiegen. Er reist zu einem internationalen Cnidarien-Kongress.«

»Cnida… was?«, stammelte Lisa.

»Cnidarien sind Nesseltiere. Dazu gehören zum Beispiel verschiedene Quallenarten, Korallen und Seeanemonen. Ich kann Ihnen einzig den Obduktionsbericht aushändigen. Die Leiche wurde sorgfältig und professionell von uns untersucht. Alle Erkenntnisse stehen in dem Bericht. Und ich garantiere Ihnen, Sie würden nichts finden, was wir nicht bereits entdeckt haben.« Lisa konnte es nicht fassen. Nur wenige Meter von den sterblichen Überresten ihrer Schwester entfernt sollte sie diese nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es entsprach ganz und gar nicht ihrem Naturell, in solchen Situationen klein beizugeben. Fieberhaft überlegte sie, was sie noch tun könnte. Es fiel ihr nichts ein. Kein Gedanke, keine Idee. Von Zigerli kam auch nichts. Der Flopp des Tages.

»Also gut, dann geben Sie uns bitte den Obduktionsbericht«, hörte sich Lisa sagen. Dabei wäre sie am liebsten in den Kühlraum gerannt und hätte den Sarg ihrer Schwester einfach aufgebrochen.

Zwei Minuten später saßen Lisa und Zigerli an einem Tisch im Obduktionssaal Nummer zwei und brüteten über dem dreiseitigen Obduktionsbericht. Wie jeder Tod, welcher nicht auf ein natürliches Geschehen zurückzuführen war, wurde auch Siris Ableben als sogenannter außergewöhnlicher Tod eingestuft. Jeder der jährlich gegen 1000 außergewöhnlichen Todesfälle im Kanton Bern musste von Gesetzes wegen einer Leichenschau unterzogen werden. Dabei handelte es sich um eine ärztliche Besichtigung einer verstorbenen Person mit dem Ziel, die ärztliche Todesbescheinigung auszustellen. Die Leichenschau erforderte die persönliche Untersuchung des entkleideten Leichnams zwecks Feststellung von Todeszeichen und Verletzungen. Der Arzt musste ferner Gewissheit über die Identität der verstorbenen Person haben und die Todeszeit schätzen.

Lisa schauderte. Man musste eine dicke Haut besitzen, um einen solchen Job zu meistern.

Wie nicht anders zu erwarten, enthielt der Bericht nur nüchterne und zähe Rechtsmedizinerphrasen. Dazu das übliche Chirurgenchinesisch. Auch wenn sich im Dokument etwas Auffälliges befand, Lisa und Zigerli würden dies kaum entdecken.

»Multiple Frakturen des Corpus femoris rechts. Conquassatio von Schien- und Wadenbein beidseits«, las Lisa.

Die beiden Ermittler kämpften sich tapfer durch das Dokument.

»Blasen wir die Übung ab. Ich lade dich zu Roastbeef und Pommes ins Restaurant Schwarzwasserbrücke ein«, versuchte Zigerli, Lisa auf andere Gedanken zu bringen.

»Ich fasse es nicht. Da versucht man, die letzte Chance auf Aufklärung des Todes seiner Schwester zu nutzen, und du denkst an nichts anderes als ans Fressen«, fauchte die kurz vor einer Explosion stehende Lisa. Eigentlich war sie schon explodiert. Ihr tat die impulsive Antwort bereits in dem Moment leid, als sie diese Zigerli an den Kopf warf. Die Reaktion verfehlte ihre Wirkung nicht. Zigerli knickte ein wie ein umgemähter Grashalm.

»Ich habe es nicht so gemeint, Thomas, aber der Bericht ist die letzte Chance, vor der Bestattung von Siri noch etwas herauszufinden.«

Kaum hatte Lisa die Situation zwischen ihr und ihrem Kollegen beruhigt, hörten sie, wie sich die Tür zum Obduktionssaal öffnete und die Rechtsmedizinerin mit dem roten Dalmatinerkittel verkündete, dass das Institut in fünf Minuten schließe und sie den Obduktionsbericht wieder zurückhaben müsse.

