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DER WEG UND BEGLEITERSCHEINUNGEN BIS ZUM MORD

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Nicht mehr hungrig legten sich die meisten auf ihre Betten und vertrieben sich die Zeit mit Rauchen, was mich als Nichtraucher zunehmend belastete. Andere erzählten sich ihre Geschichten. So auch einer, der zum Mörder wurde.

Sie waren eine intakte Familie, wenn auch hin und wieder Probleme auftraten, doch die waren immer zur Zufriedenheit aller gelöst worden. Seine Eltern zielstrebig und ehrlich, erzogen ihn, Horst, und seine Schwester Inge ebenso. Beide waren Durchschnittsschüler, so dass kaum Beschwerden von Seiten der Schule kamen. Seine Schwester, zwei Jahre älter, bestand als Erste den Abschluss der zehnten Klasse. Ihr Wunsch war es, im Gesundheitswesen tätig zu werden, so entschied sie sich für Krankenschwester. Als vierköpfige Familie lebten sie in einem Einfamilienhaus, glücklich und problemlos. Das Haus hatten die Eltern von ihren Eltern 1945 übernommen, hier kamen auch die Kinder Inge und Horst zur Welt. Die beiden Eltern waren stolz auf ihre Tochter Inge, weil sie ihren kleinen Bruder immer hilfreich unterstützte. Nun war auch Horst so weit, dass er die Zehnklassen-Oberschule erfolgreich abschließen konnte. Er erhielt eine Lehrstelle in einem VEB Chemiewerk, wo er später im Labor als Laborant sich einen Namen machte. Auch sein Vater hatte sich in diesem Werk hochgearbeitet, sein Lohn war entsprechend. Die Mutter von Inge und Horst hatte eine Halbtagsarbeit, am Nachmittag erledigte sie den Haushalt. Jeder hatte eine gute Arbeit und beteiligte sich angemessen am Lebensunterhalt. So lebte die Familie nun schon seit Jahren als könnte sie nichts umwerfen. Bis durch Zufall bei einer Routine-Untersuchung bei der Mutter Krebs diagnostiziert worden ist. Durch diese Feststellung kam schlagartig das familiäre Leben ins Wanken. Durch eine intensive Untersuchung und eine folgende Operation wurde erkannt, dass keine Hoffnung mehr bestehe, die Mutter zu retten. Zumal 1960 nicht nur in der DDR die Krebs-Bekämpfung noch in den Kinderschuhen steckte. Der Vater mit seinen nun schon erwachsenen Kindern war auf das Schlimmste gefasst. Es folgten Tage und Wochen des Bangens, weil sich der Zustand seiner Frau, zusehends verschlechterte. Wenn abends seine Kinder ihrer Wege gingen, war er plötzlich allein. Das nagte an seiner Substanz und er musste sich neu orientieren. An seinen Kindern bemerkte er auch eine gewisse Veränderung, hauptsächlich an seinem Sohn. Seine Frau war in guten Händen, lag sie doch in dem Krankenhaus, wo seine Tochter tätig war. All abendlich brachte Inge düstere Nachrichten mit nach Hause. An einem Morgen sah Inge im Krankenhaus betroffene Gesichter. Ihre Mutter war in der Nacht auf die Intensiv-Station verlegt worden. Dort stattete sie ihr gleich einen Besuch ab, der Arzt riet ihr, sie solle ihren Vater und Bruder benachrichtigen. Als diese eintrafen, konnten sie sich nicht mehr von ihr verabschieden. Sie, die Frau und Mutter, war ihrer schweren Krankheit erlegen.

