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Die griechische Philosophie der Spätantike

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Die heidnische griechische Philosophie war jedoch zu der Zeit, als Boethius den Tod fand, noch nicht zu Ende gegangen: In den Schulen von Athen und Alexandria wurde noch studiert und gelehrt. Der Leiter der Schule Athens war im vorausgehenden Jahrhundert der geschäftige und gelehrte Proklos gewesen, von dem man sagte, er könne an jedem Arbeitstag fünf Vorlesungen und 700 Zeilen philosophischer Prosa schreiben. Proklos verfasste Kommentare zu mehreren platonischen Dialogen und ein enzyklopädisches Werk über Plotins Enneaden. Seine Elemente der Theologie dienten, selbst in der Neuzeit, als praktisches Kompendium des Neuplatonismus.

Proklos’ System basiert zwar auf Plotins Trinität des Einen, des Geistes und der Seele, aber er entwickelt Plotins Ideen durch eine Vervielfältigung von Triaden und eine Theorie ihrer Funktion weiter (ET 25–39). Innerhalb jeder Triade findet ein Entwicklungsprozess statt. Aus dem Ursprungselement der Triade entspringt ein neues Element, das von derselben Natur ist, aber dennoch von ihr verschieden. Dieses neue Element bleibt an seinem Ursprung, geht darüber hinaus und kehrt wieder zu ihm zurück. Dieses Entwicklungsgesetz steuert eine ungeheure Proliferation von Triaden. Aus dem anfänglichen Einen geht eine Reihe göttlicher Einheiten hervor (Henaden) (ET 113–65). Gemeinsam bringen die Henaden die Welt des Geistes hervor, die in die Sphären des Seins, des Lebens und des Denkens unterteilt ist. In der nächsten, niedrigeren Welt, derjenigen der Seele, stellt Proklos einen Wohnort für die traditionellen Götter des heidnischen Pantheons bereit. Die sichtbare Welt, in der wir leben, ist das Werk dieser göttlichen Seelen, die sie durch ihre Vorsehung leiten.

Nach Proklos haben menschliche Wesen an den drei Welten von Seele, Geist und dem Einen teil (ET 190–7). In ihrer Verbindung mit unserem tierischen Körper drückte die menschliche Seele sich im Eros aus und ist auf irdische Schönheit konzentriert. Sie verfügt jedoch auch über einen unvergänglichen, ätherischen Körper aus Licht. Auf diese Weise überschreitet sie die Liebe der Schönheit in der Suche nach Wahrheit, durch die sie mit den idealen Wirklichkeiten der Welt des Geistes in Kontakt kommt. Doch sie verfügt über eine noch höhere Fähigkeit als das Denken, und diese bringt sie, durch mystische Ekstase, in die Einheit mit dem Einen.

Die Theorie der Triaden weist zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit der christlichen Lehre von der Trinität auf, tatsächlich war Proklos jedoch, obwohl er zahlreichen Aberglauben anhing, ein erbitterter Gegner des Christentums. Man behauptete von ihm, er habe nicht weniger als 18 verschiedene Widerlegungen der christlichen Schöpfungslehre verfasst. Dennoch fanden zahlreiche seiner Ideen auf Umwegen Eingang in die Grundvorstellungen des christlichen Denkens. Boethius stützte sich häufig, wenn auch unausdrücklich, auf dessen Werk. Ein zeitgenössischer christlicher Neuplatoniker schrieb eine Reihe von durch Proklos inspirierte Abhandlungen und gab sie als das Werk des Dionysios von Areopagita aus, der in Athen ein Gefährte des Paulus war (Apostelgeschichte 17). Ein weiterer Weg, auf dem Proklos’ Ideen in die Philosophie des Mittelalters einflossen, war ein als Liber de Causis bekanntes Buch, das unter dem Namen des Aristoteles zirkulierte. Selbst Thomas von Aquin, der wusste, dass das Buch nicht von Aristoteles selbst stammte, behandelte es mit großem Respekt. In Alexandria, wo es im fünften Jahrhundert einen mächtigen christlichen Patriarchen gab, waren die Bedingungen für eine Blüte der heidnischen Philosophie weniger günstig als in Athen. Hypatia, eine neuplatonische Mathematikerin und Astronomin, ragt aus der männlichen Welt der Philosophie ebenso heraus wie Sappho aus der männlichen Welt der Dichtung. Während Augustinus seinen Gottesstaat schrieb, wurde Hypatia von einer Meute fanatischer Christen in Stücke gerissen (AD 415).10

Der wichtigste Philosoph der Schule von Alexandria war in ihrer Endphase Ammonius, ein älterer Zeitgenosse von Boethius. Seine Wirksamkeit als Lehrer war größer als die als Autor, und er verdankt seine Berühmtheit dem Rang seiner zwei bekanntesten Schüler: Simplicius und Philoponos.

