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GESPRÄCHE MIT TÄTERN UND SONSTIGES

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Was mir ungerechterweise vorgeworfen wurde, ist schon genannt, so macht es Sinn, über die Tatbestände anderer zu reden. Weil es in der U-Haft keinerlei Medien gab, war es ohnehin der einzige Gesprächsstoff, worüber aus Langeweile gesprochen wurde. In Gruppen oder zu zweit unterhielten sich die U-Häftlinge über ihre Taten und Vernehmungen. Auch mein Gesprächspartner, ich nannte ihn Schwuli, suchte das Gespräch mit mir. Meine Absicht war es herauszufinden, mit wem ich es hier zu tun hatte. Das eindringliche Auf-ihn-Einreden führte dazu, dass er gestand, wegen Sitte schon einmal zwei Jahre gesessen zu haben. Nun wollte ich es genau wissen. Zunächst zögerte er. Dann erzählte er aber wie ein Wasserfall seine Geschichte.

„Schon in meiner Kindheit“, so Schwuli, „fühlte und bemerkte ich gewisse Unterschiede zwischen mir und meinen Spielkameraden. Dieses Anderssein war immer da und ich bekam zunehmend Probleme damit. In der Zeit, als ich meinen Schlosserberuf erlernte, zog es mich in der Berufsschule zu einem Gleichgesinnten hin. Dies gab mir die Bestätigung, dass noch andere mit den gleichen körperlichen Problemen konfrontiert waren. Weil wir uns gut verstanden, wurden wir für lange Zeit gute Freunde. Meine Eltern waren nicht erfreut darüber, dass ich schwul war und das war für mich immer eine Belastung. Sie wünschten sich wie alle Eltern, dass junges Leben in das Haus einzieht und dass sie Enkel heranwachsen sehen. Diesen Wunsch werde ich ihnen nie erfüllen können, weil es mir nicht möglich ist, Liebesgefühle und Zuneigung zu Frauen zu entwickeln. Dann schwieg er eine Weile, sah mich fragend an: „Könntest du mit einem Mann Sex haben?“ Verlegen war meine Antwort: „Niemals, weil es mich anekelt.“

Wieder einmal war ich aus der Zelle geholt worden, diesmal war der Grund mein Rechtsanwalt. Dieser kam gleich zur Sache, bestellte Grüße von meiner Frau und den Kindern, die wie ich am Boden zerstört waren. Dass er eine Sprecherlaubnis erwirkt hatte, war nach langer Zeit für mich ein freudiges Ereignis. Dann kamen wir schnell zu dem Eigentlichen, meine Anklage. Er hatte Akteneinsicht genommen. Es folgte ein sachbezogenes Gespräch über die Anklageschrift, von der er mir eine Abschrift übergab. Für mich stand jetzt schon fest, dass ich dieses Schreiben niemals unterzeichnen werde. Das riet mir auch mein Anwalt, der sich um meine beschlagnahmten Beweismittel kümmern wollte, die beim Finanzamt in Potsdam lagern. Er versäumte auch nicht, mich auf das kommende Gerichtsverfahren hinzuweisen. Um mich darauf vorzubereiten, bekam ich ein Schreiben von ihm mit den für mich notwendigen Gesetzblättern.

Es war mir ein Bedürfnis, mich über die Schikanen der JVA-Angestellten bei meinem Anwalt zu beschweren. Somit war erstmals alles gesagt, worauf der Anwalt sich von mir mit den Worten verabschiedete: „Wir bleiben in Verbindung.“ Dann klapperte der Schließer mit den Handschellen, die er mir anlegte, und er brachte mich zurück in die Zelle.

Auf dem Weg dorthin war ich gedanklich bei meiner Familie und freute mich, bald meine Frau wiederzusehen. Andererseits fürchtete ich mich vor dem, was auf mich zukommt, weil die Ungewissheit an meinen Nerven nagte. Die Gespräche mit dem Anwalt hatten sich in die Länge gezogen, so dass inzwischen das Abendbrot ausgegeben wurde. Die nie so üppigen Malzeiten waren schnell von den Insassen eingenommen und die Langeweile nahm wieder Besitz von uns. Die Raucher sorgten dafür, dass die stinkende Luft in der Zelle zusätzlich vernebelt wurde. Die Nichtraucher, zu denen auch ich gehörte, hatten es besonders schwer, zumal es nicht möglich war, den Raum zu lüften. Dicht unter der Zellendecke empfand ich den Gestank besonders stark. Um Neun wurde Nachtruhe ausgerufen und das Licht erlosch.