Tage später trugen der Vater und seine Kinder die Verstorbene zu Grabe, wohin sie viele Freunde und Bekannten begleiteten. Nach der Trauerfeier wurde eines klar, dass sie viele Freunde gehabt hatte und nicht nur bei ihnen eine Lücke hinterließ. Inge begriff schnell, dass sie die Stelle ihrer Mutter übernehmen musste. Ihr Bruder Horst hatte Probleme, ihn hat es aus der Bahn geworfen. Vater und Schwester konnten ihn nur mühsam in der neuen Situation lenken. Mittlerweile war es spät geworden und es wurde Nachtruhe befohlen, kurz danach erlosch das Licht. Am Morgen wie immer gab es das Frühstück: Brot, zwei Scheiben Wurst und Marmelade. Ein wenig später wurde das Geschirr eingesammelt. Echt erschrocken war ich, als der Schließer in die Zelle rief: „U-Häftling Weiß, fertig machen, Sie werden gleich abgeholt.“ Innerlich machte ich einen Luftsprung, weil der Unterleutnant Wort gehalten hatte. Während des Wartens ging mir alles, was ich in dieser Zelle erlebt und gehört hatte, durch den Kopf. Einige Geschichten, die mir hier bekannt wurden, werde ich sicherlich noch erzählen. Während ich noch Gespräche führte, öffnete ein Schließer die Zellentür, forderte mich auf herauszutreten. Es ging die Treppe hinunter in den Keller, wo sich die Küche befand. Hier übernahm mich ein Koch, der auch ein Häftling war. Dieser setzte mich zum Kartoffelschälen und zur Essenausgabe ein, so bekam ich einen weitläufigen Überblick. Diese Arbeit blieb mir lange erhalten, sie brachte Abwechslung in meinen Tagesverlauf. Die Küche war mit acht Mann besetzt, wobei Küchenarbeit für mich Neuland war. Nach der Ausgabe des Abendbrotes war Küchenreinigung angesagt und somit hatte ich den ersten Arbeitstag hinter mich gebracht. Pünktlich um Sechs war Küchenschluss, wo dann der Unterleutnant die Küche abnahm. Ein JVA-Angestellter brachte das Küchenkommando wie immer in die Küchenzelle. Dort angekommen war mir das frei gewordene Bett vom Küchenchef zugewiesen worden. Das frische weiße Bettzeug lag bereits auf dem Bett, mit welchem ich das Bett bezog. In meinem Spint lag ein weißer Anzug, Socken und eine Mütze, was von nun an meine Bekleidung war. Bis zur Nachtruhe blieb noch genügend Zeit, uns miteinander bekannt zu machen. Es werden zukünftig viele Geschichten zu hören sein, jetzt aber möchte ich die Geschichte von Horst zu Ende erzählen.

Horst hat den Tod seiner Mutter nicht so gut verkraftet wie seine Schwester, er entwickelte sich zum Sorgenkind. Sein Vater unternahm alles, um seinen Sohn zu motivieren, weil es bereits betriebliche Probleme mit ihm gab. Auch kam er nicht mehr mit seinen Finanzen klar, ein Grund könnten seine Freunde sein. Seine Schwester unternahm auch den Versuch, ihrem Bruder Mut zu machen, obwohl sie es nicht leicht hatte. Familiär musste sie den Haushalt bewältigen und auch ihre Arbeit im Krankenhaus. Dem Vater, im Rentenalter, ging es auch nicht besonders, er brauchte immer mehr Hilfe. Das alles nagte an ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden so sehr, dass sie erkrankte. Die besten Ärzte des Krankenhauses kümmerten sich um sie, leider ohne konkreten Befund. Vater und Sohn waren bestürzt über das Ergebnis, sie drängten die Ärzte um weitere Untersuchungen. Durch eine gründliche Blutanalyse war ein unbekannter Virus entdeckt worden. Während der wochenlangen Suche nach dem Unbekannten war Inge stark abgemagert, das machte die Ärzte ratlos. Im Haus der beiden Männer herrschte inzwischen das blanke Chaos. Der Vater war durch die Umstände in letzter Zeit völlig entnervt und bettlägerig. Sein Sohn Horst war nicht Herr der Lage, er musste ihn vom Krankenbett aus anleiten. Auf diese Weise bekamen beide ihre Situation in den Griff. Durch gute medizinische Versorgung kam der Kranke schnell wieder auf die Beine. Aber die Sorgen um seine Kinder belasteten ihn, die Krankheit seiner Tochter war besonders schwer. Ihr Zustand verschlechterte sich zunehmend und die Ärzte machten ihm keine Hoffnung mehr. Für Vater und Sohn zeichnete sich eine düstere Zukunft ab, zumal sie schon das wichtigste Familienmitglied verloren hatten. Es hatte den Anschein, als läge zurzeit ein Fluch über der Familie. Genau das bestätigte eine Nachricht aus dem Krankenhaus, Inge war ins Koma gefallen. Daraufhin eilten Vater und Sohn zu der Kranken, wo die Ärzte um ihr Leben kämpften. Auf Anraten der behandelnden Ärzte verließen nach kurzem Besuch beide das Krankenhaus. Dass jetzt noch die Tochter des Hauses mit dem Tode rang, war für die beiden Männer einfach zu viel. Sie machten sich Gedanken, wie es ohne die Frauen weitergehen soll. Eine Männerwirtschaft konnten sie sich nur schwer vorstellen. In der Zeit des Hoffens und Bangens kam die Todesnachricht von Inge. Obwohl Vater und Sohn darauf vorbreitet waren, hatte es sie doch hart getroffen. War doch der Schmerz vom Tod der Mutter noch zu frisch. Trotz des zweiten Schicksalsschlages mussten sie den ihnen schon bekannten Weg gehen. Mit ihnen gingen Freunde, Bürger des Ortes und eine Abordnung des Krankenhauses. Es war der Wunsch von beiden trauernden Männern, dass Inge neben ihrer Mutter ihre letzte Ruhe fand.

