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3.3.1. Ernst Cassirer

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3.4.1.


616 Ernst Cassirer

Der 1874 in Breslau geborene Cassirer studierte Jura und Philosophie. Es soll einer seiner Lehrer, Georg Simmel, gewesen sein, der Cassirers Interesse an der Kantdeutung Cohens auslöste, bei dem er schließlich in Marburg 1899 über Descartes promovierte und damit in den Einflussbereich der dortigen, stark methodisch und erkenntnistheoretisch orientierten Schule geriet. Zwischen 1919 und 1933 unterhielt Cassirer als Professor für Philosophie an der Universität in Hamburg eine fruchtbare Kooperation mit der Warburg-Bibliothek. Er arbeitete mit Aby Warburg, Erwin Panofsky und Fritz Saxl zusammen. 1933 musste er nach England emigrieren, wurde 1939 schwedischer Staatsbürger und lehrte zuletzt an der Columbia-Universität in New York. Nach einigen – ganz im Sinne der Marburger Kantrezeption – an naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Fragen ausgerichteten frühen Arbeiten, in denen Cassirer unter anderem das Apriori Kants strikt auf Kategorien wie Kausalität (nicht in konstitutivem, sondern nur regulativem Sinn) beschränkte (und ausdrücklich nicht mehr auf die Anschauungsformen von Raum und Zeit), wandte er sich kultur- und kunstphilosophischen Fragen zu.

Cassirer Toni 1981, 33f

Cassirer 1925a, 35

Ebd., 183

Nicht das Interesse an absoluten Geltungsansprüchen stand im Mittelpunkt, sondern jenes nach der Offenheit von Prinzipien. Cassirer, der von seiner Frau als Musikliebhaber beschrieben wurde, der vollständige Opernlibretti im Kopf hatte und ganze Koloratur-Arien zum Besten gab, verwandelte Kants transzendentale Erkenntnistheorie in eine Kulturtheorie: »Es gehört zu den ersten und wesentlichen Einsichten der kritischen Philosophie, daß die Gegenstände nicht fertig und starr, in ihrem nackten An-Sich, dem Bewußtsein ›gegeben‹ werden, sondern daß die Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand einen selbständigen spontanen Akt des Bewußtseins voraussetzt. Der Gegenstand besteht nicht vor und außerhalb der synthetischen Einheit, sondern er wird vielmehr erst durch sie konstituiert […].« Darin sieht Cassirer nachgerade eine anthropologische Konstante. Der Mensch steht immer schon in einer Welt und erhält Zugang dazu nicht nur durch erkenntnistheoretische Intentionalität, sondern durch seine vielfältige (kulturelle) Tätigkeit in dieser Welt. Aus der Sicht des Menschen gibt es keinen symbolfreien Raum. Kultur ist ein beständiger Ordnungs- und Setzungsvorgang des symbolischen Raums. Daraus entsteht für den Menschen Sinn. »Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt.«

symbolische Formen

Cassirer 1944, 289

Das ist gleichbedeutend mit der Befreiung des Menschen von der Natur, denn nur die Kultur hebt ihn von der Bewusstseinsstufe des Tieres ab und macht den Menschen frei. »Die menschliche Kultur als Ganzes kann als der Prozeß der Selbstbefreiung des Menschen verstanden werden. Die Entwicklung der Sprache, der Kunst, der Religion und Wissenschaft sind die einzelnen Phasen dieses Prozesses. In diesen symbolischen Formen entdeckte und erprobte der Mensch eine neue Macht, eine Macht, mit deren Hilfe er sich eine eigene ›ideale‹ Welt erbaute.«

Cassirer 1923a, 79

Rudolph Enno in ÄKPh, 159

Wie lässt sich eine symbolische Form nun verstehen? Sie ist »jene Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« So wie die Kultur verändern sich auch die symbolischen Formen in der Geschichte. Sprache, Religion, Kunst, Recht, Geschichte, Technik oder die ursprünglichste, der Mythos, sind solche symbolische Formen. Cassirer stellte keinen festen Kanon davon auf, sondern ließ die Liste offen und flexibel. Symbolische Formen sind »Weisen des Weltverstehens«, ja darüber hinaus dynamische Weisen der Welterzeugung, der ständigen Überführung von Natur in Kultur. »Symbolisierungen sind in jedem Fall Entdeckungen durch Schöpfungen, also produktive Entdeckungen.«

