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Avicenna und seine Nachfolger

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Der größte aller muslimischen Philosophen war Ibn Sina, im Abendland bekannt als Avicenna (980–1037). Er war Perser und wurde in der Nähe von Bokhara im heutigen Usbekistan geboren. Er erhielt seine Ausbildung in arabischer Sprache, in der er die meisten seiner Werke schrieb. Man sagte von ihm, er habe bereits als Teenager die Fächer Logik, Mathematik, Physik und Medizin beherrscht. Im Alter von 16 Jahren begann er, als Arzt zu praktizieren. In seiner Autobiografie, die von seinem Schüler Juzjani herausgegeben wurde, beschreibt er, wie er sich dann der Philosophie zuwandte:

„Für anderthalb Jahre widmete ich mich dem Studium. Ich setzte das Studium der Logik und aller Teile der Philosophie fort. Während dieser Zeit schlief ich nie durch die ganze Nacht und widmete mich den ganzen Tag über ausschließlich dem Lernen. Immer, wenn ich einem Problem begegnete […], ging ich in die Moschee, betete und bat den Schöpfer aller Dinge, mir dasjenige zu enthüllen, was mir verborgen war, und das Schwere für mich leicht zu machen. Des Nachts kam ich dann nach Hause, stellte eine Lampe vor mich hin und begann zu lesen und zu schreiben.“20

Auf diese Weise, teilt er uns mit, beherrschte er im Alter von 18 Jahren alle Wissenschaften. Mit 20 Jahren gab er eine Enzyklopädie heraus – die erste der fünf, die er im Laufe seines Lebens schreiben sollte, wovon er vier auf Arabisch und eine auf Persisch verfasste.

Avicennas Geschick als Arzt war sehr gefragt. Man rief ihn herbei, um den Sultan von Bokhara zu behandeln, und er machte ausgiebigen Gebrauch von dessen stattlicher Bibliothek. Von 1015 bis 1022 war er Leibarzt und Wesir des Herrschers von Hamadan. Später bekleidete er eine ähnliche Position am Hof von Isfahan. Er hinterließ mehr als 200 Werke, von denen über 100 überlebt haben. Sein Kanon der Medizin fasst ein umfangreiches, klassisches klinisches Material zusammen und fügt eigene Beobachtungen hinzu. Er wurde von praktizierenden europäischen Ärzten bis ins 17. Jahrhundert verwendet.

Die wichtigste philosophische Enzyklopädie Avicennas wurde auf Arabisch Kitab-al-Shifa, „Buch der Heilung“, genannt. Sie hat vier Teile, von denen die ersten drei die Logik, Physik und Mathematik behandeln. Der zweite Teil umfasst eine Darstellung von Aristoteles’ De Anima. Der vierte Teil, dessen arabischer Titel die Bedeutung „Von göttlichen Dingen“ hat, war im abendländischen Mittelalter als seine Metaphysik bekannt. Nachdem sie 1150 in Toledo ins Lateinische übersetzt worden war, übte sie einen enormen Einfluss auf die lateinische Philosophie des Mittelalters aus.

Avicenna sagte, er habe die Metaphysik des Aristoteles 40 Mal gelesen und auswendig gelernt, ohne sie verstanden zu haben. Was mit der Theorie des Seienden als Seienden gemeint ist, habe er erst verstanden, nachdem er auf einen Kommentar von al-Farabi gestoßen sei.21 Seine eigene Metaphysik ist wesentlich mehr als ein Kommentar zu Aristoteles: Sie ist ein gründlich durchdachtes, eigenständiges System. Das Buch umfasst zehn Abhandlungen und zerfällt in zwei Teile: Die ersten fünf Bücher behandeln die Ontologie, die Wissenschaft vom Sein im Allgemeinen, während die restlichen Bücher hauptsächlich der natürlichen Theologie gewidmet sind. In den frühen Büchern behandelt Avicenna die Begriffe Substanz, Materie und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit sowie das Universalienproblem. In den späteren Büchern analysiert er das Wesen der ersten Ursache und den Begriff eines notwendigen Wesens sowie die Art und Weise, auf die Kreaturen, und insbesondere der Mensch, ihr Wesen von der Natur Gottes erlangen.

Als ein Beispiel dafür, wie Avicenna die aristotelischen Begriffe modifiziert, wollen wir uns seine Lehre von Stoff und Form genauer ansehen. Er behauptet, dass jede körperliche Entität aus Materie und einer substanziellen Form besteht, einer Form der Körperlichkeit, die sie zu einem Körper macht. Alle körperlichen Geschöpfe gehören zu einer bestimmten Art, doch jede solche Kreatur, wie zum Beispiel ein Hund, verfügt nicht nur über eine, sondern über viele substanzielle Formen: Zusätzlich zur Körperlichkeit verfügt er über die Formen der Tierheit und „Hundheit“. Da Seelen für einen Aristoteliker Formen sind, haben Menschen nach dieser Theorie drei Seelen: eine vegetative Seele (verantwortlich für Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung), eine tierische Seele (verantwortlich für Bewegung und Wahrnehmung) und eine rationale Seele (verantwortlich für vernünftiges Denken). Keine dieser Seelen hat eine Präexistenz, doch während die beiden unteren Seelen sterblich sind, ist die höchste unsterblich und überlebt den Körper im Zustand der Seligkeit oder Verdrossenheit, je nachdem, was sie durch ihren Lebenswandel verdient hat. Avicenna schloss sich al-Farabis Deutung von Aristoteles’ Geistlehre an und nahm, zusätzlich zum rezeptiven Geist des Menschen, der die über die Sinne zu ihm gelangenden Informationen verarbeitet, einen einzigen übermenschlichen aktiven Intellekt an, der Menschen die Fähigkeit verleiht, allgemeine Begriffe und Prinzipien zu erfassen.22