Die beiden vom Schicksal schwer getroffenen Männer unternahmen den Versuch, ihr Leben neu zu ordnen. In einem Gespräch zwischen Vater und Sohn stellten sie fest, dass sie beide eng zusammenrücken müssen. Der Tod von Mutter und Schwester hatte Horst sehr mitgenommen und ihn nachdenklich gemacht. Er, jetzt schon achtundzwanzig Jahre alt, besann sich der mahnenden Worte seiner Mutter und Schwester, sich seinem Leben zu stellen. Dies setzte er in die Tat um und übernahm den Haushalt so gut er konnte. Sein Vater wusste das zu schätzen, was sie zu einem Team werden ließ. So war es auch eine Überraschung, dass Horst eines Tages eingekauft hatte und eine Freundin mit nach Hause brachte. Daraus ist zu ersehen, dass sich das Leben im Hause langsam wieder normalisiert. Was Horst fehlte, waren die abendlichen Zusammenkünfte mit seinen Freunden, welche er, aber eingeschränkt, wieder aufnahm, um ab und zu etwas Spaß zu haben. Seine zwei Freunde waren froh, dass Horst seinen Weg, von dem er durch die familiären Ereignisse etwas abkam, wieder gefunden hatte. Das Trio hatte eigene Vorstellungen vom Jugendleben als der Jugend Verband FDJ. Sie standen distanziert und ablehnend der DDR-Politik gegenüber. Ihnen war die persönliche Freiheit wertvoller als durch die SED-Politik gedengelt zu werden. Oft kam es vor, dass sie Diskotheken aufsuchten, wo Alkohol getrunken wurde, der dann seine Wirkung zeigte. So auch in der Nacht vom 16. zum 17. Juni 1972, wo die Stasi ganz besonders aktiv unterwegs war. An den Tagen davor und danach hatte die DDR-Regierung Angst, dass es zu Aufständen wie am 17. Juni 1953 kommen könnte. In dieser Nacht kam es tatsächlich zur Randale, wobei Transparente und Fahnen heruntergerissen wurden. An diesem Krawall hatten sich Horst und seine Freunde beteiligt. Mit dieser Tat bekräftigten sie ihre ablehnende Haltung der SED-Politik gegenüber. Auf ihrem Heimweg folgten ihnen unbemerkt einige Stasi-Leute. An einer Straßenkreuzung trennten sich die drei Freunde. Von nun an waren sie einzeln von jeweils zwei Stasi-Leuten verfolgt worden. Horst und einer seiner Freunde bemerkten, dass die Stasi ihnen folgt, so konnten sie zunächst entkommen. Den Dritten hat man im Dunkeln gestellt, der sich mit seinen Judokenntnissen zur Wehr setzte. Er hatte aber gegen zwei Stasischläger keine Chance, sie schlugen ihn mit ihren Stahlruten brutal nieder. Blutend ließen sie ihn liegen und verließen dann den Tatort. Als er wieder aufstehen konnte, gelang es ihm, sich schleppend sein Zuhause zu erreichen. Die Eltern, zutiefst erschrocken und in Sorge, wollten wissen, was geschehen ist. Sie hielten es aber für dringend, einen Krankenwagen zu rufen, damit ihr Sohn ärztlich versorgt wird. Noch in der Nacht wurde Werner gründlich untersucht und es wurde eine Diagnose erstellt. Sie ergab: Rippenbrüche, Verletzung innerer Organe sowie Hämatome am ganzen Körper. Die Ärzte verordneten mehrtägige Bettruhe für den Patienten. Gegen die Täter erstatteten Werners Eltern Anzeige gegen Unbekannt. Auch benachrichtigten sie seine Freunde Horst und Heinz, die über das brutale Vorgehen der Stasi entsetzt waren.