Cassirer 1944, 39/40

Was hier nach frei gewählter Instrumentierung klingt, ist in Wirklichkeit also Teil der conditio humana. Der Mensch lebt in symbolischen Formen, er kann aus dem Rahmen der Kultur gar nicht aussteigen, selbst wenn er das wollte. Er »lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, daß er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien.« Der Mensch deutet Welt im (medialen) Spiegel seiner Kultur. Er ist ein »animal symbolicum«.

Cassirer 1925b, 233

So gesehen sind symbolische Formen Instrumente, mit denen überhaupt erst Bedeutungen generiert werden: »Nicht Nachahmungen dieser Wirklichkeit, sondern Organe derselben sind jetzt die einzelnen symbolischen Formen, sofern nur durch sie Wirkliches zum Gegenstand der geistigen Schau gemacht und damit als solche sichtbar werden kann.«

Cassirer 1925a, 35

Ebd.

Dieser faszinierende Komplex bildet das Thema von Cassirers dreibändiger Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929). Er geht darin über eine reine Erkenntnistheorie weit hinaus, weil »derartige Kategorien überall dort wirksam sein müssen, wo überhaupt aus dem Chaos der Eindrücke ein Kosmos, ein charakteristisches und typisches ›Weltbild‹ sich formt.« Gegenstände sind nicht unabhängig vom Bewusstsein zu haben, sondern »das Ergebnis einer Formung, die sich kraft der Grundmittel des Bewußtseins, kraft der Bedingungen der Anschauung und des reinen Denkens vollzieht.« Aber eben eines kulturellen Bewusstseins! Kultur ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Erfahrungen, von Denk- und Handlungsmustern.

Eine solche Kultur prägt den Menschen und dieser verändert vice versa die Kultur.

VIII.5.3.3./VIII.6.1.2.

Was ist kantisch an solchen Überlegungen? Nach Cassirer vor allem dies, dass Kant gezeigt habe, dass jedes Wissen vermittelt sei und keine Abbildung im Sinne eines unkritischen Realismus. Bei Cassirer verändert sich Kants Subjektaffiziertheit in einen subjektiven Konstruktivismus und verbreitert sich auf alle möglichen Formen des Welterfassens. Cassirer ist nahe an Fichte, aber Fichte blieb abstrakt, während Cassirer die Setzung über Kant hinaustreibt und sie als Kultursetzung beschreibt. Man könnte mit derart geschärfter Aufmerksamkeit den Blick auf Hegel richten. Dann ließe sich Hegels absoluter Geist als Utopie einer gelungenen Kulturwerdung der Natur und des Menschen entschlüsseln, etwas, was bereits Marx an Hegel aufregend gefunden hat.

Müller 2010, 11

Cassirer 1923b, 9

Boehm 1969, 14

Die transzendentale Fragestellung richtet sich weit über die Wissenschaft im engeren Sinn hinaus auf alle geistigen Tätigkeiten, die als symbolische Formen Welt gestalten. Symbolisierungen sind dann konsequent nicht mehr nur Strukturierungen der Wirklichkeit, sondern beinhalten Entdeckungen (»Symbole konstituieren Wirklichkeit durch Entdeckungen«). Dies gilt für Wissenschaft und Sprache genauso wie für die Kunst. All diese symbolischen Formen »leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen.«

Nach Gottfried Boehm übernahm Cassirer den Begriff Symbol vor allem von Heinrich Hertz. Hertz hatte den Begriff eingeführt, weil der Abbildungsbegriff für die zeitgenössische Physik nicht mehr sinnvoll anwendbar war. Symbol bedeutete ein von der Wirklichkeit entworfenes Bild, das den Umgang mit dieser Wirklichkeit erlaubt, ohne den Anspruch streng mimetischer Abbilder zu erheben. Seitdem regt die Physik unsere Phantasie mit vielen symbolischen Bildern kräftig an, von »schwarzen Löchern« bis zu »Klebeteilchen« (Gluonen).

