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Philosophie im karolingischen Reich

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Außerhalb des Römischen Reiches änderte sich die Welt so grundlegend, dass sie nicht wiederzuerkennen war. Der Prophet Mohammed starb im Jahre 632, und innerhalb von zehn Jahren verbreitete sich die Religion des Islam durch Eroberungen von seinem Ursprungsland Arabien durch das angrenzende Persische Reich und die römischen Provinzen Syrien, Palästina und Ägypten. Im Jahre 698 nahmen die Muslime Karthago ein und zehn Jahre später beherrschten sie ganz Nordafrika. 711 überquerten sie die Straße von Gibraltar, besiegten mühelos die gotischen Christen und strömten nach Spanien ein. Erst im Jahre 732 konnte ihr Vordringen nach Nordeuropa gestoppt werden, als sie bei Poitiers von dem fränkischen Herrscher Karl Martell besiegt wurden.

Der Enkel Karl Martells, Karl der Große, der 768 König der Franken wurde, drängte die Muslime zu den Pyrenäen zurück, versuchte aber nicht, ihnen ihre spanischen Herrschaftsbereiche streitig zu machen. Im Osten eroberte er jedoch die Lombardei, Bayern und Sachsen, und er ließ seinen Sohn zum König von Italien ausrufen. Als Papst Leo III. durch eine Revolution aus Rom vertrieben wurde, sorgte Karl der Große dafür, dass er seinen Heiligen Stuhl wiedergewann. Aus Dankbarkeit krönte ihn der Papst am Weihnachtstag des Jahres 800 zum Römischen Kaiser, an einem Datum, das zwar nicht das denkwürdigste der Geschichte, dafür aber dasjenige ist, welches man sich am einfachsten merken kann. So begann das Heilige Römische Reich, in dem im Jahre 814, dem Todesjahr Karls des Großen, fast die gesamte christliche Bevölkerung des westeuropäischen Kontinents lebte.

Karl der Große bemühte sich darum, in den von ihm beherrschten Gebieten das Bildungswesen und die Kultur zu fördern. In seine Haupt-Stadt Aachen holte er Gelehrte aus verschiedenen Teilen Europas, um eine „Hofschule“ zu gründen. Einer der bedeutendsten unter ihnen war Alkuin aus York, der an Aristoteles’ Kategorien ein besonderes Interesse hatte. In dem von ihm in Dialogform verfassten Logiklehrbuch, Dialectica, stellt der Schüler Karl die Fragen und der Lehrer Alkuin gibt die Antworten. In seinen letzten Lebensjahren zog sich Alkuin in das Kloster St. Martin in Tours zurück, dessen Abt er später wurde, um dort eine kleine Schule zu leiten. Er sagte dem Kaiser, er verbringe seine Zeit damit, seinen Schülern den Honig der Heiligen Schrift, den Wein der klassischen Literatur und die Äpfel der Grammatik auszuteilen. Einen kleinen Kreis Privilegierter führte er in die Reichtümer der Astronomie ein, des Lieblingsfachs Karls des Großen.

Als die Philosophie zwischen dem neunten und elften Jahrhundert zu neuem Leben erwachte, geschah dies nicht innerhalb des alten Römischen Reiches von Byzanz, sondern im Fränkischen Reich der Nachfolger von Karl dem Großen und am abbasidischen Hof im muslimischen Bagdad. Die führenden Philosophen dieser Wiederbelebung waren im Westen Johannes Scotus und im Osten Ibn Sina (Avicenna).

Johannes wurde im ersten Jahrzehnt des neunten Jahrhunderts in Irland geboren. Er darf mit dem bekannteren Johannes Duns Scotus, der im 14. Jahrhundert Berühmtheit erlangte, nicht verwechselt werden. Es ist zweifellos verwirrend, dass es zwei mittelalterliche Philosophen mit dem Namen Johannes Scotus gibt. Was die Sache gleich doppelt verwirrend macht, ist die Tatsache, dass einer von ihnen Ire war und der andere, für den Zweck dieser Darstellung, Engländer. Der Philosoph des neunten Jahrhunderts gab sich, um Verwechselungen auszuschließen, den Nachnamen Eriugena, was „Sohn Irlands“ bedeutet.