Bei der Beschreibung der einzigartigen Natur Gottes führte Avicenna eine neuartige Idee ein, die in der gesamten Metaphysik nach ihm eine zentrale Rolle einnahm: den Unterschied zwischen Wesen und Existenz.23 Bei allen Kreaturen sind Wesen und Existenz verschieden: Selbst die vollständigste Untersuchung der Frage, um was für ein Ding es sich bei einer bestimmten Art handelt, beweist nicht, dass irgendwelche Exemplare dieser Art existieren. Bei Gott verhält es sich anders: In seinem Fall, und nur in seinem, beinhaltet das Wesen die Existenz. Gott ist das einzige notwendige Wesen und alle anderen sind kontingent. Da Gottes Existenz nur von seinem Wesen abhängt, ist sie ewig, und Avicenna schlussfolgert, dass die aus ihm hervorgehende Welt ebenfalls ewig ist.24

Obwohl er die islamischen Vorschriften nicht immer einhielt, war Avicenna ein überzeugter Muslim und darum bemüht, sein philosophisches Schema mit den Lehren und Geboten des Propheten in Einklang zu bringen. Seine systematische Behandlung der Religion im zweiten Teil seiner Metaphysik beruft sich jedoch keineswegs in besonderer Weise auf die Autorität des Koran. Sie liefert zwar rationalistische Rechtfertigungen für islamische Rituale und soziale Praktiken (einschließlich der Polygamie und der Unterordnung der Frau), basiert jedoch auf religiösen Prinzipien allgemeiner und philosophischer Art. Dies war der Grund dafür, dass seine Schriften Einfluss auf die katholischen Philosophen des lateinischen Abendlandes ausüben konnten. Allerdings war sein Werk konservativen Muslimen aus demselben Grund suspekt. Da er die Gunst von Fürsten genoss, entging er jedoch konkreter Verfolgung. Er starb im Jahre 1037 in Hamadan, während unter der Führung des Herrschers von Isfahan gegen diese Stadt ein Krieg geführt wurde. Er nahm ein Gift ein, das fälschlicherweise als Medikament für eine Erkrankung verschrieben worden war, an der er aufgrund seines ausschweifenden Lebens litt.

Solomon Ibn Gabirol (ca. 1021–1058), ein jüngerer Zeitgenosse Avicennas, bereicherte die Metaphysik um einen eigenständigen Beitrag. Obwohl er ein frommer Jude und liturgischer Dichter war, verfasste er eine philosophische Schrift, Die Quelle des Lebens, die mit keiner Spur ihren jüdischen Ursprung zu erkennen gibt. Daher nahm man, als sie in der Mitte des elften Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt wurde, an, sie sei das Werk eines Muslims, dem man im Abendland den Namen Avicebron gab.

Die Grundzüge von Ibn Gabirols System sind neuplatonisch, doch es enthält ein neuaristotelisches Element. Er behauptete, alle geschaffenen Substanzen, seien sie körperlich oder geistig, irdisch oder himmlisch, seien aus Materie und Form zusammengesetzt. Es gebe sowohl eine geistige als auch eine körperliche Materie: Das Universum ist eine Pyramide mit einer immateriellen Gottheit an der Spitze und formloser Materie am unteren Ende. Da man in seinem System „materiell“ nicht länger mit „körperlich“ gleichsetzen kann, muss Ibn Gabirol, wie Avicenna, eine Form der Körperlichkeit einführen, um Körper zu Körpern machen zu können. Ibn Gabirols universaler Hylomorphismus sollte auf den lateinischen Aristotelismus des 13. Jahrhunderts einen beträchtlichen Einfluss ausüben (PMA 359–367).

In der Zwischenzeit kam es im elften Jahrhundert im Christentum und im Islam aufseiten konservativer Theologen zu einer Reaktion gegen die Philosophie. Der heilige Peter Damiani (1007–1072), der über philosophische Kritik an katholischen Glaubensüberzeugungen bezüglich der Eucharistie verärgert war, trompetete in die Welt hinaus, dass es Gott nicht gefallen habe, sein Volk durch Dialektik zu erlösen. Allerdings machte er bei der Erörterung der göttlichen Attribute selbst von philosophischen Schlussfolgerungen Gebrauch, was ihn zu einigen merkwürdigen Ergebnisse führte. Gerieten diese mit dem Prinzip vom verbotenen Widerspruch im Konflikt, dann möge es so sein: Die Logik sei nicht die Herrin, sondern die Dienerin der Theologie.25

Gegen Ende des Jahrhunderts schrieb der persische Philosoph und Mystiker al-Ghazali (1058–1111) ein Werk, Tahafut al-falasifa („Die Inkohärenz der Philosophen“), in dem er nicht nur zu zeigen versuchte, dass muslimische Philosophen, insbesondere Avicenna, Häretiker des Islam waren, sondern dass sie auch, gemessen an ihren eigenen philosophischen Einsichten, fehlbar und inkohärent waren. Seine Kritik von Avicennas Argumenten für die Existenz Gottes und für die Unsterblichkeit der Seele war häufig stichhaltig. Doch er ist heute am besten dafür bekannt, dass seine Inkohärenz die Antwort eines bedeutenderen Philosophen des zwölften Jahrhunderts herausforderte: Averroes.

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