»Geben Sie uns noch zehn Minuten«, bat Lisa verzweifelt.

»Das geht leider nicht. Ich bin mit meiner Tochter verabredet, wir fahren ins Emmental zum Essen. Im Restaurant Rössli in Schafhausen gibt es heute Kalbsnieren, so viel man essen mag. Tut mir leid, maximal vier Minuten.«

Lisa fragte sich, wie jemand den ganzen Tag Leichen obduzieren und am Abend Kalbsnieren essen konnte. Dabei vergaß sie weiter zu verhandeln. Erst als hinter der hinauseilenden Rechtsmedizinerin die Tür wieder krachend ins Schloss fiel, fasste Lisa wieder einen klaren Gedanken. Ein seriöses Studium des Dokuments war nicht mehr möglich. Am liebsten hätte sie einfach drauflos geheult. Zigerli blätterte gerade auf Seite zwei, als Lisa ein komischer lateinischer Ausdruck in die Augen sprang.

»Hydrurus foetidus (goldbraune Alge)« stand in der viertuntersten Zeile auf der zweiten Seite des Berichts. Rasch überflog Lisa den gesamten Abschnitt. Im Haar von Siri wurden offensichtlich Teile dieser Alge gefunden. Die Alge kam in kleinen bis mittelgroßen Flüssen im Schweizer Mittelland vor.

Kleine bis mittelgroße Flüsse, ging es Lisa weiter durch den Kopf. Intuitiv hätte Lisa Siri mit der Aare in Verbindung gebracht, auch wenn die Leiche neben dem Fluss gefunden worden war. Die Aare war aber kein kleiner bis mittelgroßer Fluss. Sie war der längste gänzlich innerhalb der Schweiz verlaufende Fluss.

Ein großer Fluss.

Vielleicht kommt die Hydrurus Alge auch in der Aare vor?«, spekulierte Lisa. Dennoch, eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass hier etwas nicht zusammenpasste. So sehr sich Lisa bemühte, die Ungereimtheit zu konkretisieren, ihr fiel nichts ein.

»Ich muss Sie jetzt endgültig bitten, das Institut zu verlassen«, beendete die Kalbsnierenliebhaberin die Gedankenspiele von Lisa.

Außerhalb des Instituts warteten finstere Dunkelheit und bittere Novemberkälte auf Lisa und Zigerli.

»Ein paar Pommes in der Schwarzwasserbrücke wären doch keine schlechte Idee«, meinte Lisa plötzlich kleinlaut zur großen Überraschung von Zigerli. Der ließ sich in Aussicht auf ein schon entschwunden geglaubtes leckeres Abendessen nicht zweimal bitten.

Die Algengeschichte beschäftigte Lisa auch während des Essens. Am Tisch herrschte Stille.

Zigerli widmete sich mit Inbrunst seinem Roastbeef und später auch Lisas Gericht. Sie hingegen brütete in Gedanken weiter über dem Besuch in der Rechtsmedizin.

»Thomas, ich denke, ich weiß jetzt, was mich gestört hat. Die Alge in Siris Haar. Wie kommt Ende November eine Alge in die Haare meiner Schwester?«

»Vielleicht war sie kurz in der Aare – Vorbereitung für das Weihnachtsschwimmen.«

»Das könnte tatsächlich sein, Siri ist praktisch das ganze Jahr über in der Aare gewesen. Aber die Aare ist kein kleiner oder mittelgroßer Fluss. Das heißt, die Alge müsste aus einem kleineren Fluss stammen, zum Beispiel aus …«

»… der Sense!«

»Du hast’s erfasst. Thomas, ich habe eine Hypothese, wie sich der Tod meiner Schwester erklären lässt. Lass uns die Rechnung begleichen. Wir fahren im Anschluss kurz an die Sense.«

»Lisa, wir haben den 17. November, es ist stockdunkel, und draußen ist es arschkalt.« Thomas war von vornherein klar, dass er damit Lisa nicht umstimmen konnte. Aber sich kampflos herumkommandieren zu lassen, ging auch nicht.