Im Jahre 851 war Eriugena von Irland an den Hof Karls des Kahlen gegangen, des Enkels von Karl dem Großen. Dieser befand sich wahrscheinlich bei Compiègne, das Karl in Analogie zu Konstantinopel in Karlopolis umbenennen wollte. Karl der Kahle liebte alles Griechische, und der erstaunlich gelehrte Eriugena, der (man weiß nicht wo) Griechisch gelernt hatte, gewann dessen Gunst und schrieb ihm schmeichelhafte Gedichte in dieser Sprache. Er unterrichtete am Hof eine Zeit lang die Freien Künste, doch begann er, sich zunehmend für Philosophie zu interessieren. Als er einmal einen Text aus dem Grenzgebiet zwischen Grammatik und Logik kommentierte, schrieb er: „Niemand gelangt in den Himmel, es sei denn durch Philosophie.“13

Eriugena beschäftigte sich erstmals mit Philosophie, als er im Jahre 851 von Hinkmar, dem Erzbischof von Reims, eingeladen wurde, eine Widerlegung der Ideen eines gelehrten, pessimistischen Mönchs namens Gottschalk zu verfassen. Gottschalk hatte das Problem der Prädestination an dem Punkt wieder aufgenommen, an dem Augustinus es liegen gelassen hatte. Er soll aus den Texten des Augustinus etwas abgeleitet haben, was in ihnen im Allgemeinen unausgesprochen gelassen war, nämlich dass die Prädestination für Sünder ebenso galt wie für Heilige. Er lehrte, dass nicht nur das Schicksal der Seligen im Himmel vorherbestimmt sei, sondern dass auch die Verdammten für die Hölle prädestiniert waren, schon bevor sie empfangen wurden. Diese Lehre von der doppelten Prädestination schien Erzbischof Hinkmar häretisch. Zum wenigsten hielt er die Lehre, wie die Mönche zur Zeit des Augustinus, für ein Hindernis einer guten, monastischen Disziplin: Sünder könnten den Schluss ziehen, dass es – da ihr Schicksal schon lange feststeht – zwecklos sei, das Sündigen aufzugeben. Dies war der Grund für seine Einladung an Eriugena, die Lehre Gottschalks zu widerlegen (PL 125. 84f.).

Gottschalks Ansichten mögen korrekt wiedergegeben worden sein oder nicht: Eriugenas Widerlegung seiner angeblichen Häresie war aus der Sicht Hinkmars noch schlimmer als die Krankheit, die sie hatte heilen sollen. Eriugenas Argumente waren schwach, und indem er die Prädestination der Verdammten angriff, untergrub er die Prädestination der Seligen. Es konnte ihm zufolge keine doppelte Prädestination geben, da Gott einfach und ungeteilt war, und es konnte so etwas wie Prädestination nicht geben, weil Gott ewig war. Das erste Argument ist nicht überzeugend: Wenn durch eine doppelte Prädestination die Einfachheit Gottes infrage gestellt wird, so geschieht dies auch durch die Unterscheidung zwischen Prädestination und Voraussicht, welches die von den Gegnern Gottschalks bevorzugte Lösung war. Das zweite Argument bietet den Sündern nicht den gewünschten Anreiz zur Buße, denn welche zeitliche Qualifikation wir der göttlichen Bestimmung unseres Schicksals auch immer geben mögen: Augustinus’ Sicht zufolge hängt es gewiss von keiner unserer Entscheidungenab (CCCM 50. 12).