Cassirer unterschied beim Symbolisieren drei Aspekte: (1) die Ausdrucks-, (2) Darstellungs- und (3) Bedeutungsfunktion. Ein Symbol ist ein Zeichen. Es repräsentiert also außer dem, was es selbst ist (Ausdrucksfunktion), auch das, was es bedeutet (Darstellungsfunktion). Der erste Aspekt zeigt uns eine Grundschicht der Unmittelbarkeit des Ausdrucks, wie sie in der Poesie oder auf einer sinnenhaften Ebene vorkommt, der zweite ist die Welt der sprachlichen Beschreibung, die Welt der Zeichenrelation. Das ist auch die Dimension der symbolischen Formen. Wenn Cassirer noch auf eine weitere, im streng wissenschaftlichen Bereich Platz greifende Bedeutungsfunktion verweist, die sich von der Rückbindung an irgend eine Art von Sinnlichkeit oder individueller Erlebniswelt abgelöst hat und wo die Zeichen zu bloßen Bedeutungszeichen werden, erinnert das ein wenig an die Abfolge der Erkenntnisebenen im Rationalismus.

Kunst und Mythos

Diese Aspekte zeigen letztlich eine Nähe zwischen Kunst und Mythos, denn Kunst leistet Visualisierungen und keine Konzeptualisierungen. Cassirer hat die Symbolwelt Kunst nicht detailliert ausgearbeitet. Seine Äußerungen dazu finden sich an verschiedenen Stellen. So in Idee und Gestalt (1921), Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen in der Kunst in Platons Dialogen (1924) oder im 9. Kapitel seines späten Werks An Essay on Man (1944), seiner Anthropologie, in der er den Menschen nicht substantial, sondern funktional definiert haben wollte.

Cassirer 1944, 182

Trotz der Nähe von Kunst und Mythos gibt es Unterschiede. Der Mythos nimmt ein Bild zumindest zum Teil als substantielle Wirklichkeit. Auch die Religion tut dies. Sie ist namentlich mit der konkreten Existenz konfrontiert, auch wenn sie gegenüber dem Mythos an Vergeistigung gewinnt. Das ästhetische Bewusstsein demgegenüber konzentriert sich auf das Bild und auf das Schauen, das an die Stelle des Wirkens tritt. Kunst konzeptualisiert nicht in gleicher Weise wie die Wissenschaft und kann daher dem mit der Wissenschaft verbundenen Preis hoher Abstraktion entgehen. Künstlerisches Symbolisieren ist zum Unterschied zum Wissenschaftstreiben ein »kontinuierlicher Konkretionsprozeß« und die Kunst eine spielerische »Intensivierung von Wirklichkeit«. Ebenso wie die anderen Symbolsysteme ist sie nicht bloß Nachbildung von Wirklichkeit, sondern »Entdeckung von Wirklichkeiten.«

Ebd., 181

Ebd., 182

Ebd., 289

Das Symbolsystem Kunst intensiviert in konkreter, gestalthafter Weise die Wirklichkeit, während die Wissenschaft die Wirklichkeit in ihrer Komplexität abstrakt verkürzt. Der Künstler arbeitet an der Form, wobei in der Kunst das Medium selbst in den Formbildungsprozess einbezogen wird, ohne dass wie in der Wissenschaft Kausalerklärungen für solche Formbildung notwendig seien: »Aber für einen großen Maler, einen großen Musiker oder Dichter sind die Farben, Linien, Rhythmen und Worte nicht nur die Mittel zur Verwirklichung der Ideen, sie sind notwendige Sinnmomente im künstlerischen Prozesses selbst.« An dieser Intensivierung der Wirklichkeit als »Ergebnis eines Aktes der Verdichtung und Zusammenfassung« und der Darstellung der Vielfalt lässt sich über die Qualität der Kunst richten. Mit diesem Kunstverständnis konnte Cassirer die Kunst in seine optimistische Geschichtsphilosophie einordnen. Die Geschichte der menschlichen Kultur ist eine Befreiung des Menschen, wie seine oben zitierten Worte zeigen. Kunst geht nach Cassirer über Mythos und Religion hinaus und liefert – anders als bei Hegel – eine höhere Stufe auf dem Weg zur Freiheit. Die Philosophie der Symbolischen Formen setzt dort ein, wo die Metaphysik endet. Eine Analyse der Porträtkunst der Renaissance, mit der er sich in Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) auseinandersetzte, sollte diese seine Sicht auf die aufklärerische Kraft der Geschichte stützen.