Eine Viertelstunde später parkierten Lisa und Thomas den kleinen knallroten Fiat Cinquecento in der Nähe der kleinen Steinbrücke nicht weit von der großen Schwarzwasserbrücke entfernt. Auf der Strecke von Bern nach Schwarzenburg führt die 65 Meter hohe Schwarzwasserbrücke über den kleinen Fluss Schwarzwasser, ungefähr 100 Meter vor dessen Einmündung in die Sense.

Mit Thomas’ leistungsstarker Autotaschenlampe machte sich Lisa zielstrebig auf den Weg zur Schwarzwasserbrücke. Genau unterhalb der Brücke begann sie, sorgfältig das Flussbett und die umliegenden Geröll- und Steinhaufen auszuleuchten. Lisa wusste nicht genau, was sie eigentlich suchte. Einfach irgendeinen brauchbaren Hinweis. Fluchend stolperte Thomas hinter ihr her. Am liebsten wäre er im Auto geblieben, zumal es ohnehin nur eine Lampe gab. Seine Lampe. Die hatte im Moment aber Frau Manaresi.

Eine knappe halbe Stunde dauerte das Leuchten und Blinken jetzt schon. Thomas fror erbärmlich. Mittlerweile am ganzen Körper. Es sollte noch schlimmer kommen. Gerade als Thomas zu einem entschiedenen verbalen Rückzugsappell ansetzen wollte, passierte es. Er rutschte auf einem feuchten Stein aus und lag kurz darauf, ohne Badehosen, dafür mit Jeans, Pullover und Jacke, im Schwarzwasser. Das Bad dauerte nicht lange. Lisa staunte, wie flink sich Zigerli bewegen konnte, wenn es drauf ankam.

»Elender Mist«, jammerte Lisas Kumpel. »Mir reicht’s mit deinem beschissenen Nachtspaziergang!«

»Hast du dir wehgetan?«, erkundigte sich Lisa in ihrer charmantesten Art.

Hatte er nicht. Aber das brauchte die Dame nicht zu wissen. Ein leises Knurren war alles, was als Antwort von Thomas zurückkam. Mittlerweile war Lisa bei Thomas angekommen und betrachtete amüsiert das triefende Flussungeheuer. Zigerli war in der Tat zu bemitleiden. Seine Zähne klapperten vor Kälte wie eine alte Druckerpresse. Das fahle Licht eines müden Mondes, das eisige Flusswasser und die kleinen braunen Büschel einer namenlosen Wasserpflanze, welche Zigerlis Jacke, Hosen und sogar sein Gesicht zierte, gaben eine unheimliche Szenerie ab.

»Lassen wir es gut sein.« Endlich hatte Lisa ein Einsehen mit ihrem Kollegen. »Ich lade dich auf einen Kaffee oder Glühwein zu mir ein.«

Es war schon fast Mitternacht, als sich Zigerli wieder besser fühlte. Vorausgegangen waren eine warme Dusche und zwei Tassen heißer Glühwein.

Lisas Stimmung hingegen war auf dem Tiefpunkt. Im Keller. Im tiefsten Keller.

Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie die vermeintlichen Treckingkleider von Zigerli zum Trocknen auslegte. Bald waren die nassen Kleidungsstücke auf diverse Stühle in der Wohnung verteilt. Einige der Textilien waren bereits wieder so gut wie trocken. Als sie die Jacke über eine Stuhllehne streifte, veränderte sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck.

»Thomas, das Gestrüpp an deiner Jacke sieht irgendwie ähnlich aus wie die Algen, welche in Siris Haar gefunden wurden. Dieselbe braungelbe Farbe und die gleichen Fasern. Allerdings habe ich diejenigen von Siri nur auf Bildern gesehen.«

»Ich weiß nicht. Ich hoffe einfach, dass mir der verdammte Algenmist nicht meine schönen Klamotten ruiniert hat«, ereiferte sich Zigerli.