Das fränkische Königreich wurde von Lehrstreitigkeiten zerrissen, und sowohl Gottschalk als auch Eriugena wurden schließlich von Konzilien der Kirche verurteilt. Die Synode von Quierzy im Jahre 853 – das dritte einer Reihe von Treffen – legte gegen Gottschalk fest, dass Gott – obwohl er die Seligen für den Himmel vorherbestimmt – andere nicht zur Sünde vorherbestimmt: Er beließ sie einfach in der großen Zahl der ins Verderben gehenden Menschen und bestimmte nur ihre Strafe, nicht ihre Schuld vorher. Die Verurteilung Eriugenas im Jahre 855 in Valence bekräftigte, dass es in der Tat eine Vorherbestimmung der Gottlosen zum Tod, ebenso wie eine Vorherbestimmung der Erwählten zum Leben gebe. Der Unterschied sei folgender: Bei der Erwählung der Geretteten gehe die Gnade Gottes allem Verdienst voraus, während im Fall der Verdammnis derjenigen, die ins Verderben gehen würden, das Böse seinen Lohn vor dem gerechten Urteil empfange. Die Kirchenväter waren über gewöhnliche Schmähungen nicht erhaben und meinten, Eriugena habe die Reinheit des Glaubens mit widerlichem irischem Brei besudelt.

Trotz seiner Verurteilung fiel Eriugena bei Karl dem Kahlen nicht in Ungnade, und dieser beauftragte ihn im Jahre 858, drei Abhandlungen von Dionysios Areopagita ins Lateinische zu übersetzen: die Göttlichen Namen, die Himmlische Hierarchie und die Kirchliche Hierarchie. Er fand die neuplatonischen Ideen von Dionysios seinem Geist verwandt und entwickelte später ein eigenes, ähnliches System. Dieses fünfbändige Werk trug den Titel Über die Natur oder – um ihm seinen griechischen Titel zu geben – Periphyseon.

Eriugena zufolge ist die Natur in vier große Bereiche unterteilt: die schaffende und ungeschaffene Natur, die geschaffene und schaffende Natur, die geschaffene und nicht schaffende Natur sowie die nicht schaffende und ungeschaffene Natur (Periph. 1. 1). Die erste dieser Naturen ist Gott, die zweite ist die intellektuelle Welt der platonischen Ideen, die die dritte Natur schuf, die Welt der materiellen Gegenstände. Die vierte ist wiederum Gott, verstanden nicht als Schöpfer, sondern als das Ziel, zu dem die Dinge zurückkehren.

Nach Eriugena ist die wichtigste Unterscheidung in der Natur diejenige zwischen den Dingen, die es gibt, und denjenigen, die es nicht gibt. Es ist befremdlich, gesagt zu bekommen, Gott gehöre zu den Dingen, die es nicht gibt. Eriugena will damit jedoch nicht sagen, dass es keinen Gott gibt, sondern dass Gott in keine der zehn von Aristoteles angegebenen Seinskategorien passt (Periph. 2. 15). Gott steht oberhalb des Seins, und was er tut, ist etwas Besseres, als zu existieren. Ein Name, den wir dem unaussprechlichen und unfasslichen Glanz der göttlichen Güte geben können, ist „Nichts“.14

Eriugenas dritter Naturbereich, die materielle Welt, ist am leichtesten zu verstehen (Periph. 3. 3). Wie Philoponos glaubt auch er, dass der Himmel und die Erde aus denselben Elementen bestehen: Es gibt keine spezielle Quintessenz für die Himmelskörper. Der Kosmos, sagt er uns, besteht aus drei Sphären: der Erde im Zentrum, als Nächstes aus der Sphäre der Sonne (die ungefähr 70.000 Kilometer entfernt ist) und aus der äußersten Sphäre des Mondes und der Sterne (in ungefähr 140.000 Kilometern Entfernung). Während Eriugena annimmt, dass sich die Sonne um die Erde dreht, nimmt er einige Schritte in Richtung auf ein heliozentrisches System: Er glaubte, Jupiter, Mars, Venus und Merkur seien Planeten der Sonne und dass sie sich um die Sonne bewegten.