Cassirer 1924, 10

Cassirer 1923b, 6

Vor dem Hintergrund der nachkantischen Realismuskritik kommt Cassirer zu einer glänzenden Deutung Platons, die etliche Einsichten späterer Platon-Forschung – aufgehängt an der Mimesistheorie – vorwegnimmt und dessen Bedeutung für die Kunst er unmissverständlich klarstellt: »Es ist nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, daß im Grunde alle systematische Ästhetik, die bisher in der Geschichte der Philosophie aufgetreten ist, Platonismus gewesen und Platonismus geblieben ist.« Seine Prägung durch die konstruktivistischen Aspekte bei Kant hat ihn bereits in der Betrachtung der Naturwissenschaft zu einem kritischen Blick auf die Abbildtheorie geführt, mit der Platon in vielen gängigen Rezeptionen assoziiert wird. Cassirer setzte jedoch bei Platons Timaios an und sah dort die Überwindung des Dualismus der mittleren Phase klar. Mit Sicht auf die Rolle von Maß und Proportion als Vermittlung zwischen Idee und Natur kann er Platons Philosophie als Unternehmen der Kunst rekonstruieren. Kunst als Weise der Weltwahrnehmung durch Erzeugung von Welt! Dabei konnte er sich auf Konrad Fiedler berufen, den er mit folgenden Worten zitiert: »Wenn von alters her zwei große Prinzipien, das der Nachahmung und das der Umwandlung der Wirklichkeit, um das Recht gestritten haben, der wahre Ausdruck des Wesens der künstlerischen Tätigkeit zu sein, so scheint eine Schlichtung des Streites nur dadurch möglich, dass an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit. Denn nichts anderes ist die Kunst, als eins der Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt.«

Fiedler, zit. von Cassirer, Nachl., 79f

Natürlich ist diese Weise der Welterzeugung beim späten Platon, die das Mimesisprinzip durchbricht, mit göttlicher Dignität ausgestattet. In der Interpretation Cassirers wird Kunst im Sinne der Wende in die Moderne hingegen als autonom verstanden.

Margreiter 2007, 35

4.5.1.

Ebd., 37

3.9.4.

Kulturphilosophisch gesehen tritt der Mensch bei Cassirer weit über eine auf die Kognition verkürzte Funktion in Kants theoretischer Philosophie hinaus und wird zu einem »vielfältig agierenden, verstehenden und erfahrenden Wesen.« Gegenüber der ordnungsauflösenden Dispersion nimmt Cassirer eine primäre Schicht der Erfahrung an, in der Denken, Fühlen und Wollen noch eine Einheit bilden, die sich erst im Verlauf der Kultur nach und nach trennen. Wenn Cassirer in manch einer Rezeption ein postmoderner Zug avant la lettre unterstellt wird, ist diese vorsichtige Pluralisierung der Lebensformen als Niederschlag der individualisierenden Symbolwelten gemeint, die zudem einen hohen Gehalt an subjektiver Konstruktion aufweisen. Freilich ist bei Cassirer kein völliges Auseinanderfallen der Kulturformen im Sinne der späteren différance von Derrida zu finden. In dieser Frage steht er der Moderne näher als der Postmoderne. Während man bei Cassirer sagen kann, dass mit einer Vielzahl von symbolischen Formen, damit auch mit einer »Vielzahl von Medien«, eine handlungsleitende »Weltansicht« festgelegt wird, spricht Nelson Goodman aus stärker konturiertem konstruktivistischem Geist von Symbolsystemen als »ways of worldmaking«.

Kunstphilosophie und Ästhetik

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