Lisa war bereits in die Küche geeilt und kam kurz darauf mit einem kleinen Einmachglas wieder zurück. Mit einer Pinzette zupfte sie vorsichtig etwas von dem Pflanzenmaterial von Zigerlis Kleidern. Sie hoffte sehnlichst, dass in der Rechtsmedizin noch etwas von der Algenprobe in Siris Haar vorhanden war, damit sie einen Vergleich der beiden Muster anstellen konnte.

Würde sich herausstellen, dass die beiden Proben von ein und demselben Ort stammen?

Es gab noch eine weitere Möglichkeit den aufkeimenden Verdacht zu erhärten. Dazu musste Lisa nochmals ans Schwarzwasser, noch einmal an Zigerlis nächtlichen Badeort. Ihr war klar, dass keine 20 Kamele Zigerli diese Nacht ein weiteres Mal nach draußen in die Kälte bringen würden. Ans idyllische Schwarzwasser schon gar nicht.

»Leihst du mir kurz deine Macchina2? Ich muss nochmal zu deinem Badeplätzchen.«

»Solange ich nicht mitkommen muss, kannst du mit meinem roten Blitz hinfahren, wohin du willst.«

Wenig später deponierte Lisa den auf der kurzen Autofahrt eingenickten Zigerli in seiner Junggesellenwohnung im Mattenhofquartier. Kurz vor 1.30 Uhr befand sich Lisa wieder beim beliebten Nachtbadeort am Schwarzwasser. Würde sie noch etwas Brauchbares finden? Inzwischen hatte auch der Mond sein karges Licht ausgeschaltet. Es war mittlerweile stockdunkel. Das Schwarzwasser machte seinem Namen alle Ehre. Vom kleinen Fluss war kaum etwas zu erkennen. Ohne das leise Plätschern und Glucksen des Wassers hätte man sich nicht an einem Fluss vermutet. Die Taschenlampe erzeugte zwar einen kräftigen Lichtstrahl, dieser konnte aber immer nur ein kleines Stückchen des Flussbetts ausleuchten. Endlich fand Lisa die Stelle, wo Zigerli kurz abgetaucht war. Es kostete sie eine anständige Portion Überwindung, selbst ins eisige Nass zu steigen. Zum Glück führte der Fluss nur wenig Wasser. Nach wenigen Augenblicken stieß sie auf die Hinweise, auf welche sie gehofft hatte. Neben den von Zigerli hinterlassenen Sturzspuren konnte Lisa deutlich andere Zeichen erkennen. Diese deuteten darauf hin, dass hier vor Kurzem etwas Großes und Schweres wahrscheinlich aus großer Höhe in den Fluss gefallen war. Steine im Flussbett waren verschoben. Auf anderen Steinen waren Teile des Algenbefalls abgerieben.

Hydrurus foetidus, ging es Lisa durch den Kopf. Sollte dieses unappetitliche Flussgewächs am Ende der Schlüssel zum Rätsel um Siris Tod sein?

In Lisas Kopf ratterten die Gehirnzellen auf Hochbetrieb, obwohl es mittlerweile fast 2 Uhr geworden war. Lisa war dermaßen mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, wie ein Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern oben mitten auf der Brücke angehalten hatte. Eine hagere Gestalt beobachtete sie, seit sie unten am Fluss angekommen war. Als sich Lisa auf den Rückweg machte, schlich der Schatten leise fluchend zu seinem Fahrzeug. Dieses rollte kurz darauf lautlos und ohne Licht in die dunkle Nacht davon.

1 schwedisch und bedeutet so viel wie »verdammter Mist»

2 Italienisch und bedeutet wörtlich »Maschine«, sinngemäss »Auto»

Das Schweigen der Aare

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