Читать книгу Und ich war nie in der Schule - Andre Stern - Страница 16

Literatur

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Begonnen hat alles mit der Comtesse de Ségur. Mama hatte mir Aus den Erinnerungen eines Esels vorgelesen (bei uns wird ziemlich oft laut vorgelesen).

Daraufhin las ich all ihre Werke in der Reihenfolge, wie sie bei uns eintrafen; mit Ungeduld wartete ich immer auf den nächsten magentaroten Band. Als diese erste Lektüre beendet war (ich las damals noch sehr langsam), nahm ich mir das Werk ein zweites Mal in chronologischer Reihenfolge vor, und bei einem dritten Durchgang schließlich las ich die Bände geordnet nach ihrem inhaltlichen Zusammenhang. Im Anschluss daran beschäftigte ich mich mit zwei Biografien der Comtesse de Ségur und gelangte über die Vertiefung in ihr Leben zu den hervorragenden Büchern ihres Sohnes.

In diesem Stadium ließ mir das Lesen noch viel Raum für andere Beschäftigungen; das änderte sich erst, als ich Bekanntschaft mit Balzac machte. Jetzt ging ich nach einer ähnlichen »Methode« vor – nur, dass ich jetzt sechs Stunden am Tag las.

Eines Morgens dann – ich muss ungefähr 15 Jahre alt gewesen sein – war Papa dabei, Bücher zu sortieren. Er öffnete einen schmalen alten beigefarbenen Band, der diesen typischen Geruch verströmte. Papa war berührt; er traf auf einen alten Freund.

Und er las mir die ersten Zeilen vor: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen...«

Proust trat in mein Leben, um zu bleiben.

Ich fand bei ihm in geordneter Form, was in mir in Unordnung gärte. Die Welt, die sich mir erschloss, und vor allem sein Blick entsprachen in vielerlei Hinsicht meiner eigenen Welt und meiner Sicht der Dinge – die ich dabei entdeckte. Proust ergründete Gefühle und Situationen und machte mir damit begreiflich, was ich selbst seit einiger Zeit tat. Er zeigte mir nicht, wie ich zu leben hatte, er half mir, meine eigene Welt zu entdecken. Er lehrte mich nicht die Geografie des Landes, das er sich erobert hatte, er regte mich an, meine eigenen Kontinente zu finden und zu erkunden, zu respektieren und wertzuschätzen.

Vieles von dem, was mich heute charakterisiert, hat mir erst die Erlaubnis, die Proust mir damals gab, zugestanden.

Wie alle meine Leidenschaften nahm mich auch die Passion für Proust nahezu vollständig ein und prägte alle Bereiche meines Lebens.

Ich passte meinen Haarschnitt dem seinen an und ließ mir einen jugendlichen Schnurrbart stehen, um ihm ähnlicher zu werden. Ich hatte eine große Anzahl an Biografien über ihn sowie seine Briefe gelesen und mir jedes Bild von ihm eingeprägt; ich hatte seine Posen, seinen Kleidungsstil und seine Unterschrift so genau studiert, dass ich sie getreu imitieren konnte.

Nicht nur, dass ich für Fotos seine berühmte Pose einnahm, ich trug auch im modernen Pariser Großstadtleben schwarzen Anzug, weißes Hemd und Künstlerschleife. Und ich verließ das Haus nie ohne einen der altmodischen Spazierstöcke, die ich gesammelt hatte. Ich lebte diese Leidenschaft mit Leib und Seele, und niemand nahm Anstoß daran.

In meinen eigenen Schriften übte ich mich im »Proust'schen Stil«. Ich bildete lange Sätze mit unüblichen Worten, die niemand versteht, aber die tatsächlich existieren – ich suchte sogar nach ihnen im Wörterbuch. Das Ganze mündete schließlich in ein so grauenhaftes Kauderwelsch, dass ich von selbst irgendwann wieder davon abkam.


Der nächste Schriftsteller, der mich vereinnahmte, wenn auch weniger ausschließlich, war Albert Camus – kaum jemandes Stil ist unterschiedlicher zu Proust als seiner. Später folgten noch Hugo Hartung und Richard Bach.

Und eine Weile gab ich mich meiner Begeisterung für Märchen aller Epochen und Ursprünge hin.

Ich verzichte darauf, hier eine vollständige Liste aller Autoren aufzuführen, für die ich mich interessierte, ohne aber deshalb sämtliche Werke oder Biografien zu lesen.

Worauf es mir ankommt, ist zu zeigen, mit welcher Ruhe und Hingabe ich mich der Literatur widmete. Im Gegensatz zu dem, was in den Schulen passiert, habe ich nicht einige Auszüge aus dem Werk eines Autors überflogen und bin dann jäh zum nächsten übergegangen, musste nicht einige Pflichtlektüren absolvieren und eine Handvoll vermeintlich wichtiger Fakten und Daten auswendig lernen.

Ein Schriftsteller, ein Thema durchdrang zum jeweiligen Zeitpunkt stets mein ganzes Leben und streifte es nicht bloß oberflächlich.

Ich las. Manchmal vertiefte ich mich in die Bücher gleich nach dem Aufwachen, unterbrach die Lektüre lediglich für die Mahlzeiten und setzte sie nachts im Bett mit der Taschenlampe fort.

Keine Planung, kein Programm, keine Meinung, kein Eingreifen unterbrach mein Lesen, störte meine Konzentration, dämpfte meinen Überschwang oder brachte mich von meinem Weg ab.

Und ich war nie in der Schule

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