Die beiden Freunde, Horst und Heinz, ließen es sich nicht nehmen, ihren misshandelten Kumpel Werner im Krankenhaus in einem Vierbettzimmer zu besuchen. Er war sichtlich erfreut, seine Freunde zu sehen. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie ihn die Stasi zugerichtet hatte. Heinz war besonders betroffen und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Nach einer kurzen Begrüßung kamen sie schnell auf das, was in dieser Nacht geschehen war. Inzwischen hatten Horst und Heinz eine Vorladung von der Stasi erhalten. Als das Wort „Stasi“ fiel, meinte Heinz, „lasst uns in die Cafeteria gehen.“ Er traute den Mithörern im Zimmer nicht. Ihrem Freund Werner fiel das Laufen schwer, weil ihm alles wehtat. Lange noch hat sich das Trio am Kaffeetisch über ihre derzeitige Lage unterhalten. Es sah nicht gut für sie aus, weil die Stasi sie als Außenseiter eingestuft hatte. Dies sollte zur Gewissheit werden, weil die Drei ständig von allen Behörden überwacht wurden, auch in ihren Betrieben. Horst hatte mit seinem Vater über die Geschehnisse des Abends ausführlich gesprochen. Alles beunruhigte ihn sehr und er machte seinem Sohn heftige Vorwürfe. Er wusste aus eigener Erfahrung, wozu die DDR-Diktatur fähig ist. Er war bis zu seiner Rente leitend tätig und konnte somit hinter die Kulissen der Machthaber schauen.

Auf alles gefasst und mit gemischten Gefühlen befolgten Horst und Heinz die Ladung der Stasi. Der Empfang dort war alles andere als freundlich, sie waren doch in deren Augen Staatsfeinde. Nach einer angemessenen Wartezeit wurden sie getrennt zur Sache vernommen. Während der Verhöre waren sie massiven Behandlungen und Drohungen ausgesetzt. Unverhohlen hatte man Heinz die Frage gestellt, ob er auch wie Werner eine Sonderbehandlung brauche. Er ließ sich aber nicht einschüchtern und vertrat im Rahmen des Möglichen seine Meinung. Die aufrechte Haltung und Furchtlosigkeit von Heinz verunsicherte den Vernehmer, so dass dieser den Raum verließ. Wenig später betrat er mit neuer Instruktion wieder den Raum. Es hatte den Anschein, dass in diesen Minuten ein Urteil gefällt worden war. Sich in seinem Sessel zurücklehnend und Heinz anstarrend, meinte der Stasi-Mann: „Du hast den Kampf gewählt, wir sind bereit dazu.“ Mit dem Entzug seiner Ausweispapiere und dem Hinweis, seinen Heimatort nicht zu verlassen, konnte Heinz wieder gehen. Auf dem Weg nach Hause versuchte er das Ganze einzuordnen und zu begreifen. Eine weitere Sorge war, wie seine Eltern das alles aufnehmen werden. Irgendwie tat es ihm leid, seinem Vater und seiner Mutter so viele Sorgen zu machen. Er bekam den Eindruck, dass ihn das alles noch hart treffen wird.

