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Kapitel 18

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Berner Oberland, Balisalp, 23. November 2019, 15:05

Er spürte, wie sich allmählich dieses erhabene Gefühl in ihm ausbreitete. Das Gefühl, für welches er die vergangenen 20 Jahre gelebt hatte. Das Gefühl, welches aus einer Mischung aus Stolz, Vorfreude, Erregung und Rachelust bestand.

Sein Plan war perfekt aufgegangen. Alles war viel einfacher gewesen, als er es sich vorgestellt hatte. Die kleine Schlampe hatte sich ihm nach dem Sauffest regelrecht aufgedrängt. Sie hatte sich kaum gewehrt und war nie in Hysterie verfallen. Er fragte sich, ob sie seine Gegenwart womöglich sogar genoss. In ein paar Minuten würde der Spaß beginnen. Ein weiterer Schritt zur späten Genugtuung.

Tristan saß an einem kleinen Holztisch in einer noch kleineren Küche. Sie glich eher einer Abstellkammer mit Spülbecken. Kochgelegenheit gab es keine. Wasser musste mit einem in die Jahre gekommenen Gaskocher auf dem Tisch erhitzt werden. Er befand sich in einem winzigen Chalet. Dieses lag in unmittelbarer Nähe zum Heuschober, in welchen Alva eingesperrt war.

Vor zwei Jahren hatte er auf einer Wanderung im Gras einen Schlüssel mit einem beschrifteten Anhänger gefunden. Der Fundort befand sich in der Nähe des kleinen Holzhauses. Deshalb hatte es ihn keine große Mühe gekostet, herauszufinden, dass es sich dabei um den Hausschlüssel des Miniaturchalets handelte. Der Schlüsselfund war für ihn pures Glück. Damit besaß er das perfekte Versteck. Das Häuschen war auf einen anderen Besitzer eingetragen, weshalb es nie irgendwelche Spuren zu ihm geben würde.

»Endlich kann ich mein schönes Feriendomizil sinnvoll nutzen«, sagte er zufrieden zu sich selbst. Tristan hatte das Handy von Alva wieder eingeschaltet und spielte damit. Er zappte sich durch Hunderte von Fotos. Aufnahmen, welche eine glückliche junge Dame zeigten. Am Strand von Chia, auf dem Torre Asinelli in Bologna, mit Freundinnen in London. Überall Lächeln und Glückseligkeit. Über ein Bild war er regelrecht gestolpert. Zuerst hatte er es sich minutenlang unter Tränen angeschaut. Schließlich hatte er es sich auf sein eigenes Handy geschickt. Das Foto zeigte Alva, Siri und Lisa am Aareufer bei einem Picknick. Juli 2019. Womöglich das letzte gemeinsame Sommerpicknick. Er musste Schluss machen. Ihm war bewusst, dass man das Handy orten konnte, wenn es eingeschaltet war. Den Stümpern bei der Polizei würde es ohnehin nicht groß helfen. Bis hier jemand auftauchen würde, wäre er längst über alle Berge. Weit weg.

Alva hörte, wie sich Schritte der Hütte näherten. Seine Schritte. Inzwischen kannte sie seinen Gang. Es war ein unregelmäßiger Gang. Sie hatte bemerkt, dass er leicht hinkte. Es schien, dass etwas mit seinem linken Bein nicht in Ordnung war. Vielleicht von einer früheren Verletzung oder einem Unfall?

Alva war zwar noch nicht einmal 24 Stunden in Gefangenschaft. Diese fühlten sich aber – vielleicht wegen dem fehlenden Schlaf – wie eine Ewigkeit an. Die vergangenen zwei Stunden hatte sie an nichts anderes als an eine Fluchtmöglichkeit gedacht. Erst kurz bevor er zurückkam, hatte sie einen Einfall. Hoffnung keimte auf – vielleicht die letzte Chance?

Kurz nachdem sie merkte, dass er zur Hütte kam, war Alva zur Hüttenwand gerobbt und hatte sich mit dem kleinen Metallteil, welches dort in der Holzwand steckte, an der Innenseite des Unterarms eine Wunde zugefügt. Diese blutete ziemlich stark, und sie brannte. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen, und er trat in ihr Gefängnis. Augenblicklich realisierte er, dass etwas nicht stimmte. Der Grund war nicht zu übersehen. Alvas gesamter rechter Arm war blutüberströmt. Am Boden hatte sich bereits eine kleine Blutlache gebildet.