Seit dem Besuch meines Anwalts hatte ich eine für mich wichtige Aufgabe zu erfüllen, die Vorbereitung auf den Tag X. Zunächst aber möchte Schwuli mir seine Geschichte zu Ende erzählen. Als gelernter Schlosser nahm er eine Arbeit als Hausmeister in einer Schule an, wo es ihn auf Grund seiner körperlichen Verfassung hinzog. Der Direktor zeigte ihm seinen zukünftigen Arbeitsbereich und übergab ihm eine kleine Werkstatt. Auch auf die Hausordnung wurde er hingewiesen. Nun hatte er eine gute Arbeit. Sorge bereitete ihm die Tatsache, dass sein langjähriger Freund mit seinen Eltern verzogen war. So verlor er nicht nur einen Freund, sondern auch seinen ganzen Halt. Das Naheliegende trat ein, er begab sich auf die Suche, um neue Freunde zu finden. Vorerst konzentrierte er sich auf seine Arbeit, die ihn voll in Anspruch nahm. Auch genoss er die Pausen, wo die Kinder Groß und Klein sich auf dem Schulhof tummelten. So verging die Zeit ohne besondere Vorkommnisse, bis eines Tages eine Prügelei auf dem Schulhof entstand. Größere Jungs attackierten einen ihnen Unterlegenen, diesem kam Schwuli zu Hilfe. Fortan machte er es sich zur Aufgabe, in den Pausen den Schulhof zu überwachen. Dies brachte ihm ein Lob des Direktors ein und die Zuneigung des Jungen, was ihm zum Verhängnis wurde. Die Eltern des Jungen hatten ihn als Kleinkind adoptiert, wenig später verstarb der Vater. Das konnte der Junge, namens Philip, seinerzeit sechs Jahre alt, nicht so richtig verarbeiten. Es fehlte ihm an der Seite seiner Mutter der Vater, zu dem er ein besonders gutes Verhältnis hatte. So konnte sich zwischen Schwuli und dem Jungen eine Vater-Sohn-Beziehung entwickeln. Ihre Freundschaft und Zuneigung vertiefte und festigte sich. Beide verbrachten viel Zeit miteinander. In den Pausen aßen sie ihre Brote in der Werkstatt und tranken Tee dazu. In ihrer Freizeit gingen sie schwimmen und bekamen so Körperkontakt. Das löste bei Schwuli seine Gefühlsströmungen aus, die er nur schwer unter Kontrolle bringen konnte. So begann er den Jungen zu befummeln, auch an seinem Unterleib. Philip wehrte sich verzweifelt, konnte aber gegen den kräftigen Mann nicht ankommen. In seinem Wahn schlug er Philip so heftig, dass dieser die Besinnung verlor. Schwuli schleppte den Jungen in ein Gebüsch, wo er sich dann an ihm verging. Während des Aktes kam Philip wieder zu sich und rief jämmerlich um Hilfe, worauf Schwuli ihn würgte. Erst als er seinen Orgasmus hatte, ließ Schwuli von dem Jungen, der fast leblos und wimmernd am Boden lag. Selbst erschrocken von dem, was er angestellt hat, rief Schwuli lautstark um Hilfe. Eine Gruppe Frauen und Männer eilten herbei, die dem Jungen halfen. Andere benachrichtigen die Polizei und das DRK. Der Täter wurde mit Handschellen festgenommen und Philip in ein Krankenhaus gebracht.

Hier stoppte er seinen Redefluss und bemerkte, dass ihm alle zuhörten, einer rief lautstark: „Du bist ja nicht nur schwul, sondern echt krank.“ Dann senkte Schwuli seinen Kopf und verbarg das Gesicht hinter seinen Händen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht nur maßlos schämte, sondern auch die Tat bereute.

Nachgefragt

Etwas derart Schreckliches hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehört und schon gar nicht für möglich gehalten. Daher unternahm ich den Versuch, seine Beweggründe für eine solch schändliche Tat zu ergründen. Die Frage an Schwuli war: „Was war der Auslöser, um eine solche Tat zu begehen?“

Er begann damit, dass er schon einmal eine ähnliche Straftat begangen habe, die ihn aber nicht geändert hat. Obwohl seine Unmoralität medizinisch behandelt und therapiert wurde, ist Schwuli doch zum Kinderschänder geworden. Dass er zum Wiederholungstäter wurde, begründete er damit, dass in ihm ein unlöschbares Programm installiert ist, das immer dann in Aktion tritt, wenn er Kinder sieht und mit ihnen in Körperkontakt kommt. Es ist für ihn wie ein Rausch, dem er willenlos ausgesetzt ist.

So schlimm es auch für die Täter ist, dürfen aber nicht die Opfer vergessen werden, die aus der Lebensbahn geworfen, oder gar getötet werden. Immerhin werden den vergewaltigten Frauen und Kindern tiefe seelische und moralische Wunden geschlagen. Für die Täter wird am Ende immer gesorgt, die Opfer jedoch oft allein gelassen. Aus der Sicht der Verletzten ist es eine Zumutung, dass sie mit ihren Steuern den Täter im Gefängnis unterstützen. Vielmehr herrscht die Meinung vor, dass der Täter im Gefängnis durch seine Arbeit dem Opfer Schmerzensgeld schuldet.

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