Etwas geschickter stellte es Horst an, seinen Vernehmer nicht zu provozieren. Er hatte sich auf die mahnenden Worte seines Vaters besonnen, was sich für ihn auszahlte. Trotz rücksichtslosem Vorgehen der Stasi verhielt sich Horst besonnen, was ihm aber gegen den Strich ging. Er konnte das brutale Vorgehen gegen Werner nicht verstehen, der schwer verletzt im Krankenhaus seine ihm von der Stasi zugefügten Wunden auskuriert. Im Gegensatz zu Heinz war Horst von den Beamten mit der Bemerkung entlassen worden: „Sie hören von uns.“

Mittlerweile sind einige Wochen vergangen, in denen sich Werner von seinem Überfall erholte. In dieser Zeit hat er hart an sich gearbeitet. Er musste für sich eingestehen, dass er allein gegen die Diktatur nichts ausrichten kann. Die ständige Bespitzelung im Krankenhaus überzeugte ihn davon. Seine behandelnden Ärzte entließen ihn, verordneten ihm aber drei Wochen Genesungszeit.

Die Eltern und Werner selbst haben nur schwer die Ereignisse der letzten Wochen überstanden. Gemeinsam unternahmen sie den Versuch, mit sich ins Reine zu kommen. Sie wurden bei den Behörden vorstellig, hinsichtlich der Anzeige gegen Unbekannt, was sehr mutig von ihnen war. Werner wurde in ein Zimmer geholt und dort zu seiner Sache vernommen. Man machte ihm den Vorwurf, sich mit seinen beiden Freunden im Krankenhaus abfällig über die DDR geäußert zu haben. Womit bewiesen ist, dass flächendeckend die Menschen im Stasistaat bespitzelt wurden. Werner machte mehrmals den Versuch, das Geschehene herunterzuspielen, was ihm aber nicht gelang. Die Antwort auf Werners Ausführungen war: Übermut und Dummheit schützt vor Strafe nicht. In dem noch folgenden Gespräch stellte sich heraus, wer die Täter waren. Was aber mit ihnen geschehen wird, liegt allein im Ermessen der Behörden. Der Beamte erklärte das Gespräch für beendet und führte noch ein Telefonat. Daraufhin erschien ein Polizist, der Werner die Handschellen anlegte. Sein Vernehmer erklärte, dass er verhaftet sei und in U-Haft genommen wird. Seine Eltern warteten schon ungeduldig auf ihren Sohn und erkundigten sich schließlich nach seinem Verbleib. Die Antwort darauf hat sie fassungslos gemacht, weil sie Hilfe suchten und Leid bekamen. Was man ihnen noch auf den Heimweg mitgab war, wo und wann sie ihren Sohn besuchen können.

Zum Besuch kam es nicht, weil sie Tage später als Eltern einen Bescheid zur Gerichtsverhandlung ihres Sohnes erhielten. Sie trauten ihren Augen und Ohren nicht, was dem Sohn alles angelastet wird. So die Anklage: Vandalismus, Verunglimpfung der DDR und Rowdytum, wird zur Verhandlung stehen. Sachbeschädigung hätte hier vollkommen ausgereicht. Wie allgemein bekannt, in der DDR lag bereits das fertige Urteil bei Gericht in der Schublade. Zum angegebenen Termin erschienen Werners Eltern und auch seine Freunde. Die Verhandlung war öffentlich, eine Art Schauprozess, um die Macht zu demonstrieren. Der Saal füllte sich mit meist linientreuem Publikum. Im Schnellverfahren verlas der Staatsanwalt die Anklage und auch das Strafmaß: zwei Jahre und drei Monate Haft. Dem Rechtsanwalt waren die Hände gebunden, weil er Genosse war. Somit konnten Werners Taten nicht geschmälert und abgewertet werden. Auch ein Einspruch könne das Urteil nicht schmälern, so der Anwalt. Es ist offensichtlich und nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein Exempel statuiert wurde.

Werner waren noch im Saal die Handschellen angelegt worden und man brachte ihn in den Strafvollzug. Hier hatte, wie schon so oft, die Diktatur in ihrem Sinne ganze Arbeit geleistet und das Menschenrecht mit Füßen getreten. Die Eltern von Werner und auch seine Freunde traten brüskiert den Heimweg an.

Horst und Heinz überfielen bange Überlegungen darüber, was die Stasi mit ihnen vorhaben könnte. Schließlich war ihnen ja von den Behörden ein Wiedersehen angedroht worden.