Alva hoffte, dass ihr Peiniger ihre Wunde zumindest notdürftig verarzten würde. Dazu müsste er ihre Handfesseln lösen, um an die Wunde zu gelangen. Das wäre ihre Chance, ihre kleine Chance.

Alvas Verletzung schien ihn nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil, wieder zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. Er konnte sein Glück kaum fassen. Die doofe Zicke half ihm, sein Schauspiel noch besser werden zu lassen.

Wegen dem Knebel konnte Alava nicht sprechen. Ihr Blick flehte aber geradezu um Hilfe. Noch während Alva ihren verzweifelten, stummen Appell an ihn richtete, sah sie in seinen Augen, dass er ihr nicht helfen würde. Keine Chance. Er hatte inzwischen festgestellt, dass Alvas Wunde kaum noch blutete. Die Blutung würde bald komplett aufhören, auch ohne Verarztung. Alva bot einen erbärmlichen Anblick. Mittlerweile waren ihre Kleider und ihr Gesicht überall mit Blut verschmiert. Obwohl die Verletzung nicht bedrohlich war, sah Alva aus wie eine Schwerverletzte.

Er hatte seinen eigenen Plan. Ohne Alva eines Blickes zu würdigen, machte er sich an der Sägeapparatur zu schaffen. Kurz darauf surrte das waagrecht montierte Sägeblatt und begann, sich zu drehen. Innerhalb weniger Sekunden schwoll das Surren zu einem grässlichen Pfeifen an. Er näherte sich nun Alva und schleifte sie zur Säge. Dort stellte er sie wieder auf ihre eigenen Beine. Alva wagte nicht, sich fallen zu lassen. Sein Blick verriet, dass er daran keine Freude hätte. Er nestelte kurz in seiner Jackentasche und holte ein Handy hervor. Alvas Handy. Schließlich befahl er Alva, sich auf das Sägeblatt zuzubewegen.

Blankes Entsetzen spiegelte sich in Alvas Gesicht. Das waren exakt die Sekunden, auf welche er gewartet hatte. Er hatte sie festgehalten. Mit dem Handy gefilmt. Ein Kurzfilm – ein Horrorfilm. Das sich nähernde tödliche Sägeblatt, die blutverschmierte Alva und die nackte Todesangst. Alles in einem Film, alles echt, alles in zwölf Sekunden.

Kurz darauf verstummte das Sägeblatt, und er verließ die Hütte ohne ein weiteres Wort. Nach ein paar Minuten hörte Alva, wie der Motor des Fords aufheulte und dieser wenig später davon rollte. Zuerst spielte er mit dem Gedanken, via Gotthardtunnel und Lugano bis nach Mailand zu fahren. Da er nicht ausschließen konnte, dass bereits intensiv nach der Schlampe gesucht wurde, entschied er, dass ein Grenzübertritt zu riskant wäre und er nur bis ins Tessin fahren würde. Bei Biasca verließ er die Autobahn und fuhr weiter ins wildromantische Bleniotal. Er stoppte auf einem abgelegenen Forstweg in der Nähe von Malvaglia. Eine feine Schnee- und Eisschicht bedeckte die Straße und die umliegenden Felder. Da es inzwischen kurz vor 18 Uhr war, konnte man wegen der Dunkelheit kaum etwas von der schönen Landschaft erkennen. Als er sich sicher war, dass ihn niemand beobachtete, löschte er auf dem Handy von Alva die Standortinformationen aus seinem oscarverdächtigen Kurzfilm. Ein paar Klicks später war das Meisterwerk an die Eltern von Alva und an Lisa verschickt. Er freute sich diebisch. Zu gerne hätte er beobachtet, wie die Empfänger auf die hübsche Nachricht reagierten. Die Polizei würde rasch herausfinden, dass die Nachricht aus dem Bleniotal abgeschickt wurde. Dann würde es hier von Bullen wimmeln. Endlich wäre in dem gottverlassenen Tal mal etwas los. Leider könnte er sich das nicht live anschauen – er würde längstens über alle Berge sein. Bestens gelaunt startete er seinen Ford und befand sich bald wieder auf der Autobahn in Richtung Norden. Aus dem Autoradio dröhnte The moment of truth von Survivor. Sein Hochgefühl hätte einen krassen Dämpfer erlitten, wenn er realisiert hätte, dass ihm ein Fehler unterlaufen war.

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