Diese beiden Philosophen lebten zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Justinian, der im Jahre 527, zwei oder drei Jahre nach der Hinrichtung von Boethius, den römischen Thron bestieg. Justinian war von den byzantinischen Kaisern der am meisten gefeierte, der sowohl als Eroberer als auch als Gesetzgeber Berühmtheit erlangte. Seine Generäle eroberten große Teile des früheren westlichen Reiches und vereinigten sie eine Zeit lang unter der Herrschaft von Konstantinopel. Seine Rechtsgelehrten sammelten sämtliche noch erhaltenen Edikte und Statuten der Kaiserzeit, fassten sie zu einem einzigen Gesetzbuch zusammen und versahen es mit einem Anhang, der aus einer Auswahl juristischer Kommentare bestand. Das bürgerliche Gesetzbuch, das während seiner Regierungszeit entstand, hat auf die meisten europäischen Staaten bis in die Neuzeit einen Einfluss ausgeübt.

Justinians Herrschaft war allerdings für die Philosophie nicht ebenso förderlich wie für die Jurisprudenz. Die Schule von Athen setzte die antichristliche neuplatonische Tradition von Proklos fort, wodurch sie beim Kaiser in Ungnade fiel. Simplicius gehörte zur letzten Gruppe von Gelehrten, die der Schule Glanz verliehen. Mit großer Mühe und Gelehrsamkeit verfasste er Kommentare zu Aristoteles, dessen Lehren er mit dem Denken Platons, wie es in der Spätantike verstanden wurde, in Einklang bringen wollte. Gelehrte späterer Generationen sind ihm zu Dank verpflichtet, da er bei der Durchführung dieser Absicht seine Vorgänger ausgiebig zitierte, sogar bis hin zu den Vorsokratikern. Für viele der von ihnen überlieferten Fragmente ist er unsere Quelle. Simplicius arbeitete noch dort, als Justinian die Schule wegen ihrer antichristlichen Tendenz schließen ließ. Sein Edikt ordnete, in den Worten von Gibbon, „den Schulen von Athen ewiges Schweigen an und erregte den Kummer und die Entrüstung der wenigen verbleibenden Verehrer der griechischen Wissenschaft und des griechischen Aberglaubens“ (Verfall und Untergang, Kap. 40).


In diesem viktorianischen Gemälde von C. W. Mitchell sucht die heidnische Philosophin Hypatia, bedrängt von einer christlichen Meute, Zuflucht an einem Altar.


Dieses Mosaik aus San Vitale in Ravenna zeigt Kaiser Justinian und seinen Hofstaat.

Auch Philoponos hatte unter Justinian zu leiden, jedoch aus anderen Gründen. Während Simplicius ein heidnischer Philosoph in Athen war, war Philoponos ein christlicher Philosoph in Alexandria. Während Simplicius Aristoteles’ glühendster Verehrer in der Antike war, war Philoponos sein strengster Kritiker. Frühere Philosophen hatten Aristoteles entweder ignoriert (wie die Epikureer und Stoiker) oder ihn auf vermittelnde Weise interpretiert (wie die Neuplatoniker). Philoponos verfügte über eine umfassende Kenntnis seiner Schriften und griff ihn direkt an.

Als Christ verwarf Philoponos die Lehre von der Ewigkeit der Welt und ließ Aristoteles’ und Proklos’ Argumente für die These, die Welt habe keinen Anfang gehabt, nicht gelten. Er führte seinen Angriff durch die gesamte Physik des Aristoteles. Er verwarf die Theorien der natürlichen Bewegung und des natürlichen Ortes und bestritt, dass die Himmelskörper von physikalischen Prinzipien gelenkt würden, die von denen auf der Erde gültigen verschieden waren.11 Es entsprach seiner christlichen Frömmigkeit, die Vorstellung zu beseitigen, dass die Welt der Sonne, des Mondes und der Sterne etwas Übernatürliches sei, das zu Gott in einer anderen Beziehung stehe als die Erde, auf der seine menschlichen Geschöpfe leben.