Die Eltern von Horst und Heinz bangten von nun an um ihre Söhne, war ihnen doch drastisch vor Augen geführt, was alles möglich sein kann. Die beiden Freunde, noch in Freiheit, machten sich auch Gedanken um ihre Zukunft, die sie nicht mehr allein gestalten können. Sicherlich wird sich die Staatsmacht massiv in das Geschehen einbringen und den Betroffenen das Leben schwer machen. Die Geschehnisse in der letzen Zeit hatten Horst und Heinz näher zusammenrücken lassen, so dass sich ihre Freundschaft festigte. Das Vorgehen der Machthaber gegen Werner hatte die beiden Freunde nachdenklich gemacht. Sie waren erschüttert darüber, wie hart und unerbittlich die Staatsmacht zugeschlagen hat.

Nun waren Horst und Heinz nur noch zu zweit und gingen wie immer ihrer täglichen Arbeit nach. Aber nichts ist mehr so, wie es mal war, einige schauten sie jetzt mit anderen Augen an. Andere wieder ließen eine gewisse Sympathie im Gespräch erkennen. Es fiel auch auf, dass sie bei der Arbeit und auf dem Heimweg beobachtet wurden. Das setzte sich auch im Privaten sowie bei Diskothekenbesuchen fort. Hier kam es zu einem Wortwechsel zwischen Heinz und einem Spitzel. Er verbat sich die Einmischung in sein privates Leben. Die Antwort kam prompt: „Wer auf der Abschussliste steht, hat sich nichts mehr zu verbieten.“ Es kam dann noch zu weiterem Wortwechsel, wobei Horst seinen Freund zur Ruhe ermahnte. Verärgert redete er auf Heinz ein, weil er erkennen soll, die Stasi will, dass sie sich widersetzen.

So vergingen die Wochen beim täglichen Allerlei. Horst und Heinz besuchten an einem Wochenende ihren Freund Werner im Strafvollzug. Sie trafen einen bedrückten und niedergeschlagenen Freund an, von dem sie wissen wollten, wie es ihm geht. Der ging aber nur ausweichend oder gar nicht auf ihre Fragen ein. Die Besucher merkten, dass ihr Freund unter Druck stand und sie behelligten ihn nicht weiter. Daher lenkte Horst das Gespräch auf das, was ihnen angetan wurde. Werner hörte nur schweigend zu. Die Stunde Besuchszeit ging schnell zu Ende, die drei Freunde mussten sich ohne Händedruck verabschieden. An dem dunklen Freitagabend machten sich Horst und Heinz auf den Heimweg. An der Straßenkreuzung trennten sie sich wie immer mit einem „Tschüs bis morgen in der Disko.“

Am Samstagvormittag rief Horst seinen Freund Heinz an, um sich mit ihm für den Abend zu verabreden. Die Eltern waren erschrocken, weil sie glaubten, ihr Sohn sei, wie schon so oft, bei Horst über Nacht geblieben. Schnell stellte sich heraus, dass Heinz am Freitagabend nicht zu Hause angekommen war. Nun überschlugen sich die Ereignisse, so dass eine Suchaktion gestartet wurde. Alle Freunde, Bekannten und Verwandten wurden befragt – ohne Erfolg. Die Suche setzte sich bis in die späten Abendstunden fort, so dass etwas Ernsthaftes nicht mehr auszuschließen war. Auch am Sonnabend blieb eine Umfrage in der Disko unter den jungen Leuten ergebnislos. Die Eltern entschieden sich, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Daraufhin wurde zum Sonntagmorgen eine Suchaktion anberaumt, angeleitet von Gemeindevertretern. Daran nahmen verstärkt Jugendliche teil, aber auch die Stasi und Polizei. Vom Marktplatz der Kleinstadt strömten viele Helfer nach allen Richtungen aus. Es wurden die nähere Umgebung sowie Waldgebiete durchsucht. Nach stundenlangem Suchen schallten plötzlich Rufe durch den Wald. Das Schlimmste ahnend, liefen alle in die Richtung, woher die Rufe kamen. Es bildete sich ein regelrechter Menschenauflauf. Alle wollten wissen, was dort geschehen war und schon bald waren klagende Stimmen zu hören. Jetzt hatten auch die Eltern von Heinz und sein Freund Horst die Stelle erreicht. Sie kämpften sich einen Weg durch die Menschenmenge zum Ort des Geschehens. Es war grauenhaft anzusehen. Heinz hing an einem Baum – erhängt, tot. Seine Eltern brachen zusammen, aus der Menge heraus schallte der Ruf: „Mörder, Mörder, Mörder!“ Aus Kenntnis der Sachlage war es für einige sicher, dass hier die Stasi ihre Hand im Spiel hatte. Denn Heinz als couragierter und bodenständiger junger Mann hätte sich das nie angetan. Es ist sicher, dass die Zeit Licht in das Dunkel bringen wird. Der Täter war sicher am Tatort.