Doch wo passen die Menschen in Eriugenas vierfältiges Schema hinein? Ihr Leben scheint zwischen dem zweiten und dritten Naturbereich ausgespannt. Als Tiere gehören wir zum dritten Bereich, und dennoch sind wir den anderen Tieren überlegen. Man kann mit gleichem Recht behaupten, dass der Mensch ein Tier ist, wie dass er kein Tier ist. Vernunft, Geist und einen inneren Sinn teilt er mit den himmlischen Wesen, doch sein Fleisch, sein äußeres Selbst, teilt er mit den anderen Tieren. Der Mensch wurde zweimal erschaffen: einmal aus der Erde, mit den Tieren, doch noch ein zweites Mal mit den geistigen Wesen des zweiten Naturbereichs. Bedeutet dies, dass wir zwei Seelen haben? Nein, jeder von uns hat eine einzige, ungeteilte Seele: ganz Leben, ganz Geist, ganz Vernunft, ganz Gedächtnis. Diese Seele erschafft, als Gehilfe Gottes, den Körper, da Gott selbst nichts Sterbliches schafft. Selbst wenn die Seele und der Körper im Tod voneinander getrennt werden, regiert die Seele auch weiterhin den unter die Elemente verstreuten Körper (Periph. 4. 8).

Als Schöpfer des Körpers gehört die Seele zu demjenigen Bereich der Natur, der sowohl geschaffen als auch schaffend ist. Dieser zweite Bereich besteht aus demjenigen, was Eriugena als „die ursprünglichen Ursachen der Dinge“ bezeichnet, die er platonischen Ideen gleichsetzt (Periph. 2. 2). Sie wurden von Gott dem Vater in seiner ewigen Welt vor aller Zeit geformt. Die Idee des Menschen ist diejenige, in Übereinstimmung mit der Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat. In den gefallenen Menschen ist dieses Bild jedoch entstellt. Hätte Gott den Sündenfall Adams nicht vorhergesehen, wären die Menschen nicht in Mann und Frau unterteilt worden, sondern sie würden sich wie Engel fortgepflanzt haben. Sie hätten einen himmlischen Körper gehabt, der keinem Stoffwechsel unterliegt. Nach der Auferstehung werden unsere Körper wieder ihre geschlechtslose und himmlische Form annehmen. Wenn die Welt schließlich zu Ende gehen wird, werden Raum und Zeit verschwinden, und alle Geschöpfe werden in der ungeschaffenen und nicht schaffenden Natur Erlösung und Seligkeit finden.

Eriugena war einer der originellsten und ideenreichsten Denker des Mittelalters. Er baute die Ideen seiner griechischen Quellen in ein System ein, dass er allein erdacht hatte. Er ist nicht leicht zu lesen, doch sein Text kann den Leser fasziniert in seinen Bann ziehen. Er hat eine fanatische Liebe für Paradoxa: Wann immer er einen Satz schreibt, kann er es kaum abwarten, im nächsten Satz sein Gegenteil zu behaupten. Mit großem Scharfsinn und Einfallsreichtum gelingt es ihm oft zu zeigen, dass die beiden scheinbaren Gegensätze so verstanden werden können, dass sie vereinbar sind. Doch manchmal bringt ihn sein eigensinniger Verstand dazu, reinen Unsinn zu behaupten, wie in folgendem Satz: „In der Einheit sind alle Zahlen gleichzeitig beieinander, und keine Zahl geht einer anderen voran oder folgt ihr, da alle eins sind.“ (Periph. 3. 66)

Obwohl Eriugena ständig die Bibel zitiert, steht sein System dem heidnischen Neuplatonismus näher als dem traditionellen christlichen Denken, und es ist nicht verwunderlich, dass sein Buch Über die Natur schließlich von der kirchlichen Lehrautorität verworfen wurde. Im Jahre 1225 befahl Papst Honorius III., alle noch vorhandenen Kopien des Werkes nach Rom zu schicken und dort zu verbrennen. Die Legendenbildung verfuhr jedoch freundlicher mit ihm. Man erzählte oft die Geschichte, dass Karl der Kahle ihn während des Abendessens gefragt haben soll: „Was trennt einen Schotten (scot) von einem Säufer (sot)?“, worauf er die Antwort erhalten haben soll: „Nur dieser Tisch.“ Außerdem gab es eine Zeit, in der die Universität Oxford ihn (obwohl es wenig plausibel war) als ihren Gründer verehrte.15

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