Philoponos schrieb Abhandlungen über die christliche Lehre und Kommentare über Aristoteles. Sie wurden von den orthodoxen Aristotelikern jedoch nicht angenommen, da sie glaubten, seine Behandlung der Trinität setze ihn dem Vorwurf aus, er glaube an drei Götter. Erstaunlicherweise akzeptierte er den platonischen Glauben an die Existenz der menschlichen Seele vor der Empfängnis. Noch erstaunlicher ist, dass dieser Glaube seine christlichen Brüder anscheinend nicht beunruhigt hat. Doch wie viele frühere alexandrinische Christen war er Monophysit. Er glaubte, dass der inkarnierte Christus nur eine einzige Natur besaß und nicht, wie es vom Konzil von Chalcedon festgelegt worden war, zwei Naturen: eine menschliche und eine göttliche. Er wurde zur Verteidigung seiner Auffassungen über die Inkarnation vom Kaiser nach Konstantinopel zitiert, doch er kam dieser Aufforderung nicht nach. Philoponos überlebte Justinian um einige Jahre, wurde aber nach dessen Tod für seine häretischen Lehren über die Trinität verurteilt. Er war der letzte bedeutende Philosoph der Antike, und nach seinem Tod fiel die Philosophie für zwei Jahrhunderte in einen Winterschlaf.

Zwischen 600 und 800 schrumpfte das frühere Römische Reich so sehr, dass es schließlich nur noch aus kaum mehr als Griechenland, dem Balkan und einem Teil Kleinasiens bestand. Intellektuelle Fähigkeiten wurden weitestgehend auf theologische Dispute verwandt. Die monophysitische Kirche, der Johannes Philoponos angehört hatte, wurde von den Orthodoxen, die glaubten, Christus habe nicht nur eine, sondern zwei Naturen, eine menschliche und eine göttliche, aus der Abendmahlsgemeinschaft ausgeschlossen. Während des siebten Jahrhunderts versuchten Kaiser und Patriarchen die christlichen Gemeinschaften wieder zu vereinigen, indem sie sich darauf einigten, dass Christus – selbst wenn er zwei Naturen hatte – dennoch nur einen Willen hatte; oder dass – selbst wenn er zwei Willen hatte, einen menschlichen und einen göttlichen – diese beiden in einer einzelnen Aktivität des Wollens, einer einzigen Wirklichkeit oder energeia zusammengefasst waren. Ein pensionierter kaiserlicher Beamter namens Maximus widersetzte sich jeglichem Zugeständnis dieser Art auf nachhaltigste Weise. Wortreich schrieb er gegen den „Monothelitismus“, die Lehre vom einzigen Willen.

Maximus, der den Beinamen „der Bekenner“ bekam, konnte erreichen, dass die Lehren vom einzigen Willen und von der einzigen Wirklichkeit auf einem Konzil in Rom im Jahre 649 verworfen wurden. In Konstantinopel wurde diese Entscheidung im Jahre 681 bestätigt. Der menschliche Wille Christi und der göttliche Wille befanden sich immer in vollkommener Übereinstimmung, doch waren es zwei getrennte Entitäten. Um die Hüter des rechten Glaubens von dieser Lehre zu überzeugen, musste Maximus die Begriffe des Willens und der Wirklichkeit einer genauen Analyse unterziehen. Das deutsche Wort „Wille“ und seine Entsprechungen und die verwandten Wörter im Griechischen (thelesis/thelema) und Lateinischen (voluntas) können eine Eigenschaft bezeichnen (wie in dem Satz „Menschen haben einen freien Willen, Tiere nicht“), eine Disposition des Willens (zum Beispiel eine Bereitschaft zum Martyrium), einen Akt (zum Beispiel das Ja-Wort [engl. „I will“] in einer Eheschließungszeremonie) oder etwas Gewolltes (wie in dem Satz „Dein Wille geschehe“). Maximus unterzog diese Begriffe einer sorgfältigen und zum Teil originellen Analyse: Seine Untersuchungen waren jedoch nicht so originell, dass er – wie einige glauben – es verdiente, als Erfinder des generellen Willensbegriffs zu gelten (PG 90).12

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