Inzwischen war die Feuerwehr angerückt und stellte sich an der Eiche, wo Heinz immer noch hing, auf. Mit Technik und Werkzeugen wurde das Stromkabel durchschnitten und die Leiche geborgen. Während der Bergung waren laufend Schmährufe zu hören, die gezielt an die Menschen verachtende Politik der SED gerichtet waren. In einem Leichenwagen wurde schließlich der Leichnam abtransportiert, die Menschen wurden zum Verlassen des Waldes aufgefordert. Horst und sein Vater brachten die Eltern von Heinz nach Hause. Beim Verabschieden bot Horst ihnen seine Hilfe an, wofür sie sich bedankten. Auf dem Heimweg brach in Horst eine unbändige Wut über das Geschehene aus. Sein Vater ermahnte ihn zur Zurückhaltung, damit ihm nicht Ähnliches widerfährt. Im Moment waren alle entsetzt und ratlos, nicht imstande klar zu denken. Werner beherzigte die Worte seines Vaters und zwang sich zur Ruhe, war aber fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Horst glaubt den Täter zu kennen, zumindest hatte er einen Verdacht.

Nach dem tragischen Vorkommnis waren die Bewohner des kleinen Städtchens in Aufruhr. Jeder wollte wissen, was es mit dieser Tat auf sich hatte und wer dahinter steckt. Vor allem die Eltern von Heinz, die inzwischen zur Identifizierung ihres Sohnes geladen waren. Auf diesem Weg begleitete sie Horst. Es kann sich jeder vorstellen, dass dies ein schwerer Gang für sie war. In der Pathologie sahen sie Heinz ein letztes Mal, wo sie ihre Tränen freien Lauf ließen. Bei dieser Inaugenscheinnahme stellte Horst Blutergüsse an beiden Handgelenken des Freundes fest, was auf eine Fesselung hinwies, aber bei der Bergung der Leiche waren Fesseln nicht mehr vorhanden. Das bestätigte Horsts Verdacht gegen eine bestimmte Person. Darüber sprach Horst mit seinem Vater, dem er ja voll vertrauen konnte. Weil es nun schon spät geworden war, suchten Vater und Sohn ihr Nachtlager auf. Lange konnten beide nicht zur Ruhe kommen. Ihre Familie musste in letzter Zeit so viel Leid ertragen. Werner sah die Bilder, wie es zum Verlust seiner Mutter gekommen war, wenig später die Leiden der Schwester und wie nun sein Freund Werner zusammengeschlagen wurde und im Gefängnis litt. Jetzt hatte er noch seinen letzten Freund auf tragische Weise verloren. Das machte ihn betroffen, aber auch entschlossen, den Mörder zu finden. Er war es seinen Freunden schuldig.

In den Medien wurde der Tod seines Freundes Heinz nur am Rande erwähnt, dagegen der brutale Überfall auf Werner gar nicht. Der Tod von Heinz war als Selbstmord durch Erhängen mittels eines Kabels begründet worden. Das zeigte, wie wenig die Behörden daran interessiert waren, Aufklärungsarbeit zu leisten. Das gab Horst einen gewissen Auftrieb, er wusste jetzt genau, wo er den Täter suchen muss. Vorerst widmete er sich aber voll seiner Arbeit. Dabei musste er aber feststellen, dass er auffällig überwacht wurde. Horst nahm das als Warnung zur Kenntnis, sein Vorhaben ließ er sich dadurch nicht schmälern. Was ihm aber noch in den Ohren klang, waren die Worte: „Sie hören noch von uns.“

Begegnungen im DDR-Knast

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